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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.10.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-10-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001016022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900101602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900101602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-10
- Tag1900-10-16
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Amtsblatt des königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und Valizei-Ämtes -er Ltadt Leipzig. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 25 H. Reklamen unter dem RcdactionSstrich (»gespalten) 75 L,, vor den Familiennach» richten (6 gespalten) 50 H. Tabellarischer und Ziffrrnsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offerteaannahme L5 (excl. Porto). Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgeu-AuSgabe, ohne Postbesörderuug >ll 60.—, mit Postbesörderuug 70.—, Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Dir Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- Abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Dienstag den 16. October 1900. 94. Jahrgang. Die Wirren in China. Die Nate Telcaffö'S. Officiell wird aus Paris gemeldet, daß nunmehr auch Japan die Circularnote Delcassö's in zustimmendem Sinne beantwortet und nur bezüglich der Ausführung eines PuncteS Vorbehalte gemacht habe. Li-Hung-Tschang in Peking. An demselben Tage, an dem die Verbündeten das Unter nehmen gegen Paotingfu begannen, ist Li-Hung-Tschang in Peking cingetroffen, um dort die FriedenSverhandlungen ins Werk zu setzen. Er geht offenbar mit großer Zuversicht an die Arbeit. So wird aus Peking, 15. October, gemeldet: Li- Hung-Tschang traf hier ein. Er besuchte die britische und die amerikanische Legation officiell. Der amerikanische Gesandte Conger und die Generäle Chaffee und Wilson mit ihren Stäben empfingen ihn auf der amerikanischen Gesandtschaft. Li drückte sein Bedauern über die Vorkommnisse der letzten Zeit aus und dankte den Amerikanern für ihre gute Behandlung der Chinesen. Er würde in zwei Tagen um den Beginn der Verhandlungen bitten. Aunglu werde nicht als Bevollmächtigter fungiren. Li- Hung-Tschang wird auch die anderen Legationen besuchen und conferirt mit dem Prinzen Tsching. Die Tentschc» in Peking In Peking richten sich inzwischen die Verbündeten, soweit sie ihre fernere Mitwirkung an Wiederherstellung geordneter Verhältnisse in China nicht versagen, mehr und mehr für einen längeren Aufenthalt ein. Der nach China entsandte Special berichterstatter des „Berl. Loc.-Anz.", Hauptmann Dannhauer, berichtet über die fortschreitende Consolidirung der dortigen Zustände unterm 6. October: Gestern fand auf dem hiesigen Bahnhof die Uebergabe einer zehn Kilometer langen Bahnstrecke der Peking- Tientsin-Bahn statt, welche die jetzt abrückenden Russen besetzt hatten und renovirten. Die Uebergabe erfolgte an den Stabschef des deutschen Expeditions-Corps, Major von Glasenapp. Die nächsten zehn Kilometer haben die Eng länder in Arbeit, wiederum die nächsten die Japaner. Bon Aangtsun arbeiteten die R u s s e n ein bedeutendes Stück an der Bahn hierher entgegen. Man hofft, daß das dazwischen liegende unfertige Stück bis Anfang November von den deutschen Eisen bahn-Compagnien vollendet werden wird. In Peking bleibt jetzt nur eine Compagnie Russen zurück, welche die Gesandtschaft besetzt halten. Den 15 Kilometer entfernten Sommerpalast übernahmen die Engländer von den abziehenden Russen. Tie Unruhen im Süden. * Aus Hongkong, 