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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.06.1901
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-06-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19010601028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1901060102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1901060102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
- Monat1901-06
- Tag1901-06-01
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KtnlsbkM des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Nolizei-Ämtes -er Ltadt Leipzig. Anzeigen Preis die 6 gespaltene Petitzrile L5 Reklamen unter dem Redactionsstrich f4 gespalten) 75 vor den Yaniiltrnnach- richten (6 gespalten) 50 H. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertrnannohme L5 (excl. Porto). Srtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung Ü0—, mit Postbeförderung ^l 7V.—. - —— p» - Ännahmeschluß für Änzeizen: Zlb end-Ausgabe: Bormittag» 10 Uhr. Morgen-Au-gabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. - Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. . Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. —-— - - Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 273. Sonnabend den 1. Juni 1901. 95. Jahrgang. Die Wirren in China. Die Räumung von Pclschili. In Frankreich, dessen Regierung unter dem Drucke Ruß lands die Zur ückzie hung der französisch en T ruppen nicht eilig genug betreiben konnte, scheint nachträglich die Einsicht Platz zu greifen, daß auch in dieser Beziehung mit größerer Borsicht verfahre» werden müsse. AuS Paris, 29. Mai, wird darüber geschrieben: „AnS Marseille laufen Nachrichten ein, denen zufolge die Rückbeförderung des französischen Expeditions korps auS China vertagt worden wäre. Die Ereignisse in Ostasien hätten die Regierung veranlaßt, ihre ursprüng lichen Absichten zu ändern; der größere Theil veS Corps müsse zunächst noch im Reiche der Mitte belassen werden. Die Bureaus der Marine unv der Colonialverwaltnng haben deshalb in den letzten Tagen Instructionen bezüglich Absendungen bedeutender Vorräthe nach China erhalten. Am Mittwoch Morgen sind noch umfassende Befehle an den Marine- commandanten von Marseille Admiral Besson eingegangen. Diese neuen Verfügungen werden dahin commentirt, daß rS sich um eine bezügliche Verständigung der französischen Regie rung mit der russischen und deutschen handle. Man glaubt hier auch, daß die Rückbeförderung des Gros des deutschen Expeditionskorps nicht so schnell erfolgen werde, als dies in den letzten Tagen angekündigt worden. Die letzten auS China eingelanfenen Nach richten könnten keinen Zweifel darüber bestehen lasten, daß eine Ueberstürzung bei der Räumung von Petschili durch die europäischen Truppen verhängnißvoll sein würde. Man weist dabei auch auf die Glückwünsche der amerikanischen und englischen Blätter an Deutschland wegen des Beschlusses, seine Truppen auS China zurückzuziehen, bin und erklärt, daß diese keineswegs selbstlos feien. In Washington und London würde man bald diesen Rückzug der verbündeten Truppen vor Erfüllung der Vertragsbestimmungen den Chinesen als ein Verdienst der englischen und amerikanischen Diplomatie an preisen und sich dafür auf Kosten der anderen Mächte bezahlt zu machen suchen. Außerdem schuldeten diese auch ihrem Prestige, die Chinesen nicht allzu schnell aus der eisernen Um klammerung loszulassen. Die Nachricht, daß an Stelle deS zur Abfahrt bereiten Grafen von Waldersee der General Baillard zum