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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.11.1900
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-11-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001105013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900110501
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900110501
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Montag den November 1900. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 25 Necla men unter dem Redactionsstrich (»gespalten) 75 H, vor den Familiennach- richten (6 gespalten) 50 L,. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertrnannahme 25 H (excl. Porto). Extra Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Au-gabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz iu Leipzig. 81. Jahrgang. Aus Eduard von Simson's Leben. * Wir haben die „Erinnerungen aus seinem Leben", zu sammengestellt von B. v. Simson und erschienen bei S. Hirzel in Leipzig, schon erwähnt. Nachstehend geben wir einen Ab schnitt aus dem Buche wieder, und zwar jenen, der die An fänge der Theilnahme des Königsberger Professors und späteren Reichstags- und Reichsgerichtspräsidenten Eduard von Simson am Parlamente behandelt. Noch ehe die Revolution in Berlin ausbrach, beschloß die Königsberger Stadtverordneten-VersaMmlung, eine Petition an den König um Bolksvertretung, Preßfreiheit und deutsches Parlament. Am 11. April 1848 erschien die königliche Verordnung über die Vornahme der Wahlen zur deutschen Nationalversamm lung in Frankfurt a. M., nachdem die durch den Vereinigten Landtag bereits vollzogenen Wahlen aufgehoben waren. An dem nämlichen Tage war auf Antrag Preußens die Provinz Preußen (Ost- und Westpreußen) in den Deutschen Bund aus genommen worden. Die Wahl der Wahlmänner war auf den 1., die der Abgeordneten auf den 10. Mai festgesetzt. In Königs berg wurde die königliche Verordnung erst einige Tage nach ihrem Erscheinen bekannt. Nur wenige Wochen blieben, um die Wahl vorzubereiten. Ueber die Aufgabe des Parlaments, die Fragen, zu deren Lösung es berufen war, die Grenzen seiner Machtbefugniß herrschte hier dieselbe Unsicherheit, wie ander wärts. Die Erörterungen in der Presse drehten sich im Wesent lichen um das Princip der Volkssouveränität. Der Kampf zwischen monarchischen und republikanischen Sympathien fand in ihr seinen Widerhall; bei schwankender und wechselnder Stimmung schienen im Allgemeinen die letzteren die Oberhand zu behalten. In diese verworrenen Kämpfe traten am 22. April der Magistrat und die Stadtverordneten-Dersammlung mit einer einstimmig angenommenen und von sämmtlichen Mitgliedern unterzeichneten Erklärung, welche sich über die Bedeutung des Parlaments aussprach und betonte, daß diesem nur die Ent werfung der deutschen Verfassung zustehe, die dann erst von den einzelnen souveränen Staaten angenommen werden müsse. Da diese Declaration in der Königsberger Presse meist kurzweg als „Simson's Erklärung" bezeichnet wird, mag sie von ihn beantragt worden sein. Er vcrtheidigtc sie un^er lebhaftem Bei fall in einer Wahlversammlung gegen die Angriffe des radi kalen TheileS der Bürgerschaft, welcher für das vom Volke zu erwählende Parlament unbedingte, von dem Willen der Fürsten völlig unabhängige Souveränität in Anspruch nahm, und wurde darauf zum Wahlmann gewählt. Die Personenfragc war neben diesen principiellen Erörte rungen offenbar in den Hintergrund geinten, wohl um so mehr, weil die demokratische Partei mit Sicherheit erwartete, Johann Jacoby, der auch am Vorparlament theilgenommcn hatte und im Fünfziger-Ausschutz saß, als den Erkorenen hervorgehen zu sehen. Die gemäßigten Liberalen stellten zuletzt Simson auf, der mit einer Mehrheit von vier Stimmen über