15. October, meldet das „Reuter'sche Bureau: Eine aus 360 britisch-indischen Truppen mit einem Maxim-Geschütz und zwei Siebenpfündern bestehende Abtheilung wurde heute früh nach der Grenze von Kau lung abgesandt. Dieselbe soll bewaffnete Flüchtlinge, gleich viel ob Rebellen oder kaiserliche Truppen, am Betreten des briti schen Gebietes verhindern. — Nach der Niederwerfung beider Rebellenparteien, welche, wie es heißt, 3000 Mann einige dreißig Meilen nördlich von der britischen Grenze gesammelt hatten, sind 1000 Mann von Admiral Ho' s Truppen zu deren Verfol gung aufgebrochen. Ho verlangte 2000 Mann Verstärkung von Canton, und es heißt, eine Streitmacht von dieser Stärke mar- schire von Canton auf dem Landwege, um die Rebellen abzu fangen. Ho theilte dem Gouverneur von Hongkong mit, daß der Aufstand augenscheinlich sorgfältig vorbereitet worden sei, und daß Ausschreitungen und Plünderungen deshalb nicht vorkämcn, weil die Aufständischen planmäßig darauf hielten, e» mit den Landbewohnern und den Fremden nicht zu verderben. Der Aus stand ist weitverzweigt; aus mehreren Hauptorten der Provinzen Kwantung und Kwangsi werden Erhebungen ge meldet. Anscheinend haben die Anhänger Kangjuwu'S und Sunjatsens, sowie die Mitglieder des Geheimbunoes „S a n - hohwai" (Dreifaltigkeit) zum Sturze der Mandschu-Herrschaft in Südchina gemeinsame Sache gemacht. Weiter berichtet, wie uns der Draht aus London meldet, „Daily Chronicle" aus Hongkong: Vergangenen Sonn abend kam eS am Schlagbaum des Thores von Macao zu einem Zusammenstoß zwischen der portugiesischen Wach« und chinesischen Kulis. Ein Haufe Einge borener näherte sich gestern Nacht dem Wachthaus«. Das Alarmgeschütz wurde gelöst, die ganze bewaffnete Macht von Macao rückte aus, ein Kanonenboot setzte Mannschaften und Ge schütze an Land, das Freiwilligencorps trat zusammen, aber ein Angriff wurde nicht unternommen. Die Einwohner von Macao befinden sich in großer Aufregung. Die SchreckenSzeit in Peking. Der erste ausführliche Bericht über die Ereignisse in Peking, der in die Öffentlichkeit gelangt, stammt aus der Feder Ör. Morrison'-, des Berichterstatters der „Times". Er ist eine wenn auch im Anfang etwas tendenziöse Darstellung, so doch im Weiteren eine mit guten Gründen belegte Anklageschrift gegen die chinesische Regierung und bildet eine Art historischen Docu- ments über eine der merkwürdigsten Abschnitte der Weltgeschichte Wir geben ihn daher, trotz seiner Ausführlichkeit, im Wesentlichen unverkürzt wieder. Morrison schreibt: Der Ursprung der Boxer. Die Gründung der Boxergesellschast ist auf einen Mann, Nühsien, zurückzuführen, der, als er Präfect in Tsaotschau, in der Südwestecke von Schantung war, eine Anzahl Leute als OrtSmiliz oder Turnverein zusammenbrachte. Um ihnen einen Namen zu geben, rief er die alte Bezeichnung Jhotschuan, d. h. „Fäuste der patriotischen Eintracht", wieder mS Leben. Da sie nut langen Schwertern bewaffnet waren, nannte sie der LolkS- mund Tataohuei oder Gesellschaft vom Großen Messer. Nach der Besetzung der Bucht von Kiautschau (?) wuchs die Gesell schaft an Einfluß, und ihr ausgesprochener Zweck war jetzt, der Anmaßung der eingeborenen Katholiken entgegenzutreten und einem weiteren Vordringen der Deutschen (?) Widerstand zu leisten. So wurden die Boxer christenfeindlich und fremden feindlich; sie wuchsen sich zu einer religiösen Secte aus, unter zogen sich allerlei grotesken Hebungen und trieben angebliche Zauberkünste, die sie, wie sie behaupteten, gegen das Schwert und die Schußwaffe des weißen Mannes feiten. Ueberall verkündeten sie, sie würden die Fremden und