Oberbefehlshaber der verbleibenden ver bündeten Truppen bestellt werden solle, beweise übrigens, daß nach wie vor zwischen Berlin, Paris und Petersburg das innigste Einvernehmen bezüglich Chinas fortbestehe." * London, 3l. Mai. Die Blätter melden aus Peking von heute: Der britische Gesandte Satow benachrichtigte die chinesischen Bevollmächtigten, daß die britischen Truppen das Land nicht srüher verlassen werden, als bis die JndemnitätSfrage ge regelt ist. (Wiederholt.) * London, 1. Juni. (Telegramm.) Eine Shanghaier Depesche des „Standard" besagt: Aus der Provinz Nganchwei wird berichtet, daß in der ganzen Provinz eine starke Erregung bemerkbar sei, weniger auS politischen Gründen, als infolge des Auf tretens von Heuschr ecken schwärmen, welche die Ernte rasch ver nichten. * Bokohamn, 1. Juni. (Telegramm.) Der Kaiser berief nach einer Besprechung mit dem Marquis Ito den Viscount Katsura aufs Neue. Es wird angenommen, daß dieser nunmehr die CabinetSbildnng in Angriff nehme. Nach eingegangenen Nach richten bestätigt sich die Nachricht von christ en feindlichen Un ruhen aus der koreanischen Insel Qnelpart, nicht aber von der Ermordung eines französischen Priesters. Tie koreanische Re gierung entsendet Truppen nach dem Orte der Ruhestörungen. Der Krieg in Südafrika. Kleine Streiflichter auf die englische Kriegführung. Einem Privatbriefe entstammen die folgenden Bruchstücke von Schilderungen über die Art und Weise, wie die Engländer in Südafrika Hausen. „. . . Bei Machadodorp lag ich mit zwei Boeren, die ebenso wie ich selbst schwerverwundet waren, in einem halbverbrannten Schuppen, in welchen uns die Engländer ohne weitere Rücksichtnahme auf unseren Zustand auf den nackten Erdboden niedergelegt hatten. Ein Arzt oder Lazareth- gehilfe ließ sich überhaupt nicht sehen, und der Infanterist, der uns bewachen sollte, drückte sich schon nach der ersten Stunde. Die umliegenden Höhen wurden von den Boeren besetzt ge halten, und bald kam eine englische Batterie herangerasselt, die dicht neben unserem Schuppen ihre Geschütze abprotzte und sofort ihr Feuer eröffnete. Der Batterieführer ritt durch die offene Thür in die Scheune hinein und gab, ohne auf unsere Bitte um Wasser und Verbandzeug auch nur mit einer Silbe zu ant worten, den Befehl, die Protzen und Munitionswagen hinter dem Gebäude in Sicherheit aufzustcllen. Die Boeren erwider ten mit einem Longtom und verschiedenen Feldgeschützen das Feuer der englischen Batterie, und in der Zeit von einer Stunde wurde die Scheune von den schweren und leichten Granaten der Burghers geradezu überschüttet, da dieselbe natürlich ein gutes Hilfsziel neben der Geschützstellung der Engländer bot. Die Letzteren ließen also die einfachste Regel civilisirter Kriegführung außer Auge, wonach ein Gebäude, welches Berwundete beherbergt, unter allen Umständen zu respectiren ist und keinesfalls dadurch gefährdet werden darf, daß man das feindliche Feuer direct auf dasselbe herüberleitet. Der eine Boer wurde durch einen Granat splitter neuerdings verwundet und verstarb nach zwei Stunden unter fürchterlichem Todeskampf. . . . Die Engländer hatten sämmtliche männliche Wesen, einerlei, ob Kombattanten oder Nichtcombattantcn, wie Verbrecher gefangen gesetzt und trans- portirten uns nach einigen Tagen auf leeren Ochsenwagen nach Machadodorp, von wo wir per Bahn auf offenen Kohlenwagen in fürchterlichster Sonnengluth nach Pretoria gebracht wurden. Die Reise war entsetzlich und an irgend welche Pflege der Ver wundeten oder Ernährung der Gefangenen