Jacoby siegte. Durch diesen Ausgang schwer enttäuscht, beschlossen Jacoby's Anhänger, ihm eine Ergebenheitsadresse zu überreichen. Auch einer von Simson's Brüdern, Georg, damals Ober landesgerichtsassessor in Preußisch-Stargard, wurde dort in das deutsche Parlament gewählt und stimmte in Frankfurt in den Hauptfragen mit ihm überein, obschon er sich einer anderen Fraktion, die unter Führung des Generals v. Radowitz die äußerste Rechte der Versammlung bildete, anschloß. Am Nachmittag des 18. Mai 1848 versammelten sich die in Frankfurt eingetroffenen Abgeordneten im Kaisersaal des Römers. Von dort begaben sie sich, unter dem Geläut der Glocken, dem Donner der Geschütze und lauten Hochrufen des Volkes, nach der PaulSkirche. Simson betrat sie an der Seite des Verlagebuchhändlers Moritz Veit aus Berlin, eines treff lichen ManneS von milder Weisheit, der sich auch als Schrift steller und Dichter bekannt gemacht hat, und mit dem er stets herzlich befreundet blieb. Den Vorsitz als Alterspräsident über nahm Lang aus Verden, der als Leiter der verhältnißmäßig kleinen hannoverschen Ständeversammlung viel Anerkennung ge funden hatte. Diese erste Versammlung in der PaulSkirche war jedoch überaus stürmisch — man hat sie mit einem polnischen Reichstage verglichen — und der ehrwürdige Alterspräsident seiner Aufgabe nicht gewachsen; selbst auf sein Wort hörten die lebhaft Streitenden nicht. Unermeßlichen Jubel und tiefe Rührung erregte der greise Arndt, als er sich in der zweiten Sitzung der Versammlung mit den schönen Worten vorstellte: „Was der Einzelne verdient und gewirkt, ist eine Kleinigkeit; er geht in der Million der Ge danken und der Gefühle, in der geistigen Entwickelung eines großen Volkes so mit, wie ein kleines Tröpfchen im Ocean. Daß ich hier stehe, ein Greis, jenseits der Grenze, wo man wirken kann, war daS Gefühl, als ich erschien — gleichsam wie ein gutes altes deutsches Gewissen, besser ick mir Gewußt bin." Simson war bis zu Lhränen davon ergriffen; „ich habe geweint wie ein Kind", erzählte er. Bei Weitem nicht den gleichen Ein druck machte auf ihn der alte Turnvater Jahn, der, unmittel bar darauf in seiner auffallenden Tracht auftretend, den Vor schlag machte, man möge Arndt bitten, zu seinem Liede „Was ist des Deutschen Vaterland?" jetzt eine neue Strophe hinzu zu dichten. Bei den Vorberathungen über die Präsidentenwahl hörte Simson den Abgeordneten Dahlmann mit Wärme und Be geisterung für die Wahl Heinrich's von Gagern sprechen, der damals Ministerpräsident in Darmstadt war. Mit guten Hoff nungen gingen die Gleichgesinnten am nächsten Morgen in die PaulSkirche, und in der That ging Gagern's Name aus der Urne hervor. Lang verkündete dies Ergebniß mit dem Zusätze, der Erwählte befinde sich anscheinend nicht in der Versammlung. Allein Stimmen Anderer, die Gagern bereits kannten, bedeuteten Lang, Jener sei da und stehe hinter ihm, an seiner linken Schulter. Auf diesen Ruf sah Simson den hervorragenden Mann zum ersten Male und vergaß den Eindruck seiner überaus stattlichen, edlen Erscheinung, und seines Auf tretens in dieser Sitzung niemals. „Kaum hatte Gagern den Präsidentenstuhl eingenommen", erzählte er, „so waren schon allein durch seine Ansprache die tumultuarischen Scenen des vorigen Tages beseitigt; es wär, als wenn ein des Fahrens Kundiger am Boden schleifende Zügel ergriffen hätte". Ebenso lebhaft im Gedächtniß blieb ihm Gagern's Verhalten an dem Tage, an welchem der Einbruch des Pöbels in die PaulSkirche verübt wurde. Er hatte volle Gelegenheit, die imposante Ruhe zu bewundern, mit der Gagern, als ein Theil der Mitglieder der Versammlung sich erhob, um den Eindringenden entgegenzu treten, Jene durch den Zuruf beschwichtigte: „Ich bitte wieder holt, kein Abgeordneter