Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.06.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-06-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020619025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902061902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902061902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-06
- Tag1902-06-19
- Monat1902-06
- Jahr1902
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis I» der Hauvtexpedition oder den im Stad» b«»'-k und den Vororten errichteten Au«. Ladestellen abgeholt: vierteljährlich 4.50, — zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau- S.50. Durch die Post bezogen für Deutschland u. Oesterreich vierteljährliches, für die übrigen Länder laut Zeitungspreisliste. Redaktion und Expedition: JohanniSgaffe 8. Fernsprecher 153 und 222. Filiatevpeditionerr: Alfred Hahn, Buchhandlg., Universitätsstr. S, L. Lösche, Katharinenstr. 14, u. Königspl. 7. — — Haupt-Filiale Dresden: Strehlenerstraße 8. Fernsprecher Amt I Nr. 1713. Haupt-Filiale Serliu: Königgrätzerstraße 118. Fernsprecher Amt VI Nr. S3SL. Abend-Ausgabe. MiWM Tagtlilatt Anzeiger. Ämtsölatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Rattzes nnd Volizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Pret- die 6gespaltene Petitzeile 25 H. Reklamen unter dem RedactionSstrich (4 gespalten) 75 vor den Familiennach richten (6 gespalten) 50 H. Dabellarischrr und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Ertra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—» Anuahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Ahr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr, Anzeige« sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Nr. 307. Donnerstag den 19. Juni 1902. 98. Jahrgang. politische Tagesschau. * Leipzig, 19. Juni. Da- Licht, daS sich von den Berliner Parlamenten über die Welt auSzugießen pflegt, ist bis auf Weiteres erloschen. Der preußische Landtag ist gestern dem Plenum des Reichs tags in die Unthätigkeit nachgesolgt. Ferien kann man nicht sagen, denn die Session des Einzelparlaments hat sich ord nungsmäßig auszelebt; gestern ist — ohne Sang und Klang übrigens — der Schluß des Parlaments erfolgt, während der Reichstag bekanntlich nur vertagt ist und es am Ende dieser fünfjährigen Legislaturperiode nur auf zwei Sessionen ge bracht haben wird. Der Landtag unterscheidet sich auch insofern vortheilhaft vom Reichsparlamente, als er fast alle gesetzgeberischen Materien, die ihm die Regierung unterbreitete, erledigt hat, während der Reichstag, von den Zollzesetzen ganz abgesehen, beträchtliche Rückstände hinterließ. Der Land tag versagte nur in zwei Puncten und hier überlegter Weise. Das Gesetz über die Vorbildung der Juristen, obwohl in einer Commission eingehend erörtert, ist liegen geblieben und ebenso der verwandte Stoff der Ausbildung der höheren Verwaltungsbeamten. Die von der preußischen Regierung geplante Neuregelung des RechtSstudiumS hat zu Hause so wenig Beifall gefunden wie auswärts, z. B. auch bei den Autoritäten in Sachsen. Der Plan erweckt den Ver dacht, von dem wissenschaftlichen Betriebe zur Abrichtung hinüberleiten zu wollen, außerdem suspendirt er durch ein „Zwischenzeugniß", von dem zudem Niemand recht weiß, auf welcher Grundlage es entstehen soll, die Freizügig keit der Rechtshörer, soweit nichtpreußische Universi täten in Betracht kommen. Der erwähnte Gesetz entwurf war noch gar nicht in