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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.06.1900
- Erscheinungsdatum
- 1900-06-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-190006173
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-19000617
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-19000617
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-06
- Tag1900-06-17
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- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.06.1900
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Reclamen unter dem RedactionSstrich (4a«» spalten) bO/>z, vor den Familiennachrichle» (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Preis» verzeichniß. Tabellarischer und gissrrnsatz nach höherem Laris- Extra»veilaoen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgab«, ohne Postbesörderuu- 60.—, mit Postbesörderuvg 70,—. Jtnnchmefchlnß sitr Akyelge»; Abend-AuSgab«: vormittags 10 Uhr. Morgen-AaSgabe: Nachmittag- 4 Uhr, Bei den Filialen und Annahmestelle» je ein« halbe Stunde früher- Anzeige» find stets an di« Erprtzikio« zu richten. Druck und Verlag von E. Pot» tn Leipzig, 3tt3. Sonntag den 17. Juni 1900. 9-1. Jahrgang. Äug der Woche. In diesen Tagen ist nach langer, für sein Land segens reicher und deutschpvlitisch keineswegs bedeutungsloser Negierung ein deutscher Bundesfürst gestorben und das hoch amtliche Berlin hat, abgesehen von den bei jedem Todesfall in einem regierenden Hause herkömmlichen, Kopf und Herz unberührt lassenden hvsisch-ceremoniellen Anordnungen, das Ereigniß still vorübergehen lassen. Es ist der norddeutschen, namentlich der nationalliberalen Presse überlassen ge blieben, daran zu erinnern, daß in dem Groß Herzog Peter von Oldenburg ein von Anbeginn um die Einigung Deutschlands unter preußischer Spitze hochverdienter Fürst dahingegangen ist. Die Erscheinung hat viele ähnliche Lorgängerinnen und aller Ursache ist nicht schwer zu erkennen: man will in gewisse» Berliner Kreisen von der Bergangenheit, von der Geschichte der Reichöwerdung nicht« wissen; durch ein täglich sich wiederholendes Geräusch soll die Wahrheit übertönt werden, daß sehr viele und sehr verschiedenartige Kräfte zusammen wirkten und zusammen wirken mußten, um einen deutschen Nationalstaat und ein bohenzollernsches Kaiserthum zu begründen. Die bei dem Ableben des Großherzogs von Oldenburg, eines treuen Bundesgenossen Wilhelm'S I. zu einer Zeit, wo das „reiche Erbe", von dem einmal Fürst Bismarck sprach, noch nicht gesammelt war, bewiesene Gleichgiltigkeit verletzt und cs icheiut, als ob in dem kleinen Lande des Berstorbenen schon vorher Berstimmung geherrscht habe. Die den Verhältnissen Oldenburgs sehr nahestehende „Weser zeitung" schrieb bekanntlich anläßlich dcS Todesfalles: „ES herrscht heute die Tendenz, die kleinen Beförderer (der Einigung Deutschlands) zu übersehen und allen Glanz auf eine Stelle zu concentriren." Das durch einen Einzelfall veranlaßte Urtheil ist zu eng; in Wahrheit geht die Tendenz carauf yin, auch die großen und größten „Beförderer" todt- zuschweigen und aus der ReichöbcgründungSgeschichte eine Potsdamer Hofgeschichte zu machen, ein Bestreben, das beispielsweise dazu kam, einem Manne, wie Sybel, den Mund zu verbieten, und die dem Wesen, insbesondere dem Wahrheitsbedürfnisse Wilhclm's I. so schnurstracks zuwiderläust, daß man wohl den volksthümlichen Ausdruck gebrauchen darf, der alte Kaiser würde sich im Grabe umdrehe», wüßte er, wie man sein Andenken unter Nichtbeachtung gerade seiner ureigenen Tugenden und Verdienste auf Kosten seines Werkes herausputzt. Die „Tendenz" der erwähnten „Tendenz" ist