möge seinen Platz verlassen; eS wird die Ordnung draußen schon erhalten werden, überlassen wir das den Behörden!" Die Sitzung wurde denn auch inmitten des beginnenden Barrikadenbaues wie gewöhnlich zu Ende geführt. Zum ersten Vicepräsidenten wurde Alexander von Soiron, der frühere Vorsitzende des Fünfziger-Ausschusses, gewählt, ein Mann, dessen kerngesunder Verstand stets gerühmt worden ist. Georg v. Vincke hat ihn im Erfurter Parlament den „Vertreter des gesunden Menschenverstandes" genannt. Aber er hatte durch seine maßvolle Haltung, welche von den Radicalen als Gesinnungsabfall betrachtet wurde, sich deren besonderen Haß zugezogen, und so kam es, daß in den Fällen, wo er Gagern vertrat, die Versammlung oft in außerordentliche Unruhe gericth. In den Parlamentscaricaiuren wurde er als Laubfrosch dar gestellt, der Sturm anzeigt. — Der zweite Vicepräsident, Herr von Andrian, verdankte seine Wahl vornehmlich der Courtoisie gegen Oesterreich. Ein Reim, den man auf die drei Präsidenten machte und welchen später Frau Simson in einem Briefe nach Hause mit theilte, versuchte sic in einem bildlichen Vergleich, zum Theil ein wenig malitiös, zu charakterisiren: Der Erste klar und rein Wie echter deutscher Wein; Der Zweite dünkt mich schier Wie starkes dickes Bier; Der Dritte ach! wie fad Wie warme Limonad! Durch das Loos kam Simson in die sechste Abthcilung der Versammlung, zu der u. A. Dahlmann und Fürst Lichnowski gehörten. Er wurde Schriftführer der Abtheilung. Wie es da bei zuging, rief ihm später einer seiner damaligen Genossen, der Kreisgerichtsrath a. D. Metzle in Sagan, in einem Briefe vom 26. April 1879 in Erinnerung: „Am 19ten Mai 1848 versammelte sich im Sarasin'schen Saale zu Frankfurt a. M. die Abtheilung 6 der deutschen National-Versammlung zu ihrer Constituirung. Als ich dort ankam, fand ich nur den Fürsten Lichnowski und den Lloyd- Präsidenten Bruck anwesend. Wir besprachen die vorzuneh- mcnden Wahlen, ich schlug Sie für dos Amt des Schrift führers vor, die Beiden stimmten bei, und so machten wir Ihre Erwählung. Daß Sie nach Schluß der Verhandlung sofort das Protokoll verlasen, imponirte, besonders den Oesterreichern in der Abtheilung." „Das war die erste Stufe auf Ihrer parlamentarischen Leiter) und so habe ich vielleicht einen, wenn auch nur ganz kleinen Theil an Ihren Verdiensten um Deutschland, jedenfalls aber ein Recht, Ihrer in alter Treue zu gedenken." Die Zugehörigkeit zu derselben Abtheilung brachte Simson in «in zunehmend vertrautes Verhältniß zu Dahlmann, nament lich seitdem er bei einer Streitfrage, nach Dahlmann's Ausdruck, bewiesen hatte, „daß es ihm an der nöthigen Herzenshärtigkeit nicht fehle". Dahlmann erklärte ihm darauf bei «inrm Spazier gange, von nun an seien sie Freunde. Am 31. Mai 1848 wurde Simson zum Sekretär, d. h. zn einem der Schriftführer der Versammlung gewählt. Er war das einzige preußische Mitglied, welches in den Gesammtvorstand kam, obwohl ein sehr großer Theil dcr Abgeordneten aus Preußen bestand. Wegen seines überall hin deutlich vernehm baren Organs, seiner dialectfreien Aussprache und klaren Be tonung hörte die Versammlung vorzugsweise gern von ihn: Schriftstücke verlesen und verlangte bisweilen ausdrücklich nach ihm, wenn einer der anderen Sekretäre nicht deutlich genug las, so daß man ihn auch wohl den „Reichsvorleser" nannte, wie anderen Mitgliedern ähnliche Scherznamen beigelegt wurden. Feuilletsn. Eine jüngstdenlsche Literaturgeschichte. Unter der Aegide von Paul Sch lenther erscheint ein um fassendes Werk: Das neunizehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwickelung und der dritte Band dieses Werkes enthält ein Werk des Berliner Docenten Richard Moses Meyer: Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. (Berlin, Georg