Angriff genommen worden und ist insofern modern, als er die juristische Ausbildung bei der Vorbereitungspraxis der künftigen Verwaltungsbeamten auf ein Minimum herabsetzcn will. Diese beiden un gelöst gebliebenen Aufgaben gehörten zu den Arbeits gegenständen der Session, die außerhalb Preußens leb hafterem Interesse begegneten. Dazu zählt selbstverständlich auch die mit anerkennenswerther Entschlußfreudigkeit von beiden Häusern rasch erledigte Polenvorlage, ein sanitär wenig be friedigendes Ausführungsgesetz zum Reichsfleischgesetz, sowie die Erwerbung von Kohlenfeldern durch den Staat, eine Maßregel, die von der vorjährigen Kohlentheuerunz gezeitigt wurde und von der vielleicht bald die populäre Rede gehen wird: sie schmeckt nach mehr. Und ähnlich wird es auch von dem zunächst lediglich für die Stadt Franfurt a. M. auf Betreiben ihres Oberbürgermeisters AdickeS geschaffe nen Gesetze heißen, das, englischem Rechte sich nähernd, die Verwohlfeilung des Wohnens bezweckt. DaS Etatsgesetz berührt uns hier nur insofern, als viele seiner Positionen wiederspiegeln, was man im übrigen Deutschland längst empfindet: finanzielle Nöthen, die sich zu verstärken drohen. Sonst wäre über das EtatSgesetz noch zu bemerken, daß die Art und der Zeit punkt seiner Fertigstellung durch das Parlament nicht für Diäten, die in Preußen bekanntlich gewährt werden, sprechen, sondern eher für das Gegentheil. Viele Wochen hin durch mußte ohne das verfassungsmäßige Jahresbudget gesetz gewirthschaftet werden, weil das hohe HauS der Abgeordneten es nicht rechtzeitig für die Berathung im Herrenhause erledigt hatte. Dabei boten die verzögernden Debatten fast durchweg aufgewärmte Speisen. DaS Polen- thum, obwohl man ihm diesmal im Reichstage in a'us- giebigem Maße dazu Zeit gelassen hatte, producirte sich wieder als die verfolgte Unschuld, das Centrum klirrte mit der bekannten Taschenspielerkunstfertigkeit mit Culturkampfketten, die längst den Museen überwiesen sind. Die reichsten Opfer aber wurden der Göttin der Zeitverschwendung von den Agrariern auf den Altar gelegt. Es kam dabei zu sehr ernstlichen Zusammen stößen zwischen anerkannt landwirthschaftsfreundlichen National liberalen und den extremen Elementen, bei den Conservativen und im Centrum, und wie schließlich Graf Bülow mit der Verlegung der Zolldebatten in das Abgeordnetenhaus sich abfand, ist noch in frischer Erinnerung. Dennoch, so steht zu befürchten, muß es von diesen außer der Competenz der Einzelparlamente liegenden Zollerörterungen für die nächste Session heißen: Fortsetzung folgt. Denn der Landtag muß spätestens am 15. Januar k. I. wieder zusammentreten und bis dahin wird der Reichstag »och lange nicht mit der Tarif vorlage fertig sein. Die nächste Session ist die letzte vor den allgemeinen Landtagswahlen, die zeitlich ziemlich nahe mit den allgemeinen Reichstagswablen zusammenfallen werden. Man wird das Abgeordnetenhaus deshalb erst recht als billigste Agitationsmaschine ansehen und miß brauchen. Ob mit Erfolg, wer weiß es? Die beiden konservative Fraktionen haben jetzt für sich allein nahezu die Mehrheit in der zweiten preußischen Kammer. Ob dies so bleibt? Der Liberalismus sieht ein Arbeits feld vor sich liegen, das Ertrag verspricht, wenn er es verständig bestellt. Es gewinnt aber häufig den Anschein, als ob ihm mehr daran gelegen sei, als Ver dränger des Conservatismus installirt zu werden, als die Wiedergewinnung deS ihm zustehenden Einflusses eigener