überhaupt nicht zu denken, so daß unterwegs 7 Verwundete elend verstärken. . . . Auf der weiteren Fahrt nach Pretoria sollten wir sowohl wie die Engländer noch eine unangenehme Ueberraschung erleben. Mitten in der dunklen Nacht entgleiste unser Zug unter furcht barem Gepolter, da die Boeren die Schienen gelockert und lose wieder an ihre Stelle gelegt hatten. Sie selbst lagen auf knapp 100 Meter Entfernung im Hinterhalt und feuerten nun aus der Dunkelheit zwischen die in Verwirrung gerathenen eng lischen Soldaten. Wir Kriegsgefangenen hüteten uns wohl, die Köpfe über den Wagenrand hinauszustecken und ergaben uns liegend in unser Geschick. So pfiffen die Kugeln über uns hinweg, ohne uns Schaden zu thun, wogegen die Engländer außer einigen 20 Verwundeten 5 Todte zu beklagen hatten. . . . Ein anderer Zug brachte den Engländern Hilfe und auch zwei Aerzte für die Verwundeten. Der ältere dieser beiden letzteren Herren, ein Doctor in Majorsrang, machte dem commandirenden Officier unseres verunglückten Trains den liebenswürdigen Vorschlag, doch einmal ein Exempel zu statuiren und von uns Gefangenen jeden zweiten Mann auf dem Grabe der Gefallenen zu erschießen und die Leichen dann als warnendes Beispiel dort liegen zu lassen. Das würde nach seiner Ansicht die Boeren besser davon abschrecken, englische Transportzüge anzugreifen und zum Entgleisen zu bringen, als irgend ein anderes Ge waltmittel. Ich hörte die ganze Unterhaltung mit an und es fehlte nicht viel, so wäre der menschenfreundliche Doctor mit seinem martialischen Vorschlag durchgedrungen, wenn nicht der englische Kapitän sich noch rechtzeitig darauf besonnen hätte, daß er zu einer solchen Gewaltmaßregel ganz und gar nicht befugt sei. Der Arzt, der sich lieber um die schwerverwundetcn Eng länder und Boeren hätte kümmern sollen, war ganz ärgerlich darüber, daß nicht ein oder zwei Dutzend Kriegsgefangene kalten Blutes hingemordet werden sollten, und er behielt sich unter weiterem großen Wortschwall vor, seine gloriose Idee in Pretoria nachdrücklich zur Sprache zu bringen. ... In Pretoria angekommen, wurden wir, wie üblich, erst ein paar Mal mit Sack und Pack durch die Hauptstraßen der Stadt hin und her geführt, damit die Einwohnerschaft diesen neuen, glänzenden Triumph der englischen Waffen gehörig würdigen konnte. Auf unsere Wunden und unseren geradezu jämmerlichen Zustand wurde bei diesem barbarischen Verfahren auch nicht die geringste Rücksicht genommen." - * Kapstadt, 31. Mai. („Neuter's Bureau.") In den mitt leren Bezirken der Capcoloiiie wird eine Petition in Umlauf gesetzt, in der nin Amtsenthebung der gegenwär tigen Verantwortlichen Regierung gebeten wird, damit die Ordnung der Dinge in Südafrika der Neichsregierung über- lassen sei. Eine beträchtliche Anzahl Holländer unterzeichnete die Petition. Politische Tagesschau. * Leipzig, 1. Juni. Die in unserer heutigen Morgenausgabe mitgetheilte Aus lassung der „Nordd. Ällgem. Ztg." über den „BertrancnS- miszbraiich", durch den der Bericht de» „Berl. Loc.