eine reichsschädigende und sie erklärt neben manchem in den Bundesstaaten Unterlassenen einigermaßen ein Auftreten wie das des Prinzen Ludwig von Bayern. Deutsch land ist nun eben einmal ein vor 1888 begründeter und auch groß gewordener Bundesstaat; daran kann auch der Telegraph nichts ändern, mag er nun reden oder schweigen. Erfreulich ist eS, daß er wenigstens gezwungen ist, zu melden, daß der Kaiser selbst es sich nickt versagen mag, dem Be gräbnisse des treuen Bundesgenossen seines Großvaters bei- zuwohnen. Der Reichstag ist geschloffen und die Abgeordneten gehen ihren Geschäften nach oder suchen Erholung. Hoffentlich finden diejenigen unter ihnen, die an dem Flottengesetze mitgewirkt, also die große Mehrheit, auf die eine oder die andere Weise so viel Zerstreuung, daß es ihnen nicht Weh tbut, hören zu müssen, daß sie eigentlich bei der ganzen Sache ganz überflüssig gewesen seien. Das geübte Verfahren darf einen patriotischen Abgeordneten nicht beirren, aber die Erinnerung ist erlaubt und unseres Erachtens sogar geboten, daß Kaiser Wilhelm. dem Großen, wie Fürst Bismarck im Reichstage zu berichten glücklich war, noch auf dem Sterbebette das Bestehen verschiedener gesetzgeberischer Faktoren auch in Wehrangelegenhciten gegenwärtig geblieben war. Im Weiteren trauen wir dem politischen Ruhebedürfniß der Reichstagsabgeordneten zu, daß sie sich um die Zeitungs epiloge ihrer parlamentarischen Thätigkeit nicht kümmern, i Die konservativen Blätter sind mit der Session unzufrieden, obwohl ihnen doch die bewilligte Flotte gar nicht „gräßlich" war und das von der lox Heinze übrig Gebliebene das Cen trum, von dem sie sich gängeln ließen, so höchlich befriedigte, daß eS auf der ganze« Linie »Sieg" schreien ließ. Auch beim Fleischbeschaugesetz ist der Wille der Conservativen geschehen, freilich der letzte, nicht der erste; man begreift also wirklich nicht recht, waS die Herren ungehalten macht, namentlich über die Nationalliberalen, denen das übrigens nichts weiter schadet. Zn Preußen blüht der Weizen der Conservativen erst recht. Bei genauerem Zusehen fand sich, daß der Minister Thielen in seiner letzten Rede das Erscheinen der Canal vorlage in der künftigen Session nicht bestimmt in Aus sicht gestellt, sondern nur gesagt hat, das Bündel Wasser straßen werde bis dahin so weit sein, daß eS kommen könne. Es ist zwar Nicht unmöglich, daß in Lübeck bei der fest- lichen Eröffnung des Elbe-Trave-Canals Aeußerungen gefallen sind, die auf die Absicht einer weiteren Verfolgung der Mittel» landcanalprojecte schließen lasten. Aber auch wenn das der Fall sein sollt« — bi- zur Stunde fehlen Noch die Berichte —, jedenfalls ist die Stimmung im größeren Theile Preußens dem Bau dtS großen West-Ost-WegeS nicht günstig, und wenn man sich auf die Süd-Nord-Richtung ernstlich verlegen wollte, wie di« Gegner de- Mittellandkanals jetzt verlangen, so würde sie höchst wahrscheinlich zu Ungunsten auch dieses Unternehmen- Umschlägen. Für die extremen Agrarier und für gewisse, persönlich verärgerte konservative Führer handelt eS sich in dieser Sache ohnrZweifel um eine politische Kraftprobe, aber in dem Staate, in dem di« Einnahmen auS den Eisen bahnen eine Rolle spiele«, wie für keinen anderen in der Welt, ist die Canalfrag« finanziell in der Thal eine heikle, und volkswirthschaftlich bedeutet der.Bau von sehr großen Wasserstraßen «inen Sptultg in- Dunkle. England und Nordamerika, dies« BerkthrSmusterstaaten, haben sich dem Eanalwrsen mehr »der weniger abaekehrt und in Deutsch land macht ein so gar nicht junkerlicher Nationalökonom wie Professor Gustav Cohn in Göttingen gewichtige, beinahe durchschlagende Bedenken