Kraft zu verdanken. Die nächste Session wird voraussichtlich politisch complicirt werden durch die Wiedereinbringung der Canal-, der „Wasserwirthschafts"- Vorlage. Von der Art ihrer Behandlung, nicht von der Stellungnahme zu ihr, wird viel für die Zukunft des Liberalismus abhängen. „Gebaut wird er doch" — gewiß. Aber wenn er gebaui wird, sollte Jedermann ersehen können, daß der Bau dezchlvssen wird, weil er uothwendig >st, u- v nicht, weil er hohes Wohlgefallen erregen würde. In einer Besprechung der Aussichten der nächste« Reichotagowahlcn sagt die „Frkf. Zig.", diese Wahlen würden für Deutschlands Zukunft, seine innere und äußere Machtstellung von entscheidender Bedeutung sein; nicht der Kaiser, nicht der Reichskanzler, sondern die Wähler hätten die Geschicke in der Hand und der Sieg sei schließlich bei den starken Bataillonen. In dieser Auffassung liegt zwar zweifellos eine starke Ueber- schätzung der Bedeutung des Parlamentarismus in Deutschland, aber in gewisser Weise doch ein richtiger Kern, denn das Parlament kann heute, wofern eine ge schlossene und vergleichsweise homogene Mehrheit sich zu sammenfindet, einen stärkeren Einfluß ausüben, als in den Zeiten des Fürsten Bismarck, und sicherlich würde der gegenwärtige Reichskanzler dem Liberalismus, dem er in seinem Innern durchaus nicht abhold ist, Con- ccssionen machen, wenn dieser bei den nächsten Wahlen „starke Bataillone" aufbrächtc. Die Vorbereitungen der bürgerlichen Demokratie sind freilich nicht sehr erfolgvei- heißend. Es vergeht nicht ein Tag, an dem nicht dte nationallibrale Partei angegriffen würde, und zwar nicht nur in der Presse, sondern auch praktisch, d. h. bei der Vorbereitung von Reichstagswahlen. Sv schreibt zu derselben Zeit, in der die „Frkf. Ztg." die „starken Bataillone" aufmarschiren läßt, der „Fränk. Courier" höhnisch über das „Jammern" der National liberalen über die Aufstellung einer bündlerischen Candi- datur in Bayreuth; dieses Jammern beweise die Ohn macht der Nativnalliberalen. Zunächst ist eS etwas kühn, wenn gerade mit Bezug auf Bayreuther Verhältnisse ein freisinniges Blatt von nationalliberaler Ohnmacht schreibt, denn die Nationalliberalcn haben im letzten Jahr zehnt dort ihre Position nahezu behauptet, während die Freisinnigen von 6000 Stimmen im Jahre 1890 auf 2300 im Jahre 1898 herabgegangen sind. Bei welcher Partei ist da wohl von einer Ohnmacht zu reden? Zum Zweiten aber beweist der Vorgang in Bayreuth die absolut verkehrte Taktik der freisinnigen BolkspaLtei. Als schwächste der vorhandenen Parteien hat sie so gut wie keine Aussicht, in die Stichwahl zu gelangen. Sie kann also sich selbst mit der Aufstellung einer eigenen Candidatur nichts nützen, wohl aber schadet sie der libe ralen Sache, wenn infolge dieser eigenen Candidatur der Bündler mit dem Socialdemokraten in die Stichwahl ge langt und dann einer von diesen beiden Bewerbern ge wählt wird. Aber nicht nur gegen die Nationalliberalen, sondern gegen die ihm politisch noch näherstehende frei sinnige Vereinigung richtet der „männliche" Freisinn un ausgesetzt seine Angriffe, und man kann schon heute Vor hersagen, daß die freisinnige Vereinigung für die nächsten Reichstagswahlen kaum eine Candidatur wird aufstellen können, die nicht von dem Richter'schen Freisinn benörgelt werden wird. Wo bei dieser Befehdung der benachbarten Gruppen des Liberalismus die „starken Bataillone" Her kommen sollen, erscheint einigermaßen räthselhaft. Aus sich