-An- zeigerS" über den vom Kaiser am Mittwoch im OfficierS- casiiio deö 1. Garderegiments zu Fuß nach dem Exerciren der 2. Garde-Jnfantcricbrigade ausgebrachte Trinkspruck in dieses Blatt gekommen ist, wirkt geradezu erschreckend. Man erfährt auS dieser zweifellos iuspirirten Auslassung, daß es nickt nur den „allerhöchsten Intentionen", sondern „aus drücklichen Weisungen des Kaisers" widerspricht, wenn bei militärischen Anlässen und in kameradschaftlichen Kreisen gehaltene Ansprachen und gefallene Aeußerungen des Monarchen ohne ausdrückliche Ermächtigung durch die Presse verbreitet werden. Man erfährt allerdings nickt, ob in diesem Falle die Ermächtigung nackgesucht oder abgelebnt worden ist. Aber auch wenn daS nicht geschehen ist, so liegt eine Ver fehlung vor, die kaum hart genug vernrtheilt werden kann. ES ist ja bei wichtigen diplomatischen Verhandlungen, die in Privathäuseru stattfanden, vorgekommen, daß „findige" Reporter Mittel und Wege sanden, sich in Kaminen zu ver bergen, ohne daß den Hausbesitzer oder die berechtigten Tbeilnehmer an den Verhandlungen ein Vorwurf traf. Aber derartiges kann dock wobl in einem Ossicierscasino nicht vorkommen, am wenigsten bei einem Frühstück, an tem der Kaiser theilnimmt. Bei einer solchen Ge legenheit können doch, so muß man annehmen, außer Officieren, Hofbeamten mit Osficiersrang und militärischer Bedienung nicht einmal in einem selbstgewählten Ver stecke Personen zugegen sein, denen die ausdrücklichen Weisungen des Monarchen unbekannt geblieben sind. Auf diesen Sachverbalt, der als solcher so lange fest gehalten werden muß, bis eine andere Thäterschaft nach gewiesen ist, muß mit dem größten Nachdrucke aufmerksam gemacht werben. Die Annahme, daß rin deutscher Officier dazu gelaugt sei, sich Uber einen ausdrücklichen Befehl des obersten Kriegsherrn hinwegzusetzen, halten wir für aus geschlossen. Es bleibt also nur die Annahme übrig, daß von der militärischen Bedienung, der dieser Befehl nicht unbekannt geblieben sein durfte, jemand durck den Kitzel, eine sensatio nelle Mittheilung in die Oesfentlichkeit zu bringen, wenn nicht gar durch die Aussicht auf materiellen Bortheil zum Ver- lrauensbruche verleitet worden sei. Welche ernsten Befürchtungen an diese Annahme sich knüpfen, leuchtet ohne Weitere» ein. Handelt eS sich im vorliegenden Falle um einen Vertrauen-Miß brauch, der ernstere und nachhaltige Schädigungen des deutschen Interesses nicht Hervorrufen dürfte, so ist es doch sehr wohl denkbar, daß auch in Fällen, die im Interesse des Reiches unbedingte üL^rschwiegenbrik erfordern, der ausdrückliche Be fehl des Kaisers mißachtet wird, weil die Versuchung, den „Berl. Loc.-Anz." gratis oder gegen Bezahlung mit sensatio nellen Berichten zu speisen, gar zu lockend ist. Man erwäge nur alle die Möglichkeiten, die zur Zeit eines Krieges in Vieser Beziehung eintreten können. Angesichts einer der artigen Sachlage erscheint es al» dringende Aufgabe der zu ständigen Stellen, VertrauenSmißbräucken von der Beschaffen heit deS in Rede stehenden auf dem Wege der Untersuchung cntzegcnzutreten und den oder die Schuldigen rücksichtslos zu bestrafen. Bei der Bedeutung, welche die Kohlenfrage für Deutsch land in Friedens- und nock mehr in Kriegszeiten bat, und bei der Abhängigkeit von England, in der wir uns bei der Deckung unseres Kohlenbedarfs besonders bei kriegerischer Verwickelung befinden, verdient auch bei unS ein Vortrag beachtet zu werden, den kürzlich in der Colonialabtbeilung der ,,8ociot^ ok ^rts" der englische Marineossicier Bellai rs über die Kohlenfrage und ihre Bedeutung für das britische Reich hielt. BellairS, der sehr belesen ist und sich eifrig mit marincpolitischen Fragen beschäftigt, legte dar, w:e schwierig die Lage Englands bezüglich der Kohlenfrage ist. Gewichtige Gründe sprächen gegen alle Maßnahmen, welche die Kohlenauöfubr beschränken, aber ebenso wesentliche Gründe ließen sich dafür inS Feld führen, daß ter Staat der unbeschränkten Ausfuhr von Kohlen einen Damm setze. Kohlen bilden dem Gewichte nach über 70 Procent des englischen Exports und somit die Ladung von etwa 50 Procent aller englischen Frachtschiffe. Englands Eisen industrie wirb immer mehr abhängig von ausländischen Eisenerzen. Da ein großer Theil der mit Kohlen auSlanfendcn Schiffe als Rückfracht Eisenerze bringt, so wird für letztere eine verbältnißmäßig geringe Fracht gezahlt. Beschränkt der Staat also die Kohlenausfuhr, so schädigt er nicht nur einen bedeutenden Theil seines Seehandels, sondern auch seine Eisen industrie, welche dann höhere Frachten für Eisenerze zahlen müßte. Er ruft außerdem Gegenzölle hervor, z. B. auf Holz, Baumwolle, Erze, welche der englischen Industrie den größten Schaden verursachen würden. Die englische WaleS-Kohle Lauilleton. Los Ein Engel der Finsterniß. Roman von Gertrude Warden. Autorisiere deutsche Uebcrsctzung von A. BraunS. Nachdruck verbeten. Viktor hatte aber schon jenes Stadium erreicht, wie cs in dem Liede heißt, das er so gern, an Francesca denkend, zu Betty's Begleitung sang: „Und Alles, was ich liebe, und Alles, was ich weiß. Ist, nicht wissend, warum, ich Dich liebe so heiß!" Nachdem eine zierliche, beispiellos theure kleine Toque, aus Goldfiligran und kleinen schwarzen Straußfederspitzen und einem Kranze von Hochrothen Rosen gefertigt, die Stelle von Fran- ceSca's schwarzem Spitzenhute eingenommen, und sie ferner noch einen spitzenübcrzogenen Sonnenschirm, zwei Dutzend Paar Handschuhe, mehrere Seiden- und Mousselinblousen, eine An zahl gestickter Taschentücher und eine Anzahl Flacons mit feinen Parfüms gekauft, erhielt der Kutscher die Weisung, nach Madame Tussaud's Wachsfigurencabinet zu fahren, und nur wenige Minuten später hielt er vor dem Gebäude, das Fran cesca zu besuchen so lebhaft wünschte. Die Kindermädchen, die Vettern vom Lande und Leute, die, durch einen jüngst verübten Mord angelockt, das Bildniß des Mörders und das blutbefleckte Messer, mit dem er den Mord auSaeführt, anzusehen gekommen waren, stierten Francesca, wie sie in ihrer hocheleganten Toilette durch die Galerien rauschte, mit großem Interesse an. Don den historischen Gruppen nahm Francesca sehr wenig Notiz, mit Ausnahme der Tudor's, für die sie sich ungemein zu interessiren schien. „Eine herrliche Familie!" äußerte sie zu Viktor, der in ihrer Geschichte nicht sonderlich bewandert war. „Sie wagten sich als die zu zeigen, die sie in Wirklichkeit waren. Nur morgen ländische Herrscher wagen daS in unseren Tagen zu thun." „üksis mcm Vieri! Für uns ist es doch nur gut, daß unsere Herrscher jetzt nicht wagen, uns die Köpfe abzuschlagen und uns bei lebendigem Leibe zu verbrennen, wenn wir sie beleidigt haben!" rief Viktor. „Heutzutage wird viel zu viel Aufhebens gemacht mit der Erhaltung de» menschlichen Leben»", erwiderte seine Cousine „Aber, Theuerste, Du kannst doch unmöglich die gottlose alte Elisabeth bewundern, die ihre Cousine Maria Stuart jahrelang einkerkerte und ihr schließlich das Leben raubte, nur weil jene hübscher war als sie!" „Sie besaß die Macht, und ihre Cousine war ihr im Wege", erklärte Francesca. „Aber schon oft habe ich mich gewundert, warum sie sie nicht in unauffälligerer Weise bei Seite schaffte. Jenes Kopfabschlagen war eine plumpe Geschichte." „Hier aber ist ein Tudor, den Du sicher nicht bewundern kannst", rief Viktor — „Herr Blaubart Heinrich VIII., der seine Frauen ums Leben brachte! Und hier ist noch eine Andere — jene gräßliche Marie, die ihre Unterthanen lebendia verbrannte!" „Verbrennungen waren in jener Zeit Volksbelustigungen für die Massen, mußt Du bedenken! Die Leute gingen hin und nahmen die Kinder mit und in einem Korbe etwas zu essen und zu trinken und ließen sich, der Schaustellung harrend, gemüthlich auf dem Marptplatze nieder, ganz so, wie die Leute jetzt hingehen, die Feuerwerke, und vor noch nicht vielen Jahren öffentliches Hängen anzusehen. Unsere philanthropische Gefühlsduselei ist ein Product der allerneuesten Zeit." „Viktor sah seine Cousine verwirrt an. Sie sah nicht aus, als ob sie scherzte, und trotzdem mochte er nicht glauben, daß sie im Ernst spräche. Seine zartbesaitete ästhetische Natur entsetzte sich bei dem Gedanken an Grausamkeit, brutale Ansichten und Aeußerungen, und maß dem holden Wesen an seiner Seite ganz selbstverständlich gleiche Zartheit bei. „Gottlob", rief er inbrünstig, „daß wir jetzt nicht mehr in solchen Zeiten leben!" „Nein, in der That nicht mehr", erwiderte sie mit Nachdruck. „Wenn ein dummes Dienstmädel eine Ohrfeige oder ein nichts nutziges Schulkind eine paar Hiebe mit einem Rohrstock bekommt, dann kann man gewiß "in allen Abendblättern mit fettgedruckter Ueberschrift: „Empörende Brutalität gegen ein Kind!" lesen. In der derben Tudorzeit mit den Verbrennungen und Ver folgungen, den Kriegen und Aufständen, waren es nur die Schlauen, die sich hindurchhalfen und sie überdauerten. Aber wir jetzt hätscheln die Krüppel und kranken Armen, veranstalten Sammlungen und Wohlthätigkeitsbazare für Verbrecher und Verrückte, damit sie ja mit recht bequemen Armsesseln und leichter Lectüre und mit dem Besten von Allem versorgt werden. Die Zeiten haben sich in der That geändert!" Viktor mißfiel das leichte, spöttische Lachen, mit dem seine Cousine ihre Rede schloß; er verstand es auch nicht. Wie er die» herrliche, vollkomlnen entwickelte Menschenkind über sein« ver krüppelten Mitmenschen höhnen hörte und den barbarischen Zeiten nachseufzen, in welchen die Tortur als eine Form öffent licher Belustigung anerkannt war, so lehrte ihn das doch nichts, da erstens sein Schlußvermögen durchaus nicht scharf war, und zweitens die Liebe ihn so blind machte, daß er sie nicht in ihrer wahren Gestalt sah und nicht sehen wollte. „Ich höre Dich nicht gern in dieser Weise sprechen, Geliebte, nicht einmal im Scherz", war Alles, was er erwiderte. Und mit abermaligem Lachen brachte Francesca hierauf in Vorschlag, sie wollten sich nun auf den Weg machen, die „einfältigen Leute" anzusehen. „Wer sind denn ober die einfältigen Menschen?" fragte Viktor. „Verbrecher, die so dumm gewesen sind, sich ertappen und be strafen zu lassen, mein Cousin", erklärte sie. Nachdem sie das Drehkreuz passirt, traten sie in den Napoleon dedicirten Raum, für den Francesca viel Interesse zu hegen behauptete. Nachdem sie hier Alles in Augenschein genommen, gingen sie hinunter in die gewölbeartigen Kammern, in welchen die Bildnisse der Mörder zu finden waren. Und hier erwartete Francesca eine Enttäuschung. Die Ge stalt Marat's, wie er im Bade erdolcht worden, die Viktor kaum anzusehen vermochte, gefiel ihr sehr; die guillotinirten Köpfe interessirten sie in hohem Grade, und das Guillotinemesser und mehrere andere derartige Reliquien fesselten geraume Zeit ihre Aufmerksamkeit. Aber die Figuren selbst fanden durchaus nicht ihre Billigung. „Es ist solch' ordinäres, plumpes Pack", beschwert« sie sich, „so ganz unbedeutend! Es muß doch in England an Verbrechen betheiligte Leute mit hervorstechendem Aussehen gegeben haben! Und wenn nicht, dann hätten sie doch ein paar Ausländer, „malerische" Erscheinungen, hinzunehmen