geltend. Troy odervielleicht wegen de- Berlin« EanalhochdruckS scheint PrinzLudwig von Bayern seine Zeit schlecht zu wählen, wenn er jetzt immer wieder auf bayerische, durch Reichshilfe zu ver wirklichende Caualisirungspläne zurückkommt. Das Binnen wasser ist in Bayern in der neuesten Zeit nicht populärer geworden, außerdem nimmt sich neben den gewaltigen partikularistischen Anstrengungen, die in dem süd deutschen Königreiche doch nicht ganz ohne höhere Förderung gemacht werden, ein Appell an das Reich etwas eigentbüm- lich auS. Man will in Bayern keine gemeindeutsche Brief marke, da wird man doch einen „kaiserlichen" Canal erst recht nicht wollen dürfen. Oder soll das Reich nur das Geld bergeben und nicht gemuckt werden dürfen, wenn in Regensburg und Deggendorf Frachtschiffe mit schwarz-weiß- rothen Fähnchen „nicht erwünscht" sein sollten? Auch die jüngste Auslassungen des Frhrn. v. Crailsheim passen nicht recht zu einer positiven Neichsverkehrspolitik in Bayern. Wir wollen ebensowenig etwas von einem „NeichSeisenbahn- system" wissen, wie der bayerische Ministerpräsident, und halten eü für unmöglich, daß die größeren Bundesstaaten sich auf eine Eisenbahngemeinschaft mit Preußen, wie sie heute verstanden wird, einlassen. Aber Frhr. v. Crailsheim hat die Worte gegen seine Gewohnheit so entschieden ge wählt, daß man glauben könnte, er wolle durch ein schroffes Ablehnen der Landverkehrsgemeinschafl nach der Seite von ReichSwasserprvjecten „abwinken". Ter bayerische Particularist Dr. H e i m hat dieser Tage im Reichstag der Socialdemokratie seines Heimathlandcs das Zcuguiß ausstellen zu dürfen geglaubt, die Partei sei eigentlich blau-weiß und trage nur ein wenig bedeutendes rothcs „Bändle" um die autochthone Couleur. Scheint aber doch nicht so harmlos zu sein, wenigstens haben die social demokratischen Drucker in Nürnberg die schon zugesagte Be theiligung an einer Gutenberg-Feier nachträglich abgelehnt, weil die Druckereibesitzer bei der Feier ein Hoch, nicht etwa auf den Kaiser, sondern auf den Prinz-Regenten i" Aus sicht genommen hatten. Vielleicht vermittelt über Herr von Vollmar noch. Die Wirren in China. Deutschland, die Mächte und China. Die „Allgem. Marine- und Polit. Corr." schreibt: Die Wirren in China, die durch den Aufstand der sogenannten „Boxer" verursacht sind, erfordern und finden die Aufmerksam keit der sämmtlichen in Ostasien durch ihre politischen und wirth- schaftlichen Interessen betheiligten Mächte in hohem Grade. Denn die Feindseligkeiten jener Aufrührer richten sich gegen Alles, was in ihren Augen als „fremd" erscheint, was nach ihrer Meinung das echte Chinesenthum bedroht und erschüttert. Die Boxer tödten fremde Missionäre und eingeborene Christen, sie verwüsten mit Raub und Brand Eisenbahnen und Ansiede lungen, die fremden Gesandtschaften, wie die fremden Kauf leute, sind Ziel ihrer Angriffe. Erfreulicher Weise ist es ihnen bis jetzt nicht gelungen, deutsches Blut zu vergießen oder sich an deutschem Gut zu vergreifen. Aber dies geschah lediglich, weil es nicht in ihrem Bereiche war. Die mächtige und gefährliche Bewegung richtet sich nicht gegen ein einzelnes fremdes Volk, nicht gegen Deutsch« oder Russen oder Engländer speciell, sondern gegen alle Angehörigen nichtchinesischer Nationalität, ohne Unter schied. Und wenn man auch darüber nicht im Klaren ist, wie weit dieser Aufruhr die Unterstützung der chinesischen Regierung findet, so kann darüber doch kein Zweifel bestehen, daß das Mandarinenthum bis in seine höchsten Spitzen hinauf die blutigen Thaten der „Boxer" mit Wohlwollen betrachtet, wenn nicht fördert. Derartige fremdenfcindliche Aufstände sind im Reich