selbst heraus können freisinnige und süddeutsche Volks partei diese „starken Bataillone" jedenfalls nicht schaffen. Bei den letzten allgemeinen Wahlen wenigstens haben diese Parteien nicht unr hinter dem Centrum und der Socialdcmokratie, sondern auch hinter den National liberalen und den Conservativen an Stimmenzahl er heblich zurückgcstandcn. Sie kamen erst an fünfter Stelle, während die Nationalliberalcn hinsichtlich der bei der ersten ordentlichen Wahl abgegebenen Stimmen an dritter Stelle marschirteu. Wir widerholcn also: wo sollen die starken bürgerlich-radikalen Bataillone, mit denen dem Kaiser und dem Grafen Bülow imponirt werden soll, Herkommen? Von einem „Neu - Polen" in Stidbrasilien kann man bisweilen die Polen träumen hören. Es dürfte be kannt sein, daß ein verhältnißmäßig starker polnischer Auswandcrerstrvm sich nach dem südbrasilianischen Staate Parana ergossen und hier zwischen den überwiegend romanisch besiedelten Haupttheil des Landes und die deut schen Siedclungen in Santa Catharina und Rio Grande do Sul geschoben hat. Für diese Answanderurng und geschlossene Licdelung unter den Polen wird lebhaft Propaganda gemacht, und namentlich in Lemberg wird durch Wohlthätigkeitsvorstellungen und ähnliche Veran staltungen Geld zur Unterstützung der polnischen Colo- nisten in Parana gesammelt. Neuerdings hat wieder ein polnischer Propst aus Rio Pcrmelho in Parana das Interesse der galizischen Polen für „Neu-Polen" zu heben gesucht und in der Lemberger katholischen Lesehalle einen Vortrag über jene polnischen Colonisten gehalten. Dabei konnte er aber nicht umhin, eine überaus bezeichnende Charakteristik der Polen unter sich zu geben, aus der wieder einmal klar hervorgeht, wie un fähig sie nach wie vor znr politischen Selbstverwaltung sind. Sein Urthcil über die Landsleute in „Neu-Polen" gipfelte nach dem „Kuryer" in folgenden Ausführungen: Der Analphabetismus blühe dort auf das Prächtigste, und in Folge des Mangels an Geistlichen mache sich der Aberglaube so breit, wie in keinem anderen Theile des Vaterlandes. In Lucena z. B. gäbe es keine Straße, in der nicht mehrere „Hexen" ihr Unwesen trieben. Auch der alte Trieb zur Völlerei und Trunksucht sei den pol nischen Colonisten in Parana nicht völlig auszutreibcn. Dazu trage der überaus billige Preis für Spirituosen in Brasilien nicht wenig bei. Der zweite Hauptfehler der polnischen Colonisten sei ihre Unfähigkeit der Selbstver waltung, ihre völlige Unselbstständigkeit. Der polnische Colonist bilde in gesellschaftlicher Beziehung ein völlig wildes Material, dem jegliches Organisationstalent mangele. Sie verständen sich nicht selbst zu regieren. — Dem Urtheil von competenter Leite ist nichts hinzuzufügen. Deutsches Reich. Berlin, 18. Juni. (Deutschland und der internationale Arbeiterversicherungs- congreß in Düsseldorf.) Ein Artikel, den Prof, vr. Francke in der „Socialen Praxis" dem inter nationalen Arbeiterverncherungscongreß in Düffeldorf widmet, athmet wohlbegründete Genugthuung über die führende Rolle Deutschlands auf dem Gebiete der Ar beiterversicherung. Bödiker's Wort, daß die Arbeiterver sicherung ihren Lauf siegreich um die Welt nehmen und einen integrirenden Theil des Culturfortschrittes der Menschheit bilden werde, ist heute schon in Erfüllung ge gangen. Zwar besteht auch heute noch Meinungsver schiedenheit darüber, ob der Zwangsversicherung oder der freien Versicherung der Vorzug zu geben sei, aber daß Deutschland an der