ihre teuflische Religion aus China austreiben. Um den Einfluß dieser Gesellschaft zu stär ken, wurde ihr Gründer Aühsien im März 1899 vom Thron zum Gouverneur von Schantung ernannt. Damit war der Mann binnen vier Jahren von dem verhältnißmäßig bescheidenen Posten eines Präfecten zum Range des höchsten Provinzial beamten aufgerückt. Die Boxer nahmen an Macht so zu, daß sie allmählich eine Gefahr für Ordnung und Ruhe wurden und weite Gebiete der Provinz in Angst und Schrecken setzten. In dem Bezirk, wo der Bund entstanden war, geriethen die Boxer in Widerstreit mit den Behörden, der militärische Befehlshaber zog gegen sie zu Felde, tödtete 91 von ihnen und nahm Viele ge fangen. Das geschah im October des vergangenen Jahres. Aber diesen Versuch, die Gesellschaft, die er gegründet hatte, zu unter drücken, mißbilligte der Gouverneur; jener Officier wurde seines Commandos enthoben, der Bezirk-Vorsteher wurde degradirt und die gefangenen Boxer wurden in Freiheit gesetzt. Auanschlkai, der nach der Ermordung des englischen Missionars Brooks Gouverneur von Schantung würbe, erhielt zwar Befehl, die Boxer zu unterdrücken, zugleich aber wurde ihm verboten, Gewalt anzuwenden, und ihm bedeutet, daß es unter den Boxern patri otische und gute Männer gebe, die zu strafen nicht der Wunsch deS hohen Himmels sei. Tie Kaiserin und die Boxer. Don Schantung aus drangen die Boxer in die Nachbar provinz Tschili, die hauptstädtische Provinz, vor. In der Pekinger Zeitung veröffentlichte Erlasse erkannten die Boxer amtlich an. Die chinesische Regierung hat geheime Gesellschaften von jeher verboten, weil sie Brutstätten des Aufruhrs seien. Diese, eine christen- und fremdenfeindliche Gesellschaft jedoch, wurde als patriotisch in ihren Zwecken und regierungstreu in ihren Grund sätzen verhätschelt. Willkommener Weise traf übrigens ihr Auf treten in der hauptstädtischen Provinz zusammen mit einem Zu stande der Gärung, der bereits Sorge erregt hatte. Es war Hungersnoth im Lande und kein Regen war niedergc- gangen. Der Winterwcizen war ausgefallen, der Frühjahrs weizen konnte nicht gesäet werden und die große Mehrzahl der Aecker blieb unbestellt. Es entstand der Aberglaube, daß dieses Unglück dem Zorn des Himmels zuzuschreiben sei, der, wie man behauptete, sich darüber erbost, daß die Kaiserin dem Sohne des Himmels, dem rechtmäßigen Kaiser, alle Gewalt entrissen und sich selbst angemaßt habe. Das war die Stimmung, als die Boxer in Tschili eindrangen. Ihre Lehren verbreiteten sich wie ein Lauffeuer: „Die Fremden", so hieß es, „essen das Land auf; die Religion der Fremden hat auf China den Zorn des Himmels herabbeschworen; die verfluchten Eisenbahnen und Telegraphen der Fremden haben die guten Einflüsse von oben zerstört!" So wandelte sich der Unwille gegen die Kaiserin in Wuth gegen die Fremden und in Haß gegen ihre Religion. Auf schwere Be schuldigungen der Christen folgten offene Angriffe, und der Gipfelpunkt war ein Erlaß, der die Ausrottung der Fremden anbefahl. So wurde der kaiserliche Hof der Schützer einer Bewegung, die darauf ausging, die Fremden aus dem Lande zu fegen mit der Parole: „Die See zwischen ihnen und uns". Der Prinz von Tuan, der Vater des Thron folgers, wurde da- Haupt der Boxer; andere hervorragende Würdenträger, die mit ihnen gemeinsame Sache machten, waren der Herzog Lan, Tuan's jüngerer Bruder, Hsüiung, der Vormund deS Thronfolgers, Kangyi, der Erzfremden feind, und Tschaoschutschiao, der Vorsteher des Eisen bahn- und Bergbauamtes, eines Amtes, das gegründet war, um den Bau von Eisenbahnen und Bergwerken zu hindern, ferner LiPingheng, der