der Mitte nichts Neues. Ein Volk von so eingewurzelter Eigenart, so ausgeprägter selbstständiger Cultur und Weltanschauung, die auf vieltausendjähriger Geschichte und starrer Tradition beruhen, muß in jeder anderen Nationalität einen Feind, einen Barbaren erblicken. Die Annalen der chinesischen Staatsgcschichte sind erfüllt von Versuchen der Urbevölkerung, die Eindringlinge wieder aus dem Lande zu werfen; diese Bestrebungen haben sich früher gegen die herrschende Mandschudynastic gerichtet, deren Fremdherrschaft abzuwerfen die Südchinesen z. B. den furcht baren Taiping-Aufstand veranstalteten. Jetzt, wo China mehr und mehr gezwungen ist, Europäer und Amerikaner unter seiner Bevölkerung zu dulden, wo die „weißen Bar baren" nicht nur mit Handel und Schifffahrt, sondern mit Siede lungen und Eisenbahnen ganze Provinzen unter ihren Einfluß gestellt haben, gehen Mandschuhs und Chinesen in geschlossenen Reihen gegen die Fremden vor, in denen sie Feinde ihres Glaubens, ihrer Sitte, ihrer Macht und ihres Volksthums sehen. Da die chinesische Centralregierung ebensowenig wie die Provinzmandarincn im Stande oder gewillt sind, Leben und Eigenthum der Fremden zu schützen, müssen die fremden Mächte zur Selbsthilfe greifen. Dies ist nach Maßgabe der ver fügbaren Kräfte geschehen. Alle in Ostasien vertretenen Mächte haben Truppen zum Schutz ihrer Angehörigen entsandt. Ein solches Vorgehen, das der Nothwehr entspringt, ist ein Ge bot unerläßlicher Nothwendigkeit und daher selbstverständlich. Aber in dieser Entfaltung militärischer Macht lag andererseits eine beträchtliche Gefahr. Es war einerseits zu befürchten, daß Rivalitäten unter den Großmächten entstehen konnten, und eS war andererseits nicht ausgeschlossen, daß die Bekämpfung deS Ausstandes zu einer Aufrollung des ganzen China-Problems mit seinen unberechenbaren Folgen führen würde. Der welthistorische Gegensatz zwischen Rußland und Großbritannien, der durch die Aspirationen Frankreichs in Slldchina noch verschärft wird, konnte möglicher Weise bei diesem Anlaß eines Streites um die Hegemonie und die Herr schaft in China zum AuStrag kommen. Der Aufstand der Boxer konnte so der Funken werden, der einen Weltbrand ent zündete. Diese Gefahr scheint (?!) glücklich beseitigt. Und wir haben Grund zu der Annahme, daß die deutsche Politik, getreu ihrer seit drei Jahrzehnten geübten Friedensmission, an dieser glücklichen Wendung ein großes Verdienst hat. Ein ehrlicher Makler, der für sich nicht» will, al» in Frieden und Ruhe seiner fleißigen Arbeit leben, vermag in solchen schwierigen Zeitläuften oft viel. Und man wird in London, wie in Petersburg und Paris, Rom und Washington, sich auch der Einsicht nicht ver schlossen haben, daß es vor Allem gilt, die gemeinsamen Inter essen mit vereinten Kräften zu schützen, wie sie in dem Leben der zahlreichen Europäer und Amerikaner, ihrem Eigenthum, ihrem Handels- und Verkehrsleben, vorliegen, anstatt durch Zwist und Kampf im eigenen Lager Oel in das allen Fremden feindliche Feuer zu gießen. Deutschland genießt wohl aller Orten das Vertrauen, daß es in Ostasien nicht die Hegemonie erstrebt; man weiß, daß das deutsche Reich zwar dort auch seinen Platz an der Sonne haben will und muß, wie es einer Weltmacht und seinem Antheil an der Weltwirthschaft zukommt, daß es aber Niemanden in den Schatten drängen will, sondern der Ansicht lebit, daß das ungeheure Reich ein endloses Feld für die Cultur- arbeit und die wirthschaftliche Erschließung bietet. Diesen Einfluß im Sinne einigen Vorgehens aller be- theiligten Mächte aber hätte die deutsche Friedenspolitik und das Geschick ihrer Diplomatie niemals erringen können, wenn