Bondi, 1900.) Wir wollen hier nicht den Gesammttitel be sprechen, der wohl viel ungezwungener und in besserem Deutsch lauten würde: „Deutschlands Entwickelung im neunzehnten Jahrhundert",wir wollen nur den vorliegenden Band ins Auge fassen, welcher die neuere deutsche Literatur darstellt. Richard M. Meyer gehört, wie Schlenther, Erich Schmidt, Brahms, Eugen Wolff, zur Schule Wilhelm Scherer's und hat auch die Poetik des verstorbenen Meisters herausgegeben, die nicht nur ein Torso geblieben, sondern auch ein bedauerlich verfehltes Werk ist. Auf die neuere deutsche Literaturgeschichte haben diese Jünger Scherer's Beschlag gelegt; da sie meistens an gesehene Stellungen haben, als Universitätsdocenten oder al» die Leiter erster Bühnen, so nehmen sie für sich ein Regal in Anspruch, daS Münzrecht des'literarischen Ruhms, und setzen ästhetische Münzen in Umlauf, die zuletzt in immer weiteren Kreisen Curs gewinnen. Solche Urtheile erben sich dann von einer Literaturgeschichte in die andere fort; eS sind „Berühmt heiten für Literaturgeschichten" geschaffen, um einen Aus druck Richard Meyer's zu gebrauchen, der gerade mit Bezug hierauf sehr schöpferisch ist. Zuletzt kommt aber alles auf Einseitigkeit und Parteilichkeit hinaus; es fehlt die unbefangen abwägende Gerechtigkeit, und zuletzt wird von werthvollen literarischen Erscheinungen kaum noch Notiz gcnommen, wenn sie außerhalb des abgesteckten Fahrwassers liegen. Und einseitig ist Richard Meyer's Literaturgeschichte in hohem Maße, einseitiger als diejenige von Eugen Wolff, welcher denselben Zeitraum behandelt, von demselben Standpunct« auS, aber maßvoller und kritischer. Meyer hat sein Werk nach De kaden eingetheilt, eine Eintheilung von fraglichem Werth. Jede» Jahrzehnt hat doch nicht seine besondere Physiognomie, und wo eS die Charakteristik der einzelnen Schriftsteller gilt, da muß diese Eintheilung stets durchbrochen werden. Grill- parzer'S Werke, wenn man die spätesten Werke dazu nimmt, gehen durch eine lange Reih« von Jahrzehnten hindurch, ebenso diejenigen Gutzkow'S und anderer namhafter Autoren. Ob sie nun der ihrem ersten Auftreten oder bei ihren späteren wichtigsten Leistungen oder in ihrer letzten LebenSepoche von dem Literarhistoriker aufgefangen und einrubricirt werden, daS ist ganz in sein Belieben gestellt. So ist die Eintheilung in De kaden ein leerer Schematismus; es gab im ganzen Jahrhundert nur zwei bis drei Jahrzehnte, die eine bestimmte Physiognomie zur Schau tragen. Die Einseitigkeit Meyer's tritt indeß ge rade darin hervor, daß er den beiden letzten Jahrzehnten eine unverhältnißmäßig eingehend« Behandlung widmet. Nicht bloS die gegenwärtig viel genannten Schriftsteller werden aufs Aus führlichste gewürdigt, waS ja ganz in der Ordnung wäre, auch die grünsten Anfänger werden in die Literaturgeschichte ein geschmuggelt — und man könnte die» wohlwollende Patronat ja freundlich hinnehmen, wenn e» sich nicht auf Unkosten anderer namhafter Dichter geltend machte, die früheren Jahrzehnten angehören. Ja, wenn man dem Autor eine große Belesen heit nachrühmt, so kann sich daS nur auf die jüngsten Autoren beziehen, dir durch Leihbibliotheken, Sortiments-Buchhandlungen und auch durch die Theater allgemein zugänglich sind. Die vorauSgehenden Jahrzehnte erfordern eine Quellenforschung, die in mancher Hinsicht schwieriger ist, als diejenige der alten germanistischen Literatur, für welche ja die Universitätsbiblio theken, Klosterbibliotheken u. a. m. stets .zur Verfügung stehen des Material liefern. Und mit Bezug auf die früheren, auch noch die mittleren Epochen unseres Jahrhunderts, müssen wir Meyer den Vorwurf der größten Oberflächlichkeit machen, die mit der Unkenntniß zahlreicher Dichtwerke