können, um die Collection interessant zu machen!" „Es sind ja aber schon viele Ausländer hier! Hör' doch die Namen — Schmerfeld, Koczula, Pierri, Pianovi, Müller, Orsini, LipskI, Kemmler, Gusteau, Pranzini —" „Willst Du damit wirklich sagen", rief sie mit einer Miene des Ekels, „daß sie selbst mit Einschluß von Polen, Russen, Fran zosen und Italienern keine besser gekleidete und besser aussehende Sammlung von Leuten zusammenbringen konnten? Es ist wirklich unbegreiflich! Warum ist Charlotte Corday, Ravaillac, Felton, Lady Rochester, Maria Stuart nicht da —" „Maria Stuart?" „Allerdings! Sie bat ihren Mann mit Schießpulver in die Luft sprengen lassen, nachdem sie ihm zuvor mit einem zärtlichen Kusse gute Nacht gewünscht halt»; und ein paar Tage darnach heirathete sie seinen Mörder. Nennst Du daS nicht verbreche risch? Und in der italienischen Geschichte haben wir mehrere herrliche Verbrecher." „Herrlich- Verbrecher!" wiederholte Viktor. „Ich verstehe nicht, wie man diese beiden Wörter verbinden kann!" „Mein lieber Viktor", entgegnete Francesca mit einem An klang schlecht verhaltener Ungeduld in der Stimme, „es giebt wohl überhaupt nicht viel, was Du verstehst! Vermuthlich darf ich aber doch wohl voraussetzen, daß Du Dir nicht einbildest, Jeder, der ein Menschenleben geraubt hat, wenn es ihm räthlich erschien und für seine Zwecke paßte, häßlich und gewöhnlich ausfah und in schlechten Kleidern einherging!? Sieh Dir doch diese Gesichter an! Sehen sie nicht alle abnorm häßlich und boshaft aus? Ich will mich mal neben eins derselben stellen, und dann wirst Du im Moment gewahren, wie gräßlich sie sind!" Und ehe er ihr Einhalt zu thun vermochte, war sie auf einen Sockel gesprungen, auf dem die kurze, gedrungene Figur einer jüngst Hingerichteten Mörderin in schäbigem Schwarz befestigt war, und lachte nun von oben herab in dem Dollbewußtsein des Gegensatzes, den ihre prächtige Schönheit zu dieser bilden würde. Viktor brach in Helles Gelächter aus. „Allons!" rief er. „Wir wollen uns einen Spaß machen. Oben sah ich, daß Diele den alten Herrn mit der Schnupftabaks dose und die kleine alte Dame und den Polizisten für wirkliche Menschen hielten. Bleib' ganz still sieben! Ich werde jetzt den alten Herrn mit der Brille, der da eben heraufkommt, fragen, ob er aus seinem Katalog ersehen kann, wer Du bist!" Ersichtlichermaßen durcheilte der in Rede stehende Herr mit seinen drei Enkeln, die sich an seinen Rockschössen festhielten, nur im Fluge die Schreckenskammer, in der Ueberzeugung, dass für das zarte Kindesalter dieser Theil der Ausstellung zu abschreckend sei. Er hatte den Kopf auf seinen Katalog gebeugt und befand sich noch in einiger Entfernung von Francesca, die nur mit Mühe das Lachen unterdrückte, als Viktor, nachdem er zuvor seinen eigenen Katalog weggesteckt, an Jenen herantrat und nach dem Namen der hohen Frauengestalt in der seidenen Gewandung fragte. „Sie scheint ganz neu und erst in allerjüngster Zeit der Sammlung eingereiht worden zu sein", erklärte er mit seinem prononcirten französischen Accent. „Würden Sie mir die Freundlichkeit erweisen, nach dem Namen zu suchen?" Der alte Herr blickte Viktor mit seinen gedankenvollen, träumerischen Augen durch die blauen Brillengläser an. „Mit Vergnügen, mein Herr", erwiderte er mit ausgesuchter Artigkeit. „Leider ist mein Gesicht nicht gut, und da» ist um so mehr zu brklaaen, al» ich mich sehr eingehend mit dem Studium der Physiognomik beschäftige. Da» Lesen der
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