auf Verlangen Deutschlands als Gouver neur von Schantung abgesetzt und dazu verurtheilt worden war, nie wieder ein Amt zu erhalten, aber nichtsdestoweniger zu einem anderen hohen Posten im Uangtsethal, in der britischen Inter essensphäre, befördert worden war. Als ich nach einer Ab wesenheit von acht Monaten (Morrison hatte eine Reise ins In nere gemacht) im April nach Peking zurückkehrte, fand ich allent halben Boxer, und die Missionare waren über den Gang der Dinge sehr beunruhigt. Junge Burschen wurden durch Lehrer, die aus Schantung gekommen, gedrillt und mit Schwertern und Messern bewaffnet. Messer waren schon um das Doppelte im Preise gestiegen und die Messerschmiede hielten reiche Ernte. In den Straßen wurden fremdenfeindliche Flugschriften verkauft und christliche Bediente wurden gewarnt, sie seien verfehmte Leute. Wer aber nicht Missionar war, sah auf die Bewegung verächtlich herab; es war eben kein Regen gefallen und man meinte, nach dem ersten Schauer werde die erste Erregung ver schwinden. Im Mai dauerte jedoch die Dürre an und die Auf regung wuchs. Es wurde verbreitet, acht Millionen Krieger würden vom Himmel herab st eigen und die Fremden vernichten; erst dann werde es regnen. Die Christen hätten die Götter beleidigt, indem sie die Religion des Teufels verehrten, deshalb hätte der Himmel den Regen zurückgehalten und Tausende müßten Hungers sterben. Um die Unwissenden noch mehr gegen die Fremden aufzubringen, wurde ausgestreut, die Fremden vergifteten die Brunnen. Dann begann der Kreuzzug gegen die eingeborenen Christen im Süden der Provinz. Sie, die Urmaotse oder „Teufe! zweiter Classe" sollten zuerst angegriffen werden, und wenn sie ausgerottet, sollten die Weißen an die Reihe kommen. Herzzerreißende Nachrichten über die Ermordung chinesischer Christen, die Einäscherung und Plünderung christlichen Eigen- thumS drangen aus der Provinz zu uns. Am 15. Mai berich teten die katholischen Väter und Msgr. Favier, die Christenver folgung sei die größte, die China seit dem Ausbruch in Sze- tschuan gesehen habe, und sie greife mit beängstigender Schnellig keit um sich. Flüchtlinge strömten in die Hauptstadt, und die Katholiken begannen, sich zu bewaffnen. Wo sie stark genug waren, verschanzten sie sich in den katholischen Dörfern und leisteten ihren Verfolgern bewaffneten Widerstand. Christliche Familien, die schutzlos auf dem Lande wohnten, ließen Alles im Stich und suchten Zuflucht in den katholischen Ortschaften bei Paotingfu oder in der Mutterkirche Pekings. Die Peitang, die große katholische Kathedrale Pekings, füllte sich schnell mit Flüchtlingen. Der Bischof drängte darauf, daß sofort fremde Schutzwachcn nach Peking gezogen werden möchten; das, so sagte er, werde weit wirksamer sein, als etwa die Beschießung eines Hafens. Im Jahre 1898, zur Zeit des Staatsstreiches, habe die Ankunft der Schutzwachen die sofortige Wiederherstel lung der Ruhe bewirkt. Die jetzige Bewegung ginge vom Volke aus und würde von der Regierung begünstigt; kämen Truppen nach Peking, so würde die Regierung die Bewegung alsbald unterdrücken, um „das Gesicht", die Würde Chinas zu retten, denn von der Demüthigung, daß fremde Soldaten erforderlich gewesen seien, um die Ordnung in der Hauptstadt aufrecht zu erhalten, wäre die ganze Welt Zeuge gewesen. Die Boxer seien nicht so recht christen feindlich als fremden feindlich; ihre Macht wüchse von Tag zu Tag, und bald würden die Europäer nicht mehr sicher sein. Es sei daher dringend nöthig, Schutzwachen herbeizurufen. Am 19. Mai ereigneten sich zwei Vorfälle von übler Vorbe deutung. Einem