zusammenhängt, auch solcher, welche zu ihrer Zeit viel besprochen wurden und größeres Aufsehen erregten, als die ausführlich erörterten Schriften jüngstdeutscher Autoren. Ja das ganze Werk geht auf eine Verherrlichung der letzteren hinauss es scheint blos deshalb geschrieben und veröffentlicht zu sein; es ist in Wahr heit eine jüngstdeutsche Literaturgeschichte: Das zwanzigste Jahrhundert, sogt er, wird vielleicht die Jahre von 1881 bis 1889, von Nietzsche'- „Morgenröthe" bis zu Hauptmann's „Sonnenaufgang", mit allem jenen Zauber umkleidet sehen, mit dem glückliche Erben die harten Eröffnungsthaten ihrer Ahnen und Reichsgriinder zu umkleiden lieben. Ein neues Reich ist also in der Literatur begründet, die Hauptmann, Lilienkron, Dehmel und Mombert müssen als die ersten poetischen Reichs kanzler betrgchtet werden. Darum die Bevorzugung der letzten beiden Jahrzehnte; es sind ja die ersten eines neuen Weltjahrs der Poesie, klauckit« postari! Wir glauben indeß, daß man nach einigen Jahrzehnten von diesen Reichsgründern wenig wird wissen wollen, wie von diesem Reiche selber. WaS den Jüngsten für rückständig, abgethan, überwunden gilt, das hat zum Theil eine Lebenskraft, di« ihre nervös-zapplige Poesie bei weitem überleben wird; die echten Talent« dieser Schul« werden aber in andere Bahnen einlenkrn, wie eS zum Theil schon geschehen ist. Meyer ist rin geistvoller Causeur, doch er giebt mehr ein zelne, oft treffende, oft schielende kritische Bemerkungen, als zu sammenhängende Charakterbilder. Und dabei ist er ungleich in seiner BehandlungSweise; bisweilen wie bei Keller, geht er in ein Detail deS StylS ein, das kaum für einen Essayisten, höchstens für einen Philologen der Zukunft zulässig wäre; dann wieder huscht er über hervorragende Dichtungen flüchtig hinweg und hält eS nicht für nöthig, die Geschmacklosigkeiten und Unge heuerlichkeiten der neuesten Lyriker, die geradezu demjenigen ent sprechen, was Platen die gestotterte Phrase der Unkunst nennt, auch nur mit einem Worte zu rügen; so sucht er nach einem besonderen Tiefsinn, wo unbefangene Leser den Eindruck des Abgeschmackten und Lächerlichen erhalten. Wenn wir in MeyerS Werk daS Gelungene herau-heben wollten, so sind «S vorzugsweise die Charakterbilder von Jean Paul, den er mit Recht höher stellt, als viele Literaturgeschicht schreiber, wie Grillparzer, wie Heine, wie Feuerbach. Der Keller stört daS Uebermaß der Anerkennung, da» ja bei allen Jüngern der Scherer 'schen Schule zu finden ist, auch bei Eugen Wolff und bei Brahm», der «ine Monographie über Keller ge schrieben hat. Ein liebenswürdiger Erzähler, dem ein paar schöne Gedichte gelungen sind, wird uns jetzt al» Tlassiker, öl führender Geist der Nation, die Jahrzehnte hindurch wenig von ihm wissen wollte, proclamirt, ja Meyer sagt, mit dem jüngst deutschen Schwulst, der ihm bisweilen zu Gebote steht, von Keller» Tod: „Sanft träumte sich am 18. Juli 1890 der größte Dichter, den Deutschland seit Goethe besaß, in die stumme Un endlichkeit hinüber." Er fügt zwar noch einige Einschränkungen hinzu; aber die Umwerthung der literarischen Werth«, die in dieser Schule geprägt werden, wird gewiß nicht lange auf sich warten lassen, und dann werden Keller und die anderen soge nannten großen Realisten wieder den bescheiveneren Platz in der Rangordnung unserer Dichter einnehmen. der ihnen zukommt. In den letzten Jahrzehnten sind es besonders einige Damen, Venen der galante Literarhistoriker die Pforten der Unsterblichkeik sperrangelweit öffnet und sie dort an seinem Arme einführt: „Immer herein, meine Damen, Europa und die anderen Welt- thcile haben nicht Ihresgleichen!" Eine gewisse Neigung zurUeber- schwänglichkeit ist bei Meyer leicht zu erkennen, er lobt überhaupt gern und mit Behagen, ein