nicht hinter ihrem Ansehen die reale Macht stände — die Macht heutzutage schon auf dem Lande und der feste Wille zur Macht auf der See, wie er sich im F l o t t e n g e s e tz e ausdrllckt. Der artige Imponderabilien spielen in den Beziehungen der Staaten eine nicht geringe Rolle. Und eine weitere Lehre ertheilen die Wirren in China: Wie von jeher dort die Thiiren dem fremden Handel und Besitz mit bewaffneter Faust aufgebrochen werden mußten, so ist es auch unerläßlich in Zukunft, dem 400-Millionen- Reich in greifbarster Deutlichkeit stets vor Augen zu halten, daß der Verletzung von Leben und Habe der Europäer und Ameri kaner unweigerlich die Strafe auf dem Fuße folgt. Kann die chinesische Regierung diese Sühne aus irgend einem Grunde nicht vollziehen, so müssen die Mächte es einzeln für sich oder in geschlossenem Verein, als eine Art Polizei, thun, die für Sicher heit und Ordnung in China aufkommt. Zu diesem Behufe mutz Deutschland, ebenso wie Rußland, Großbritannien und Frank reich, in Ostasien eine starke Militärmacht haben — in seiner Pachtung Kiautschau, zu Wasser in einem statt lichen Geschwader von Auslandsschiffen, das die Welt macht Deutschland würdig und kraftvoll vertritt. Ein Voxcr über die christliche Cultur. ^uckiatur et Litern Mrs, dachte der „Daily Expreß", und ließ sich von einem in London lebenden Chinesen, angeblich einem Mitgliede der Bruderschaft der Boxer, die Art und Weise, wie man in China uns Europäer und unsere Cultur beurtheilt, folgendermaßen schildern: Die westliche Civilisation, so sagte der Chinese, ist in unseren Augen wie ein Pilz, wie ein Ding von gestern. Die chinesische Civilisation dagegen ist ungezählte Jahrtausende alt; wir glauben daher, daß wir euch um mindestens 2000 Jahre voraus sind. Auch bei uns gab es eine Zeit, da wir unfern „Kampf ums Dasein", unsere Jagd nach Reichthum, unfern Machthunger, unser Hasten und Hetzen und unsere Qual hatten. Auch wir hatten unsere klugen Erfindungen» wir hatten das Schießpulver, den Buchdruck und alles Uebrige, aber wir haben lange genug gelebt, um zu erkennen, wie wenig noth- wendigundwie nutzlosallesdasist. Wir haben auch unsere Zeiten des Zweifels, des Fanatismus und des Streites in Religionssachen gehabt; wir hatten unsere Märtyrer, unsere Reformationen, unsere Intoleranz und schließlich die Toleranz — und daS Alles vor Tausenden von Jahren. Aber, wie gesagt, wir sind diesen Dingen entwachsen. Aus den Erfahrungen vergangener Jahrhunderte haben wir Weisheit, aus den Fehlern und den Unfällen unserer Ahnen haben wir gelernt, daß keines der Dinge, nach denen wir strebten, des Strebens Werth war. So haben sich unsere Leidenschaften und unser Ehrgeiz allmählich abgesetzt in dem ruhigen Wunsche nach Glückselig keit in dieser Welt, unsere Religion ist zu einer Lebensphilo sophie geworden, die sich in der Probe der letzten 2000 Jahre als gesund erwiesen hat (?). Wir glauben, daß das Beste, was man in diesem Leben erreichen kann, die Glückseligkeit ist, und wir lehren unsere Kinder, daß sie dieses Glück nur durch Pflicht erfüllung erzielen, dadurch, daß sie die Vorschriften der Moral und der Lebensgemeinschaft erfüllen und sich mit einem Kreise gleichfalls glücklicher Freunde und Verwandten umgeben. Wenn ein Chinese mehr von geschäftlichem Glück begünstigt ist, als seinen Verwandten zutheil geworden, so findet er seine größte Befriedigung darin, sein Vermögen mit jenen zu theilen (?). Und wir in China hören nie auf zu arbeiten, etwas, wie ein Zurückziehen vom Geschäft, giebt es nicht, die Arbeit ist ein Theil unseres Vergnügens, weil sie ein Theil unserer Pflicht ist. Wir glauben daS Beste in diesem Leben zu