Ueberzeugung festhält, mit der staat lichen Zwangsversicherung auf dem rechten Wege zu sein, ist angesichts der gewaltigen Erfolge unserer Socialver- sicheruug selbstverständlich. Francke ruft den Umfang dieser Erfolge ins Gedächtuiß zurück, indem er die wich tigsten der einschlägigen Zahlen, an denen unsere Social demokratie nur zu gern voriibergeht, wiedergiebt. Fast 10 Millionen Personen umfaßt die Krankenversicherung; zwischen 3 und 4 Millionen Kranke erhalten jährlich 140—150 Millionen Mark an Unterstützungen. Gegen Unfall sind mehr als 18 Millionen Personen versichert; etwa 600 000 Verletzte im Jahresdurchschnitt beziehen 70—75 Millionen Mark Entschädigungen. Fast 13 Mil lionen Personen zählt die Invaliden- und Altersversiche rung: rund 650 000 sind Rentenbezieher bis zu rund 70 Millionen Mark. Mit den Ausgaben für die Ver waltung wird jahraus jahrein täglich eine Million Mark für die Arbeiterversicherung aufgewendet, so daß im Ganzen seit ihrer Einführung mehr als 3 Milliarden auf gewandt wurden, während das angesammelte Vermögen im Betrage von einer Milliarde zum großen Theil weitere Gebiete der Socialreform befruchtet. Dahin gehört die Gesundheitspflege, der Wohnungsbau, die Bekämpfung der Volksseuchen u. a. Aber fast noch höher als diese Er gebnisse der Arbeiterversicherung sind ihre starken sitt lichen Wirkungen zu bewerthen: die Erziehung der Massen, das Zusammenarbeiten von Arbeitgebern und Arbeitern, die Milderung der Claffengegensätze, die An bahnung der Versöhnung und die Kräftigung des social politischen Pflichtbewußtseins im Volke. Wenn Francke zum Schluffe darauf hinweist, daß das Programm der Arbeitcrversicherung durch den Fürsten Bismarck Frriilletsn. IS) Verfehlte Liebe. Roman von E. Hein. Nachdruck verbeten. Als vier Tage nach der Unterhaltung mit ihrem Vater noch kein Brief von Merkel angekommen war, wurde sie ganz unruhig. Sie hatte bis dahin immer zu Hause gesessen und ihren Vater nur einmal am frühen Morgen zu Gesicht be kommen. An diesem vierten Tage sagte er ihr, daß er am Nach mittage Margot die Wohnung zeigen wolle. Minna wurde blaß bei den Worten, sie kamen ihr geradezu brutal vor; sie wandte nichts dagegen «in. Da erinnerte sie sich ihres alten Freundes, des Verwalters ihres Vermögens, des Justizraths Baumert, vielleicht konnte der helfen. Sie machte sich gegen elf Uhr früh auf den Weg. Der Justizrath war verreist, er kam erst gegen Abend zurück. Beinahe rathlos stand sie auf der Straß«. Nach Hause mochte sie keinesfalls gehen, cS blieb ihr nur noch die alt« Christine übrig, die draußen in Oelz das Hauswesen besorgte und die sie bald ein halbes Jahr nicht gesehen hatte. Sie entschloß sich, zu gehen, um keinen Preis wollte sie in der Wohnung sein, wenn ihr Vater käme. Sie hatte kaum einige Schritte gethan, da sah sie drüben auf dem anderen Bürgersteig« ein kleines Persönchen gehen; langsam, und als sie sie näher sah, bemerkte si« rothe Augen — es war Mathilde Keller. Scheu drückte sie sich an den Häusern hin, als sei sie krank. Da be merkte sie Minna. Sie hob ihr zierliches Köpfchen, und Thränen, di« sie nicht mehr zurückhalten konnte, entströmten ihren Augen. Minna ging über den Straßrndamm zu ihr hinüber. „Mathilde, was hast Du?" fragte sie besorgt, und wie schützend legt« sie den rechten Arm um ihre Schulter. „Ach, Minna, Du bist es, ach, ach!" sie konnte vor Weinen nicht reden. , „Was ist Passirt, ist Jemand gestorben?" Es dauerte ekwaS lange, ehe