grämlicher Kritiker ist er nicht. Doch flicht er in sein Lob oft einen dasselbe fast überschattenden Tadel ein. Mehr als parteiische Kritik sind in dem Werke Meyer's die Unterlassungssünden zu rügen. Was erfahren wir von Ernst Raupach, der fast zwei Jahrzehnte hindurch ein Beherrscher der deutschen Bühne war, einer der fruchtbarsten deutschen Schriftsteller. Er wird in dem Abschnitt 1830—40 mit einer ein zigen Zeile abgefertigt. Heißt das Literaturgeschichte schreiben? Nicht um die Ansicht des Geschichtsschreibers handelt es sich; er mag von Raupach's Talent nichts halten, aber er darf die Tat sachen nicht verschweigen. Ein Schriftsteller, der eine solche Vorherrschaft ausgeübt, den zu stürzen die Jungdeutschen einen ernsten Anlauf nehmen mußten, verdient eine eingehende Charak teristik. Und sein Talent war nicht so gering zu achten, daß er mit einer Handbewegung aus dem literarischen Pantheon hinausgewiesen werden durfte. Hat doch ein Schriftsteller wie Börne einem Raupach'schen Drama, „Isidor und Olga", eine, wenn auch scharfe, doch Vieles anerkennende Kritik gewidmet. Ueber Raupach eine Zeile und über Mombert eine halbe Seite — das ist bezeichnend für eine nur auf die Apotheose der Jüngsten ausgehende Literaturgeschichte. Was erfahren wir von de: Schicksalstragödie? Einige allgemeine Redensarten, Werner und Müllner werden nur gestreift, Houwald gar nicht erwähnt. Di großen Dramen Werner's verdienen eine eingehende Analyse, auch Müllner eine scharfe Charakteristik, für welche er genug frappante Seiten darbot. Darauf kommt es nicht an, was Herr Meyer, oder überhaupt wir Alle um das Jahr 1900 von der Schicksalstragödie halten: das mag er in seine Beurtheilunz einfließen lassen; aber die Geschichte verlangt ein Bild jener Zeit, der damals tonangebenden Richtung und ihrer Schöpfungen. Ebenso kärglich ist das Bild, das uns von der politischen Lyrik der vierziger Jahre entworfen wird. Ein so vielseitiger Dichter und Schriftsteller wie Robert Prutz wird mit fünf Zeilen abgefertigt: „ein trefflicher, überzeugungstreuer Mann, der in seinen Werken Hoffmann von Fallersleben, in seiner zum Theil glänzenden aristophanischen Komödie: „Die politischeWochenstube",Platen folgte"—das istAlles. Wo bleiben die damals so vielbesprochenen Dramen von Prutz, sein „Moritz von Sachsen", wo seine Romane, die doch weit höheren Werth haben, al» manche» neueste Erzeugniß, welchem Richard Meyer eine spaltenlange Beachtung widmet. Noch dazu ist es ganz falsch, daß Prutz in seiner politischen Lyrik Hoffmann von Fallersleben gefolgt sei; er war kein Liederdichter, kein Epi- grammendichter, er war mehr Rhetoriker wie Herwegh. Und seine späteren nicht politischen Gedichtsammlungen, die sehr viel Schöne» enthalten, werden gar nicht erwähnt. Leichtfüßiges Talent — da» ist eine nichtssagende Phrase, daS haben auch viele der Un bedeutendsten neuerer Zeit. Nicht viel besser ergeht eS dem viel gescholtenen „Renegaten" Dingelstedt. Zwanzig Zeilen — ver gleicht man damit die seitenlangen Besprechungen von Dichtern, wie Stephan George und anderen Poeten jüngster Zeit, so wird man au» dem räumlichen und sonstigen Mißverhältniß leicht er sehen, daß die Literaturgeschichte eS nur auf eine Verherrlichung der jüngstdeutfchen Epoche abgesehen hat und gegenüber früheren Jahrzehnten «in« seichte Oberflächlichkeit an den Tag gelegt. Sein Sündenregister in dieser Hinsicht würde eine ansehnlich« Länge annehmen; es genügt aber, Literaturgeschichten des neunzehnten Jahrhundert», welche diesen Namen verdienen, daneben aufzu schlagen, um die oft unglaublichen Auslassungen und Lücken und ebenso die oft gänzlich schiefen, aus dem Mangel an Belesenheit und Kenntnissen hervorgehenden Urtheile über namhafte Autoren ins rechte