thun, weil es das ein zige ist, von dem wir etwas Sicheres wissen. Das ist das letzte Sein und Ende der chinesischen Philosophie. So werden Sie überall in China dasselbe Maß und denselben gleichartigen Geist der Befriedigung finden. Sie mögen glauben, wir lebten in Unwissenheit, Schmutz und Trägheit, aber ich versichere Ihnen, eS ist nicht der Fall. Wir fühlen uns so wohl, wie wir wünschen, und kein Mensch kann uns darin eine Besserung bringen. Und nun kommt ihr aus eurer westlichen Welt zu uns mit dem, was ihr eure neuen Ideen nennt. Ihr bringt un» eure Reli gion — ein Kind von neunzehnhundert Jahren; ihr fordert uns auf, Eisenbahnen zu bauen, damit wir von einem Ort zum andern fliegen können, mit einer Eile, die uns weder Bedürfniß ist, noch Reiz für uns hat. Ihr wollt Fabriken bauen und da durch unsere schönen Künste und Gewerbe verdrängen, ihr wollt blendenden Flitter verfertigen, statt der schönen Gebilde und Farben, die wir durch Jahrhunderte erprobt haben. Gegen alles da» erheben wir Einspruch, Wir wollen allein gelassen werden, wir wollen die Freiheit haben, unser schönes Land und die Früchte unserer alten Erfahrung zu genießen. Wenn wir euch bitten, wegzugehen, so weigert ihr euch, und ihr bedroht uns gar, wenn wir euch nicht unsere Häfen, unser Land, unsere Städte geben. Daher sind wir Mitglieder der Gesellschaft der sogenannten Boxer nach reiflicher Ueber- legung zu der Erkenntniß gekommen, daß die einzige Möglichkeit, euch lo» zu werden, darin liegt, daß wir euch tödten. Wir sind von Natur nicht blutdürstig, aber wenn Zureden und Heber« zeugung und die Berufung an euren Verstand und euer Gerechtig keitsgefühl versagen, so sehen wir uns der Tha-tsach« gegenüber, daß unsere einzige Rettung ist, euer Dasein auszulöschen. Nehmen Sie Ihre Missionare. Sie kommen zu uns mit einer neuen Religion, über deren hauptsiich» lichste Grundsätze sie selbst unter einander bitterlich uneins sind; sie sagen uns, wenn wir ihre Lehre nicht annehmen, würden wir ewige Strafe erdulden. Sie schrecken unsere Kinder und alten Leute und veranlassen alle möglichen Zwistigkeiten zwischen Familien und einzelnen Per sonen. Da ist es doch kein Wunder, daß wir sie nicht dulden wollen. Wenn wir eure Eisenbahnen und Maschinen haben" wollten, so könnten wir sie ja kaufen; aber wir wollen sie nicht, sie sind unS nichts nutz, wir haben ge lernt, ohne sie fertig zu werden. Trotzdem sagt ihr, ihr würdet uns zwingen, sie zu kaufen, ob wir wollen oder nicht. Ist das gerecht? Ich sage, es ist eine Anmaßung, ein« Beschimpfung. Viel Wesens wird daraus gemacht, daß wir keine Soldaten sind. Wir aber haben aufgehört, Soldaten zu sein, weil wir civilisirt geworden sind. Der Krieg ist barbarisch. Die Wirkung davon, daß wir aus unserer jetzigen Höhe der Civilisation angelangt sind, ist, daß wir uns mehr als irgend eine andere Raffe auf der Erde vermehrt und vervielfacht haben. Trotz unserer großen Sterblichkeit — an der Sie wieder Anstoß nehmen, obwohl wir glauben, daß sie eine weis« Vorsehung der Natur ist — vermehrt sich die chinesische Rasse schneller, als irgend ein anderes Volk der Welt. Wenn wir es darauf ablegten, könnten wir die übrige Menschheit über wältigen; daß wir das nicht thun, ist nur der Vollendung unserer Civilisation, unserer Philisophie, unseren Sitten zuzu schreiben. Wir zählen 400 Millionen menschlich^ Wesen, und wer könnte uns Widerstand leisten, wenn wir unsere Macht zur Gcltui^ bringen wollten? Glauben Sie, wir . r. dessc-i nicht (»ewußt? Im Gegentheil, wir wissen es z«. gut, uno nu- .,r cs Sache der weißen Rassen auf der Erde, zu erkennen, daß wir, nicht sie die Herren sind. China ist von 20 sogenannten glücklichen Invasionen heimgesucht worden. Aber was hat sich ereignet? Haben die Eindringling« die Chinesen beherrscht? Nein, die Besiegten haben" oie Besieger aufgesogen, und Alle sind Chinesen geworden. Selbst die Juden, die zu uns gekommen, sind von unserer Rasse absorbirt worden, ein Vorgang, der nirgends seinesgleichen hat. Lassen Sie mich wiederholen, daß alle die Dinge, die im Westen die Menschen trennen, in China thatsäcklich keinen Daseinsgrund haben. Politik, Religion, persönlichen Ehrgeiz, Ausd«hnungsdrang, Landhunger, Goldhungcr — Alles das giebt es in China nicht. Ihr meint, der Chinese sei ein Kind, weil er träge, sorglos und einfach ist. Das ist ein großer Jrrthum. Er hat das Geheimnis gelernt, glücklich zu sein, sein Leben ist ruhig, und nichts stört ihn, solange sein Gewissen rein ist. In ein Sprichwort zusammen gefaßt, ist das Bild unseres Charakters: LaßtunsinRuhe, und wir lassen Euch in Ruhe. Es ist gleichgiltig, ob diese Schilderung wirklich aus dem Munde eines Chinesen und gar eines leibhaftigen Boxers stammt, oder ob sie von einem Europäer herrührt, der „des Landes Reis gegessen" hat; wer China und die Chinesen kennt, wird darin jedenfalls Anschauungen wiederfinden, denen er in diesem seltsamen Lande auf Schritt und Tritt begegnet ist. Es liegen folgende Nachrichten vor: * Tientsin, IS. Juni. Die hiesigen Fremdennieder» lafsungen sind ausreichend geschützt. In der Chiorseastadt treten Boxerbandcn auf, die drei Capellen aiedrrgrbrannt haben und unter der eingeborenen Bevölkerung Schrecken verbreiten. Zwischen hier und Lang»fang sind zwei Eisenbahnbrücken von den Boxrr- unfahrbar gemacht worden. Ein Arbrit-zug zur Wiederherstellung dieser Brücken ist bereit- abgegangen. * Tientsin» 15. Juni. Die Zerstörung der Eiseubaha hinter Lang-fang unterbrach den Vormarsch der Entsatztruppen. Inzwischen ist die deutsche Abthetlung auf Landwegen nach Peking weitermarschirt. Der Einmarsch von fremden Truppen in Peking soll vom Tsungli-Pamen in Höhe von 1200 Mann genehmigt sein. * London, 16. Juni. Wie hiesige Abendblätter aus Tientsin melden, ist dir katholische Kathedrale in Peking nieder gebrannt worden. Weiter melden die Abendblätter an» Schanghai, daß ein Eisenbahnzug, welcher mit Vorräthrn sür di« Entsatztruppe« abgegangen war, wieder zurückkehrrn mußte. * Nokohama, 16. Juni. (Meldung de» „Reuter'schen Buteau»".) Die Ermordung eine» japanischen Beamte« durch kaiserliche Truppen in Peking ruft hier Erregung hervor. Dir Press« fordert die Regierung auf, volle Genugthuung zu verlangen. Acht Kriegsschiffe wurden nach Taku gesandt. LeutschpS Reich» -7- Vertin, 16. Juni. (Zur Abänderung Ikt Krankenversicherung Sg es etzeS^) Einen „allgtmti«eck Sturm wie gegen die ZuchtbaUSvorlave" hält die „Sachs. Arbeiterztg." für geboten, sobald etwa» Greifbatkß in die Oeffentlichkeit in der Richtung gelangt, daß dit Ber« Waltung der krankencaflrn an die Gemeindeverwaltung an gegliedert werden soll. Daß hei der bevorstehend«» AenderuNg de- KrankenversicherunaSgesetztS Derartiges geplant wird, kann nach den Veröffentlichung«» dt- Regierung-rarh« Hoffmann itt» „Preußische» VrrwalktiffßS» blatt" keinem Zweifel Utttttlirgen. Bekanntlich wird htza Hoffmann vorgeschlagen, daß Arbeitgeber U»V Ukdtii- nehmer nicht wie bisher ein Drittel btzw. zwei Dtittkl dir Beiträge zahlen, sondern daß jeder Theil die Hälfte dir Beiträge aufbringen soll, daß dementsprechend die Eäffrn» oraane je zur Hälfte au» Arbeitgebern und Arbeitnehmern rusammenzusetzrn und der Vorsitz einem Grntriadebeamten zu Übtrtragea sei. Di« sachlichen Gründ«, die in bet soöiab»
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