Mathilde sich gesammelt hatte. Unterdeff«n hatte sie Minna in die Promenadenanlagen geführt, wo man sie nicht beobachtete. „Willy, ach Willv, er . . . er . . ." „Was ist mit ihm, wer ist denn Willy?" „Nun, weißt Du nicht? Willy Schwarz .... mein Bräu tigam .... das heißt, noch nicht, wir wollen uns erst zu Weihnachten verloben ... „Schwarz? . . . Schwarz? . . ." „Du kennst ihn gewiß vom Balle anders her .... der große, schön« Mann mit dem dunkeln Lockenkopfe." Minna erinnerte sich wohl des jungen Mannes, der ihr seinen Besuch gemacht hatte. „Was ist mit ihm? Ist er Dir untreu geworden?" „Ach, Minna, was ist untreu, untreu ist doch nicht so schlimm, als das." Minna mußte lächeln. „Liebes Kind, nicht untreu, was kann da Schlimmeres passirt sein?" „Ich kann Dir es gar nicht erzählen . . . ." Sie schluchzte. „Es geht Dich auch an." „Mich?...." „Ja . . . Dich, Minna . . ." Ein neuer Thränenstrom ver hinderte ihr« Rede. Nachdem sie sich ein wenig erholt hatte, Hub sie wieder an: „Seit etwa sechs Wochen sind wir einig. Er verkehrt bei uns und hat auch schon mit Papa und Mama ge sprochen. Er ist bei der Stadt Beamter und für mich ist die Partie gewiß gut. Alles war gut und schön, wir lobten wie, wi« ...." „Turteltauben." „. . . . Ja, wie dir Turteltauben. Er war immer aufmerk sam, immer gut und lieb. Alles, waS ich machte, war gut . . . da plötzlich, seit drei Tagen . . . seit das Frauenzimmer . .. ent schuldige, Mnna, ich weiß nicht recht, was ich sage . . . ." „Was hat das denn mit mirzu thun, liebe Mathilde?" „Nein, ich mein« nur, es entfuhr so meinem Munde. Bitt«, nimm es mir nicht übel. . „Was soll ich Dir denn übel nehmen? . . . ." „Ach Gott... liebe Minna, — daß ich so von Deiner Mutter red«." Minna ließ plötzlich Mathilde los. Sie wurde kreidebleich. „Was sagst Du da? Meine Mutter ist schon lange todt." „Nimm es nur nicht übel, Minna ... ich meine, die Dame, die Dein Vater heirathen tvill." Minna konnte ihre Erregung kaum meistern. „Weißt Du auch schon davon?" Die Frage schien Mathilde zu verblüffen. Sie sah Minna verständnißlos an. „Was weißt Du?" wiederholt« Minna dringend. „Nun, die ganz« Stadt weiß es doch, daß Dein Vater rin« Französin heirathet, di« so schön ist; wie alle Mädchen hier zu sammengenommen. Alle Männer rennen ihr ja nach. Ucberall spricht man von ihr." Minna hatte sich wieder gesammelt; die letzten Worte schmei chelten ihr fast. Ihr Vater hatte also guten Geschmack. „Und Dein Willy hat sich wohl auch in sie verschaffen?" „Das weiß ich nicht . . . Deine M . . ., die Dame wohnt bei seinen Eltern.' Er hat sie dort kennen gelernt, vor drei Tagen, und nun, nun . . ." „Nun, was?" „Ich bin ihm nicht genug; nicht hübsch genug, nicht schick genug, nicht geistreich genug . . . ." „Das chat er Dir gesagt?" „Weniger gesagt, als merken lassen. Seit drei Tagen geht cs immer: Deine Handschuhe sitzen nicht gut, wer hat denn eigentlich Dein Kleid gemacht, das ist ja vorsintfluthlich, aber, Mathilde, Dein Hut! . . welche Mode!, so halte doch den Schirm ordentlich . . . nein, wie Du Deine Kleider aufhebst . . . und heute .... jetzt ... ich traf ihn zufällig. Er bemerkte mich, kam über die Straße und sagte ganz unvermittelt: Aber, Mathilde, wie gehst Du denn, um Gottes Willen, Du wirst bucklig . . immer Brust heraus ... das kommt davon, daß Ihr in Euren Schulen immer die Hände vor Euch haltet, in Paris kreuzen die Kinder ihre Arme waagerecht auf dem Rücken, so bekommen sie von ganz