Licht zu stellen. Freilich, in der Darstellung der letzten Jahrzehnte zeigt Richard Meyer sich von einer ganz anderen Seite; da ist er wohlbelesen, und den jüngsten Talenten oder Nichttalenten läßt er sein« literarhistorische Förderung aufs Freigebigste zu Theil werden. Da schlüpft ihm doch mancher Anfänger mit durch, der noch gar nicht in eine Literaturgeschichte gehört. Dabei mögen persönliche Bekanntschaften, gelegentliche UrtheAe in Recensionen und allerlei, was der Tag so mit sich bringt, eine Rolle spielen. Neben der jüngstdeutschcn Clique, die zu einer sie für die Unsterblichkeit einbalsamirenden Autorität dankbar emporsieht, steht noch eine vornehme Gruppe von Ge lehrten und Schriftstellern, die sich um die „deutsche Rundschau" gruppirt, in näherem Verkehr mit dem Literarhistoriker. So nur läßt es sich erklären, daß Schriftstellerinnen, wie Helene Böhl au und Ricarda Huch ein Diplom 8uinmu cum laucko ausgefertigt erhalten, und als leuchtende Vorbilder für die ganze Weltliteratur hingestellt werden. Wir schätzen das Talent dieser beiden Dichterinnen, von denen besonders Ricarda Huch in Wahr heit einen geistig vornehmen Zug hat, während Helene Böhlau in ihrem letzten Roman „Halbthier" doch sehr ins jüngstdeutsch Extreme verfällt. Selbst Meyer hat für diesen Roman ein Wort des Tadels. Doch so groß ist ihr« Bedeutung nicht, daß andere Schriftstellerinnen, welche Meyer zu erwähnen vergißt, dagegen ganz in den Schatten treten. Ist E. Juncker nicht ebenfalls ein: Schriftstellerin, die, wie besonders ihr Roman „Schleier der Maja" beweist, sich an tiefsinnige Lebensprobleme wagt? Ist Ida Boy-Ed nicht an erzählendem Talent und oft resoluter Darstellungsweise einer Helene Böhlau ebenbürtig? Verdienen nicht Sophie Junghans und Andere so gut Erwähnung, wie die cieao minorrim gentium, denen Meyer wenigstens kleine Söitenältär« errichtet? Die Ueberschätzung Gerhart Haupt- nrann's ist in einem Werte von der Tendenz der Meyer'schen Literaturgeschichte selbstverständlich, doch verhält er sich immerhin etwas kritischer als sein Herr und Meister Schlenther, der Heraus gcber des „Neunzehnten Jahrhundert»", der in seiner Mono graphie über Hauptmann auch das Verfehlteste mit Lob über schüttet. Sudermann wird ziemlich scharf kritisirt, die „Heimath" ist ein schlechtes Effectstück und hat mit der Kunst nichts zu schaffen; auch „Johannes" wird em mißlungenes Drama ge nannt. Im Ganzen aber wird Sudermann's Begabung, die nur durch die nervöse Fahrigkeit seines Wollens beeinträchtigt werde, anerkannt. Fast kritiklos verhält sich Meyer der jüngsten Lyrik gegenüber; er macht zwar seine Ausstellungen bei vielen Dichtern, aberden ganzen Wust von Geschmacklosigkeit, bodenlosem Schwulst, unklarer Symbolisterei und cynifcher Gemeinheit, der sich hier abgelagert hat, müßte ein Literarhistoriker mit eisernem Besen in den Winkel fegen. Dem offenbaren Unsinn gegenüber kritischen Tiefsinn zeigen zu wollen, das ist «ine Vergeudung geistiger Kraft. Wie sich di« Welt, das heißt dir Literatur, im Kopfe dec Jüngstdeutschen spiegelt, das kann man auS dieser Literatur geschichte erkennen, und in dieser Hinsicht ist sie lehrreich genug. Will man von solcher Einseitigkeit und von den damit zu sammenhängenden zahlreichen Mängeln absehen, so ist Richard Meyer's Schrift immerhin lesbar und lesenSwerth. Sie enthält, wie wir schon hervorhoben, einige treffende Charakterzeichnungen; sie ist geistreich, wenn auch bisweilen feuilletonistisch geisthaschend geschrieben, sie trifft in einzelnen Bemerkungen auch den Nagel aus den Kopf; aber sie ist eben nur mit Vorsicht zu genießen; denn sie ist ein« Parteischrift in des Wortes verwegenster Be deutung. Rudolf von Gottschall.
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