der medicinischen Lehrer an der Universität wurde bedeutet, daß er für 25 Tage Urlaub habe. Sein Weg führte ihn nämlich täglich durch die südliche Stadt, wo zahlreiche fremdenfeindliche Placate angeschlagen waren, und der ihm aus gedrungene Urlaub entsprang der Sorge um seine persönliche Sicherheit. Ein chinesischer Boy (Diener bei Fremden) wurde er tappt, als er etwas in einen Brunnen warf. Er wurde er griffen und erklärte, die Fremden hätten ihn gedungen, um die Brunnen zu vergiften. An demselben Nachmittage (19. Mai) kehrten zwei Missionare, die tapfer bis mitten in die Boxer gegend, bis Tschotschou und Lianghsiang zwischen Peking und Paotingfu vorgedrungen waren, in die Stadt zurück, und es war eine erregende Geschichte, die sie zu erzählen hatten. DaS Land wimmelte von Boxern. Zwei bekannte Lehrer der Londoner Missionsgesellschaft waren vom Pöbel ergriffen, vor die Boxer priester geschleppt und dort der Komödie eines Verhörs unter zogen worden. Nachdem die Boxerpriester ihre Sprüche her gesagt und Weihrauch verbrannt hatten, behaupteten sie, er leuchtet zu sein und nun den Willen des Himmels verkünden zu können. „Verfahret mit den Teufeln zweiter Classe wie Ihr wollt, deshalb wird Euch kein Leid widerfahren" lautete ihr den Pöbel beseligendes Orakel. Als dann die Lehrer sich weigerten, ihren Glauben abzuschwören, wurden sie in Stücke gehauen und Feuilleton. § Der Lundschuh. Roman von Woldemar Urban. Nachdruck vertotn:. VI. Etwas abseits vom allgemeinen Festtrubel und mehr unter halb der Giersburg, wo sich das Terrain ein wenig erhob und einen freien Ueberblick über die Stadt Rappoltsweiler mit ihrer Umgebung nach der Rheinebene hin gewährte, war das Herren zelt aufgerichtet, wo die Herrschaft, Herr Ulrich mit seiner Ge mahlin und Schwester, seinen Beamten und Vögten, die mit ihm Verbündeten Ritter und Herren den Walpertstag ebenfalls feierten. Das Herrenzelt sah lustig und bunt aus, mit Fahnen der Rappoltstein'schen Farben geschmückt. Vorn am reich bor- dirten, mit Teppichen und wehenden Tüchern verhangenen Ein gang prangte das Rappoltsteiner Wappen, drei silberne Schilder im rothrn Feld, am oberen Rande mit drei gekrönten Raben köpfen verziert. ES waren mehr als fünfzig Leute, Herren und Damen, in und um das Zelt versammelt, die theils in lustiger Schrrzrede, dem Becher tüchtig zusprechend, da- Wakpertsfest feierten, theils im ernsten Gespräch, wie es die drohenden Zeichen der Zeit erheischten, beisammensaßcn. Da war neben dem noch jungen, etwa fllnfunddreißigjährigen Regenten von Rappoltstein, Herrn Ulrich, seine schöne und geistreiche Gemahlin Anna Alexan drina, geborene Gräfin von Fürstenberg, mit seiner Schwester Edelinde, einer stolzen, schwarzhaarigen, imposanten Schönheit von etwa zwanzig Jahren» ferner di« Vögte der Aemter Leberthal, Hohnack, Weier im Thal, Rappoltsweiler, Bergheim, Zeltenberg im Ried, Gemar und Heiternheim, di« sämmtlich zur Herrschaft Rappoltstein gehörten, ferner der Abt von PairiS, Heinrich von Nördlingen, die Ritter Hieronymus von Mundolzheim, Haman von Ravenstein, Wolf von Barkbeim, Gilg Lobgaß, der Vogt von Kaysersberg und Andere. Auch der Pfnferkönig Bartholomäus Hilmar oder Laufbartel, auch scherz weise der Diplomaticus vom Rappoltstein genannt, war zugegen. Er war wegen seiner mynteren Laune und seiner spaßhaften Ein fälle und Vorträge vom Herrn Ulrich von Rappoltstein wohl gelitten, und wo immer das runde, etwas sehr rosig angehaucht« Glatzköpfchrn Laaifbartels durchleuchtet«, da erscholl auch alsbald frohes Gelächter. Dabei war Hinkmar ein gebildeter, weit gereister Mann. Man sagte sogar, er habe in seiner Jugend in Padua studirt, und zwar Rechtswissenschaft, wenn auch, wie Andere behaupteten, nicht mit besonderem Erfolge. Aber Hink mar hatt«t jedenfalls einen gesunden Verstand und Mutterwitz, und Alle waren überzeugt, daß er ein« ganz ander« Carrisre hätte machen können, daß er vielleicht gar Magister an irgend einem Gerichtshof, oder doch Stadtschreiber oder AehnlicheS hätte sein können, wenn er nicht einen so stets regen und unbändigen Durst gehabt hätte. Dieser Durst, so treuergebrn und zuverlässig Laufbartel sich auch sonst stets erwiesen, hatte ihm im Leben schon manchen bösen Streich gespielt, und für «in verantwortungsvolle!, ernstes Amt wenig empfchlenSwerth gemacht. So wurde er vom Herrn Ulrich als Statthalter seines PfeiferkönigthumS bestellt und hatte als solcher di« rtwaL unsichere Gilde der Pfeifer und Spielleute in Ordnung zu halten, die Beiträge einzufordern, HauSzuhalten und die Angelegenheiten der Gilde zu besorgen. Laufbartel ging im Zelt auf und ab und sah rasch nach den Bechern und Pokalen. Wo er «inen leeren bemerkte, ging er sofort >danrit weg, um ihn neuerding» zu füllen, und jede» Mal, wenn er aus dieser Wanderung vor dem riesigen Humpen de» Herrn Ulrich vorüberkam, dem berühmten, auS gediegenem Silber von Markirch getriebenen Pokal der RappoltSsteiner *) machte er, zärtlich seufzend, eine Verbeugung. Am oberen Ende der Tafel saß, neben ihrem Bruder Ulrich, Fräulein Edelinde von RappoltS- stein, mben ihr d«r junge Diepold von Andlau, ihr Bräutigam. „DaS ist ab«r gewiß nicht wahr, Diepold", hörte Hinkmar schmollend sagen, „Du willst mich belügen." „So wahr ich hier sitze", betheuerte dieser heftig, „ich war dabei." „Ach, ich kann's nicht glauben", rief dann Edelinde wieder und wandte sich lächelnd an den Pfeifevkönig. „Komm her, Barthel, und höre, war mir Diepold für Märchen aufbinden will Ist daS möglich? Er erzählt, daß man vor Kurzem im Kloster von Andlau einen Menschenschädel mit einer zwei Finger dicken Hirnschale gefunden habe." „Warum nicht, Gestrengt?" erwiderte Barthel lächelnd, „im Elsaß tpäre da» kein Wunder." „Ich war dabei, ich hab'- gesehen", betheuerte Diepold wieder, während schon all« Umsitzendrn breit und behaglich über die Ant- wort BarthSl'S lachten. „Du kennst unser« Bauern noch nicht, Liebe", bemerkte nun *) Jetzt noch in München zu sehen. Er ist drei Fuß hoch und fünfundzwanzig Pfund schwer. auch Herr Ulrich lächelnd, als plötzlich am Eingänge deS Zeltes ein rascher Wortwechsel und schnelles Hin- und Herlaufen ent stand. „Hinain!" schrien draußen vor dem Zelte laute Stimmen ziemlich respektlos. „Wir wollen's von ihm selber hören. Wir dulden kein fremdes Kriegsvolk in der Stadt. Nein! Mr leiden es nicht." „ES ist ein Jrrthum, muß ein Jrrthum sein", klang die volle, kräftige Stimme des Herrn Richbert dazwischen, „laßt mich mit unserem Herrn reden, Mitbürger, und verhaltet Euch so lang« ruhig, wie eS sich geziemt." „Ei was, es ziemt sich, Lärm zu machen in solcher Zeit", spectakelte wieder ein Anderer, als Herr Richbert im Eingänge deS Zeltes erschien. „Dort ist der Herr", sagt« einer der Wachthabenden zu ihnen, „sprecht mit ihm." Herr Ulrich stand sofort auf. „Was giebt's, Meister Richbert?" fragte er. Der Tumult draußen dauerte fort und schien noch immer zu wachsen, so daß man im Zelt kaum sein eigenes Wort verstand. „Euer Gnaden werden verzeihen", begann Meister Richbert ruhig und klar, „wenn ich mir erlaube, zur Beruhigung der Leute eine Frage an Euch zu richten." „Wal wollt Ihr?" „ES ist in der Stadt ein Gerücht entstanden, daß Euer ge strenger Herr Vater, der kaiserliche Landvogt Herr Wilhelm von Rappoltstein, mit fünfzehnhundert Roitern im Anzuge sei, um sie nach Rappoltsweiler herein zu werfen", fuhr Meister Rich bert fort. „Das ist nicht wahr", fuhr Herr Ulrich rasch auf, „wie ich sicher w«,ß. Ich gebe mein Ritterwort, daß der kaiserliche Land- vogt ruhig in Eusi-Heim sitzt und nicht daran denkt, sein« getreue Stadt Rappoltsweiler mit fremdem Kriegsvolk zu überziehen. Da» Gerücht ist die Ausstreuung bötwilliger Leute, die Unfrieden säen und Unheil stiften wollen. Wie kam da» Gerücht aus? Wer bracht'«» auf?" "Astsknger Herr", erwiderte Richbert bescheiden, „ich weiß es nicht, ich sah nur, wie sehr e» die Bürger erregte " "Forscht danach und bringt mir den Mann, der e» aufge bracht", befahl Herr Ulrich. Dann fuhr er streng und drohend fort: „Ich woitz wohl, daß e» in unserer guten Stadt Rappoltl- weiler «ine Menge unruhiger Köpfe giebt, denen nicht wohl ist, Frieden zu halten, und dir im Trüben fischen wollen. ES sind schon andere Gerüchte aufgetaucht, die die Unruhe und Unfrieden der Bürger bezwecken und Aufruhr und Zerstörung in unsere Stadt tragen sollen. Sie sind, wie dieses, erfunden und er logen und strenge will ich die Urheber bestrafen, wenn man sie vor mich bringt." Der Tumult vor dem Zelt wurde immer lauter und frecher. „Laßt mich hinaus, gestrenger Herr", erwiderte Meister Richbert, „und sie unterrichten, wie Unrecht sic thun. Es soll Alles ge schehen, um die Schuldigen zu finden und vor Euch zu stillen." „Geht mit Gott, Meister Richbert", erwiderte Herr Ulrich, aber als dieser sich schon zum Gehen wandte, rief ihn Ulrich noch mals zurück und fuhr fort: „Wie war denn das, Meister Richbert? Man hat mir be richtet, daß ein landfahrender Strolch sich an Eurem Töchterchen vergriffen. Wie steht das? Hoffentlich ist ihr kein Unglück widerfahren und der Mann geht seiner Bestrafung entgegen." „Es ist ein junger Musikant, gestrenger Herr. Aus meiner Tochter ist nichts herauszubringen. Sie weint und weint, hängt sich mir an den Hals und klagt, wie großes Unrecht ihr und dem Spielmann geschehen sei." „Sie kennt die Welt nicht und weiß Wohl nicht, um waS eS sich handelt. Er hat sie bethört. Hoffentlich verfährt man mit ihm etwas nachdrücklicher." „Er ist im Thurm. Junker von Hohnack hat ihn verhört." „So? Der Junker von Hohnack? Es ist gut. Ich werde mich über die Sache erkundigen, und wenn ich finde, daß Eurer Tochter Umecht geschehen ist, so soll der Mann es schwer büßen. Jetzt lebt wohl, Meister Richbert." Damit verließ dieser das Zelt, um die aufgebrachten Leut» draußen zu beschwichtigen. Das ging aber offenbar nicht so rasch, wie Meister Richbert und wohl auch Herr Ulrich gemeint hatten. Zwar entfernte der Lärm sich weiter vom Zelt, aber es schien nicht, als ob er sich vermindere. Indessen schien für den Augenblick die Sache im Hecrenzelt erledigt und Herr Ulrich fragte nach dem Junker von Hohnack, der nach einer Weile auch in aller Eile herbeigelaufen kam. Hier trat der Junker schon etwas ander» auf, äl» in der Thorwach« vor dem armen, gefesselten Veit. Barhäuptig, mit einer tiefen Verbeugung und einem süßlichen Lächeln auf den Lippen, trat er vor seinen Herrn hin und fragte nach deffen Begehr. „Setzt Euch, Junker", redete Herr Ulrich zu ihm, „und be richtet mir über den Landstreicher, den Ihr verhört habt, und der sich an Meister Richbert'» Töchterlein vergangen hat. Was hat's gegeben?" „Gestrenger Herr", begann der Junker gesinnungttüchtig und mit heuchlerischer Moral, „Zucht und Sitte fanden von jeher
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