allein die richtige Haltung. Paß' ein bischen auf . . . Ich werde roth, will etwas erwidern, da giebt er mir die Hand und sagt: Das thut mir leid, ich habe jetzt keine Zeit, Dich zu begleiten. Adieu, Schah, auf Wiedersehen heute Abend! Fort war er." Mnna lachte. „Du Närrchen, um den machst Du Dir Sorge, Dein Zukünftiger giebt Dir nur gute Lehren. Wenn es weiter nichts ist, da kannst Du Deine Thränen sparen." Mathilde lächelte schwach. „Du denkst, daß ich kein« Angst zu haben brauche?" „Wenn es weiter nichts ist, nein." Sie sprachen noch Einiges. Mathilde bat schüchtern, baß sie ihre Freundschaft doch wieder erneuern möchten. Minna sagte halb und halb zu. Sie wollte von Mathilde loskommen, die kleine Person that «ihr leid, und doch kam sie ihr mit ihrem Leid komisch vor. Di« Straßenbahn nach Oelz war fertig. Ein Wagen fuhr vorüber. Minna stieg ein. Draußen konnte man schon das Wirken des Capitols beob achten. Einige alte Häuser waren abgerissen und Paatzsch Wil helm s Kneipe war ein moderner Bau geworden, in besten Räumen vorläufig die zahlreichen Bauarbeiter di« Hälfte ihres Lohnes sitzen liehen. Bei Friedrichs wär noch Alles unver ändert. Als Minna bas große Hofthor aufklinkt«, kam ihr der Dackerl Troll mit freudigem Gebell entgegengesprungen. Das Thier hatte seine Herrin noch nicht vergessen, sie selbst hatte nie an ihn gedacht. Christine war im Garten und schnitt Rosen. Zwei Jungen aus der Stadt, deren Mutter damÄ handelte, warteten darauf. „Herr Gott! unser« Minna!" rief Christine und wollte Rosen und Jungen stehen lasten, um auf Minna zu zu eikn. Minna wehrte ab, so daß erst die Knaben das Gewünschte erhielten. „Nein, Mnna, wie mich daS freut. Den ganzen Sommer habe ich immer gewartet, aber weder der Herr, noch das Fräulein haben sich sehen lasten. Es gefällt Ihnen wohl gar zu gut in der Stadt, daß Sie gar nicht herauskommen. Es ist Alles noch in Ordnung, und wenn Sie wieder ziehen wollen, Sie brauchen nur zu kommen. Ich habe Ihre Blumen begossen, die Stuben habe ich gelüftet, es ist Alles fertig. Und nun die Rosen. Ein paar Sträußer hat ja der Milchmann mit hineingenommen zu Ihnen. Die ein« Marschall Mel hak gegen fünf Mark ein gebracht, so «hat sie geblüht, und von der Duchesse Bourbon kann ich gar nicht genug schneiden. Ich habe Alks ausgeschrieben, so gut, als möglich." Schon holte sie «inen alten Kalender vor, auf dessen weißen Blättern sich ein Gewirr von Ziffern befand, aus dem nur Christine klug werden konnte. Lächelnd schob Minna den Kalender zurück. „200 Mark und 17 Pfennige habe ich eingenommen", meinte Christine stolz. „Das ist gut, liebe Christin«, aber ich brauche das Geld nicht, das rechnen wir gelegentlich ab." „Für die Beeren, Kirschen und Birnen sind es aber auch über 60 Mark!" „Schon gut, das rechnen -wir dann zusammen. Jetzt möchte ich Dich nur fragen, ob ich etwas zu essen bekommen kann." „Ei, was zu essen, «i ja. Ich habe Erdäpfel anqeseht und einen Kaffee dazu." „Das ist nun freilich wenig. Fleisch hast Du wohl nicht da? Nein? Dann gieb mir ein paar Eier und ein Stückchen Speck. Ich werde es selbst machen." Während Christine die Eier aus dem Kasten nahm, suchte Mnna nach Speck. „Ja, Minna, und die Eier . . . Ich babe ziemlich diel ver- kauft, die Hühner haben gut gelegt. Die Italiener sind doch die L Habe, welche gesetzt und die jungen Hähnchen habe ich dem Milchmann mitgegeben. Er hat noch nicht bezahlt.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite