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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 24.07.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-07-24
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020724025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902072402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902072402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-07
- Tag1902-07-24
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Die Regierung bat am Dienstag die Klinke deS Wolff'schen Bureaus in ein und derselben Angelegenheit zwei Mal in die Hand genommen und der Ton, den die Musik macht, ist bei beiden Produktionen nicht derselbe. Ein un trügliches Zeichen von der Rathlosigkeit, die der Versuch deS Grafen PosadowSky, sich kassandrisch vernehmen zu lassen, hervorgerufen hat, die aber beim Reichskanzler, falls er, waS technisch denkbar ist, an der zweiten Darstellung des halbamtlichen Telegraphenbureaus Antheil haben sollte, sehr begreiflich wäre. Man kann natürlich von Norderney aus auf Grund Berliner Vorgänge nach Berlin bin disponiren, aber man muß genau wissen, was sich in Berlin zugetragen hat. Die in die Oeffentlich- keit gebrachten Angaben über die Bemerkungen deS Staats sekretärs des Innern bewegen sich in schreienden Wider sprüchen; man wußte vielleicht nicht einmal, was man gesagt hatte, jedenfalls aber war man sich nicht im Klaren, was man gesagt haben wollte. Es wäre kein Wunder, wenn unter diesem Zustand die Berichterstattung an den Grafen Bülow gelitten hätte und daS etwaige publicistische Eingreifen des ent fernten obersten NeichSbeamten diesen Defect widerspiegelte. Wir gehen auf eine Beurtheilung der Zuverlässigkeit der drei Versionen, die wir der Chronistenpflicht widerstrebend gehorchend, wiedergegeben haben, geflissentlich nicht weiter ein. Stenographische Berichte auö den CommissionSverhandlungen werden nicht veröffentlicht und was nicht in den Acten, daS muß nicht nothwendig als in der Welt befindlich betrachtet werden. ES genügen auch die zwei halbamtlich zugegebenen Thatsachens: vollauf. Graf PosadowSky hat in Bezug auf daS Schicksal der Zollvorlagen wieder flau gemacht und er hat den bundespolitisch denkbar ungünstigsten Augenblick gewählt, um großartig zu bekennen, daß — wir citiren nur die halbamtliche Version — der Zolltarifentwurf ein Compromiß der Re gierung bilde, welches man nicht durch Geltendmachung von Einzelwünschen und Localinteressen gefährden solle. Leider ge schah daS, nachdem unmittelbar vorher der Vertreter Badens eine allgemein wenig bedeutende Zollerhöhung (auf Backsteine) befürwortet und ein Tag früher der Vertreter SachsenS das Gleiche in Bezug auf einen Volks- und Weltwirthschaft ebenfalls nicht beherrschenden Artikel (Pflastersteine) gethan hatte. Man wirb aus dem letzteren Umstande wohl nicht das Reckt schöpfen wollen, unS parti- cularistischer oder domcsticaler Beschränktheit zu zeihen, wenn wir das Zusammentreffen der PosadowSky'schen Strafpredigt mit den kleinen einzelstaatlichen Abänderungswünschen als eine sehr wenig glückliches empfinden. Doch ist das nicht das Wesentliche. Ein fataleres Zusammentreffen ist eö, daß der Staatssekretär des Innern Kassandrarufe und Warnungen im mittelbaren, aber unverkennbaren Anschluß an Aus führungen des hanseatischen Vertreters ergehen ließ, der sich, wie jetzt aus den ausführlicheren Berichten zu ersehen, von der grundsätzlich sreihändlerischen Argu- mentationSwerse nicht fern gehalten hatte. Was die Theorie vom „Compromiß" angeht, so hat Graf Posadowsly einfach nachgesprochen, was der — nicht schutzzöllnerisch angelegte Vertreter der drei freien SeehandelSstädte vorgesagt hatte. Für die wesentlichen, d. h. für die im Mittelpunkte der deutschen zollpolitischen Zeit- und Streitfragen sich bewegenden Puncte ist der Bundesrathsentwurf allerdings ein Compromiß, dessen Fundament mau nicht untergraben darf, wenn man zu einem positiven Ergebniß gelangen will. Vor allen Dingen, um nicht zu sagen ausschließlich, sind diese Fragen solche deS landwirthschaftlicheu Zollschutzes und ist es insbesondere die Frage der landwirtbschaftlichen Höchstzölle. An diesen Punctcn, aber auch bei schwer wichtigen Positionen deS in dustriellen Tarife« sind die Regierungen einig und fest geblieben. Am Montag und Dienstag handelte es sich aber zwar zufällig um Steine, nicht aber um Grundsteine des Zollreformbaues, sondern kaum um Mauersteine für dieses Werk, in Wahrheit um sehr geringfügige Nebensachen. AuS solchem Anlaß, wo dazu noch ein Generaltarif in Frage steht, an dessen Sätze man bei HandelSvertragSoerhandlungen nicht gebunden ist, von ReichSregierungSwegen den Anschein zu erwecken, als ob die Regierungen ihr eigenes Werk zerstört hätten — „Der Krach in der Zolltariscommission", so wird der Bericht über deS Grafen PosadowSky Rede in verschiedenen sreihändlerischen Blättern überschrieben — das war, mit Verlaub zu be merken, nicht nur eine zollpolitische, sondern eine bundespolilische Ungeschicklichkeit höheren Grades. Daß kleine Modifikationen deS BundeSrathsentwurseS das „Compromiß", so weit es essentiell und nöthig ist, nicht berühren, ist vom Grafen PosadowSky selbst dadurch anerkannt worden, daß er wiederholt Aenderungen der Vorlage, die von der Reichstags- commission beantragt waren, zu gestimmt bat. Wozu also bei Pflaster- und Backsteinen diese Sensation? Wenn eS mit dem Tarif schlecht steht, WaS wir noch nickt glauben, so wäre doch vielleicht zu untersuchen, ob in der die Eiuzelwünsche und Localinteressen bei den Industriezöllen eö sind, die den Zustand herbeigeführt haben oder, wenn auch nur zum Theil, die Vertretung des Entwurfes durch die Reichsregierung. Immerhin dielet die Thatjachc, daß man jetzt „so was" gar nicht gesagt haben will, einigen Trost, natürlich nur politischen Trost — bei Leibe nicht psychologischen. Seitens der russischen Botschaft in London ist der eng lischen Regierung versichert worden, daß die Anregung der russischen Regierung behufs gemeinsamer Bekämpfung der internationalen Trusts ihren Ausgangspunkt nicht in den Beschlüssen derZuckerconferenz habe, sondern in dem Ver suche, den Morgan'schen Dampfertrust bis nach Rußland auS- zudehnen. Es haben nämlich die beiden Gehilfen Morgan'», die Herren Widener und Griscom, von Kiel auS eine Ferienreise durch die skandinavischen und russischen Häfen unternommen und dabei Sondirungen bei der Vereinigten Dänischen Dampsergesellschaft, bei den schwedischen Nhedereien und bei der Dänisch-russisch-ostasiatischen Gesellschaft behufs Ein beziehung in den Trust vorgenommen. Andererseits bat sich der Stahltrust den allerdings ziemlich nothleidenden russischen Eisenbahnwagen und Locomotiven- Fabriken genähert,um diese zu einem unter der Oberleitung des Stahltrusts stehenden Syndikat zu vereinigen. Wenn nun Rußland sich mit feinen Anlitrust-Vorschlägen zuerst an Eng land gewandt hat, so stand eS dabei auf rem Standpunkte, daß das AuSgreifen der Amerikaner nach Europa wesentlich durch daS Entgegenkommen Englands ermöglicht wurde. Ganz besonders aber hängt die beabsichtigte Monopolisirung des gesammten interoceaniscken Danipferverkehrs von der Haltung Englands ab. Interessant ist nun aber, daß die nordamerikanische Regierung sofort nach London ver traulich mittheilen ließ, Präsident Roosevelt arbeite sehr eifrig an einem neuen Gesetze zur Beschränkung der Trusts, und gleichzeitig wird versichert, baß die Trustbewegung bald in sich selbst zusammenfallen werde, und zwar infolge der Uebercapitalisirung der von ihr übernommenen Objecte. So habe sich beim Stahltrust schon jetzt berausgestellt, daß das Actien-Capital von 6 Milliarden Mark um anderthalb Milliarden Mark zu hoch bewerthet sei. Bei dem Morgan'schen Trust sei die Ueberwerthung der angekauften Linie noch größer, wenn man die schnelle Abnutzung der Dampfer in Betracht ziehe. Herr Schwab, der Ober häuptling des Stahltrusts, läßt sich freilich von dem kommenden Zusammenbruch noch nichts anmerken; denn er bat soeben ein für seinen Privatgebrauch bestimmtes Schloß für 8 Millionen Mark in Bau gegeben. Während der Grundsatz, daß die Errichtung über seeischer Verkehrslinien in jedem Falle eine Erweiterung der cvinmerziellen Beziehungen und die Berbefferung der wirthschaftlichen Lage und Leistungsfähigkeit des durch die maritime Verbindung in den Weltverkehr einbezvgenen Landes im Gefolge hat, sich auch bei uns allgemeiner An erkennung und einer durch Jahrzehnte erprobten Wcrth- schützung erfreut, hat die Erkenntnis!, daß auch die Eisen bahnverbindungen durch die Ermöglichung schneller, sicherer und billiger Transporte gewissermaßen als w i r t h s ch a f t l i ch e Anregung zu gelten haben, noch immer nicht genügend Boden gewonnen. Besonders in Afrika, wo fast alle Culturnationen coloniale Be sitzungen babcn und wo der Wettbewerb zwischen benach barten, nicht selten bezüglich der klimatischen, Boden- und Bevölkerungsverhältnisse gleichgestellten Colonien schärfer hervortritt und mit Nothwendigkeit zum Vergleich auf fordert, hat die Rückständigkeit und Unentschlossenheit der deutschen colonialen Bestrebungen, die allerdings in der Versagung der erforderlichen Staatsmittel ihre wesentliche Ursache hat, andere, gleichstrebendc Nationen, besonders England und Frankreich, einen Borsprung gewinnen lassen, der die Befürchtung aufnöthigt, daß der kommerzielle Verkehr sich mehr und mehr den Colonien dieser Staaten zuwendet und daß, wenn nicht von deutscher Seite energisch und mit großen Mitteln der Ausbau unserer colonialen Wirthschaftsverhältnisse begonnen werden kann, die deutschen Besitzungen in immer größere Abhängigkeit von den benachbarten fremdländischen Territorien gerathen werden. Die rührige nnd erfolgreiche Arbeit der fran zösischen und englischen Colonialbehörden lehrt am besten ein Blick auf den gegenwärtigen Stand der Eisen bahn bauten in Westafrika. Nachdem kürzlich die französische Kammer die erforderlichen Geldmittel be willigt hat, ist im französischcn Sudan die Vollen dung der Strecke von Karies am Senegal bis Bamaku am Oberlaufe des Niger gesichert. Gebaut sind bereits 310 Kilometer, bis zu dem etwa das zweite Drittel der Strecke abschließenden Handelsplätze Kita, wo eine große Zahl bedeutender' und verkehrsreicher Handelsstraßen zu sammentrifft. In der G u i n e a - C o l o n i e sind auf der von Konakry bis zum Niger projectirten Strecke die Erd arbeiten bis zu 149 Kilometer vollendet, so daß, wenn die Arbeiten in demselben Tempo wie bisher gefördert werden, für Ende 1903 die Eröffnung des größten Theiles der Bahn in Aussicht gestellt werden kann. Auch in D a - homey macht der Bau der vom Niger zur Küste bei Kvtonu führenden Linie schnelle Fortschritte. Das gleiche Bestreben, den Niger auf dem Schienenwege zu erreichen, bethätigen auch die britischen Colonialbehörden in den Schutzgebieten Sierra Leone und Lagos, so daß, da von beiden Nationen mit Eifer die Ausführung, bezw. Vollendung der projectirten Bauten angestrebt wird, von -em Abschlüsse dieser Arbeiten eine sehr beträchtliche Förderung des westafrikanischen Verkehres zu erwarten ist. Ebenso sind Eisenbahuprojecte für das Hinterland der Elfenbeinküste und für das französische Congo gebiet in der Vorbereitung. Für die letztere empfiehlt der Fvrschungsreisende Fvurcau den Bau einer Linie von Libreville au der Gabun-Bay in'ö Landinnere bis Wesso, von wo die Strecke in späterer Zeit bis zum Schari, der in den Tsad-See mündet und zu den größten Zuflüssen des Sees gehört, wettergeführt werden soll. Ein weiteres fran zösisches Project faßt den Bau einer kürzeren nnd wohl auch aussichtsvolleren Strecke in's Ange, die Libreville mit dem Alima, einem Nebenflüsse des Congo, verbinden nnd somit den südlichen Theil -es französischen Congogebietes dem Verkehr erschließen soll. Somit regt sich rings nm die deutschen Besitzungen Togo und Kamerun überall eifriges wirthschaftliches Leben; es wird daher der energischen Unterstützung und Förderung der deutschen colonialen Unternehmungen auch in diesem Theile des schwarzen Erd- theiles bedürfen, wenn diese vielversprechenden Colonien in dem internationalen Wettbewerbe um die wirthschast- liche Suprematie über diese Territorien nicht in s Hinter treffen gerathen sollen. Deutsches Reich. -2- Leipzig, 24. Juli. Der nächstjährige inter nationale Socialistencongreß in Amsterdam wird sich, wie es heißt, auch mit den s ä chs is chen Verhältn issen beschäftigen. Einer der angesehensten Führer der französischen Socialdemokratie soll die Absicht haben, die sächsischen „Genossen" zu ersuchen, „die Mittel darzulegen, durch welche sie ihre drohende Herausdrängung aus dem Landtage und der Verschlechterung ihres Landtagswahlrechts verhindert hätten". Da diese Anfrage gleichzeitig im Zusammenhänge mit einer an die preußischen >„Genossen", die auSeinandersctzen sollen, „auf welche Weise sie ihren „glorreichen" Kampf chr das allgemeine gleiche Stimmrecht zum Landtag durchgeführt hätten", gestellt werden soll, so ist sie offenbar als eine hohnvolle Quittung für die «-sprechende Kritik der socialdemokratischen Blätter über die belgische Wahlrechts bewegung gedacht. /X Berlin, 23. Juli. Einen der schwierigen Puncte bei der D u r ch s i ch t u n d N e ug e st a t t u n g üesKran- ken - Versichern ngsgeseyes bildet die Frage der Miteinbeziehung der land- und sorsl- wirthschaftlichen Arbeiterin die Versicherung. Es ist bis jetzt der landcsgesetzlichen Regelung überlassen, die land- und forstwtrthschaftlichen Arbeiter in die Krankenversicherung einzubeziehen. In Bayern ist Ge brauch von diesem Rechte gemacht, in Sachsen auch, in Preußen aber so gut wie nicht. Bei dem Mangel an ärzt licher Versorgung auf dem Lande und dadurch, daß der einzelne kleine Mann auf dem Lande nicht in der Lage ist, sich einen Arzt von weither holen zu lassen, werden die Krankheiten vielfach verschleppt, die Leiden wurzeln ein. Nur in den äußersten Nvthfällen wird ärztliche Hilfe her- Feuilleton. bj Zwei Welten. Roman von Arthur Sewett. ' Nachdruck verboten. „Heute kommt auch Deine Kunstreiterin wieder, nicht wahr'? Ich werde nicht in die Stunde kommen können; es hat überhaupt wenig Zweck." Der Doctor antwortete nicht. Auch während des Essens schwiegen Beide. Des Nachmittags fuhr Frau Mollinar mit dem elektrischen Wagen zum Bahnhof, nm Gabriele abzuholen. Der Doctor aber begab sich in seine Arbeitsstube, um „seine Kunstreiterin" — anders nannte die Mutter sie nicht mehr — zu erwarten. Es war die erste Stunde, die er mit ihr allein sein sollte. Eigentlich war es ihm recht so, er hatte im Interesse des Unterrichts dieses Alleinsein schon lange gewünscht — er fühlte sich freier. Und doch, als es jetzt vor ihm stand, konnte er eine seltsame Empfindung nicht unterdrücken. Es hatte längst vier Uhr geschlagen. Miß Ellida ließ sich nicht sehen. Er war gewohnt, daß sie auf sich warten ließ. So spät aber, wie heute, war sie noch nie gekommen. Es wurde ein viertel, es wurde halb fünf Uhr. Er wurde erst ungeduldig, dann ärgerlich. Zuletzt nahm er Hut und Mantel. Er hatte keine Lust, auf der Lauer zu liegen, bis es ihr beliebte. Da, als er eben gehen wollte, das lang gezogene, laute Schellen, das stets ihr Kommen ankündtgte. Als wäre nicht das Geringste geschehen, trat sie in daS Zimmer, lächelnd und fröhlich wie immer. «Guten Tag, Herr Mollinar, wie geht es?" Er sah die Hand nicht, die sie ihm entgcgenstreckte. „Fräulein Elli, wenn Sie mich über eine halbe Stunde auf Ihr Kommen warten lassen, so muß ich zum Min desten um eine Entschuldigung bitten!" „Ach, Sie sind böse, Herr Mollinar. Und ich kann doch nichts für meine Verspätung. Wir waren gestern nach der Vorstellung von einigen Freunden der Eltern zum Abend essen eingeladen, im „Deutschen Hanse". Da wurde es sehr spät. Und heute mußte ich dazu noch länger proben als sonst. Die „Diana" wird immer widerspenstiger. Da habe ich des Nachmittags die Zett verschlafen." Es lag eine solche Unbefangenheit in diesen Worten, eine solche Lieblichkeit tn der Art, mit der sie dieselben vor brachte, daß dieselbe jeden anderen Mann entwaffnet Hütte — nur -en Doctor nicht. Der verstand heute keinen Spatz. Der fühlte nur, daß seine Stunde, die längst erwartete, gekommen sei. „Ich kann solche Entschuldigungen nicht gelten lassen, Fräulein Koralli, ein für alle Mal nicht; ich muß dringen bitten, daß Derartiges nicht wieder vorkommt, sonst . . ." Er vollendete den Satz nicht, aber seine Lippen kniffen sich hart aufeinander. So hatte ihn Miß Ellida nie ge sehen, nie gehört. Furcht und Bestürzung zeigte sich auf dem hübschen Antlitz. Ohne ein Wort zu erwidern, setzte sie sich auf ihren gewohnten Platz. Er aber war stehen geblieben. „Ucberhaupt, Fräulein Koralli, habe ich noch einige Wünsche an Sie. Zuerst wäre es mir lieb, wenn Sie mich nicht immer Herr Mollinar, sondern, wie ich es nun einmal gewöhnt bin, Herr Doctor nennen möchten. Ferner möchte ich bitten, -ab Sie wenigstens während des Unterrichts den Hut abuähmen." Schweigend erhob sich Miß Ellida, schweigend that sie, wie er befahl. Etwas Mechanisches lag in ihren Be wegungen, als sie langsam den Hut mit der großen, rothen Feder ablegte. Jetzt saß sie ihm wieder gegenüber; der Hut beschattete das Gesichtchen nicht mehr, wie sonst; er sah es in seinem ganzen, lieblichen Reize. Die schwarzen Haare, die des Abends nach allen Künsten mit der Brennschcere bearbeitet wurden, fielen wirr und ungeordnet auf die gelbliche Stirn bis an die Nasenwurzel herunter; in den kastanien farbenen Augen, die zwischen den langen Wimpern brannten, lag eine Mischung von Traurigkeit und bitterem Trotz. Etwas WtldeS, Unbezwingbares sprach aus diesen Augen, diesem Antlitz, in dessen südländischen Typus Eins nur nicht passen wollte und ihm vielleicht gerade deshalb einen eigenthümlichen Zauber verlieh. Das war daS kühne Stumpfnäschen, mit den dünnen, breiten Flügeln, die jetzt merkbar bebten. Er begann mit einigen Fragen auS der Geschichte deS Vaterlandes. Es waren die einfachsten Dinge, aus die er sich stets beschränkte, aber sie antwortete ihm verwirrt und ohne Aufmerksamkeit. Er verlieb dies Gebiet und ging zu einigen ebenso leichten Stücken der deutschen Literatur über — er laS mit ihr eine Ballade von Schiller, der sie noch in der letzten Stunde mit Freude zugchört hatte. Heute hallten die Worte wie ein leerer Klang an ihrem Ohr vorüber. Sie vermied, ihn anzusehen. Sie hörte nicht einmal, was er laS oder sagte. Da riß dem Doctor die Geduld. „Fräulein Koralli", sagte er und schloß das Buch, „ich möchte eine Frage an Sie richten. Wozu nehmen Sie eigentlich diese Stunden ?" Die Worte waren ihm nicht leicht geworden. Er hatte schon eine ganze Weile gekämpft, ehe er sie aussprach. Je größer aber seine Verlegenheit war, desto härter und herausfordernder klang seine Frage. Da erwachte in dem verwöhnten Kinde, das sich schon lange aufs Schwerste gekränkt gefühlt, der ganze rebellische Trotz, den sie bis jetzt tn sich verschlossen hatte. „Warum ich diese Stunden nehme?! Sehr einfach. Weil ich muß. Ja, weil ich muß, Herr Doctor Mollinar. Ich habe ja immer bis jetzt gemußt und nie gewollt! O, dieses ewige Müssen! Erst schlug mich der Papa mit der Peitsche, wenn ich nicht wollte, und jetzt, wo ich meine Arbeit lieb habe, wo ich alle meine Zeit für sie brauche, jetzt quält mich die Mama von des Morgens früh bis des Abends spät mit dieser schrecklichen Weisheit. Sie ist in ihr groß geworden, jetzt verlangt sie von mir das Gleiche!" „Also nur, weil Sie müssen, Fräulein Koralli, weil Ihre Eltern darauf bestehen, sind Sie zu mir gekommen?" „Nein", sagte Miß Ellida nach einem kurzen Schweigen, und aus ihren Worten klang eine lebhafte Aufrichtigkeit, „nicht immer. Ich bin manches Mal auch gern gekommen. Wenn Sie ein Gedicht mit mir gelesen haben, das ich ver stand, oder mir manches Schöne erzählt haben aus der Geschichte, dann habe ich mich gefreut und habe auch darüber nachgedacht, mehr vielleicht, als Sic glauben. Und wenn Sic mit mir sprachen, wie ein anderer Mensch noch nie mit mir gesprochen hat, dann bin ich Ihnen dank- bar dafür gewesen, Herr Doctor Mollinar. Aber —" „Aber?" sagte er schnell, als sie stutzte. Noch immer zauderte sie, als könnte sie ihm das doch nicht sagen. Dann jedoch erhob sie sich von ihrem Sitz und fuhr nun fort, die dunklen Augen unbeirrt auf ihn geheftet. „Aber sehen Sie, Herr Doctor Mollinar, so Manches, waS Sic mich lehren, das verstehe ich doch nicht, trotz aller Ihrer Mühe. Das zu lernen ist mir ein Zwang. Und wenn Sie mich gar tadeln wegen meiner schlechten Ma nieren, für die ich doch nichts kann, Sic wissen nicht, wie weh mir das thut. Ich habe cs ja längst gemerkt, wie un zufrieden die Madame, Ihre Mutter, mit mir ist. Ich weiß cd, ja, ich habe es gefühlt vom ersten Abend an, als wir hier zu Ihnen kamen, baß wir zueinander nicht paffen. Sie nicht zu uns und wir nicht zu Ihnen! Aber ich lasse mich nicht knechten, auch von Ihnen nicht, Herr Doctor Mollinar! Wir sind eben nur Zigeuner. Und ich will nichts Anderes sein. Ich will es bleiben, wie es mein Vater ist!" Der Doctor stand jetzt gleichfalls auf. „Und ich werde der Letzte sein, der Sie daran hindert, Früutein Koralli. Ich habe Ihnen diesen Unterricht gern gegeben. Jetzt aber, wo Sie mir sagen, daß er Ihnen nichts als ein Zwang gewesen, ist mir meine Zeit zu kostbar geworden. Dies war unsere letzte Stunde! Ich selber werde Ihrer Mutter meine Entscheidung mitthcilen." Miß Ellida entfärbte sich und senkte betroffen das Haupt. „Tie arme Mutter!" sagte sie leise, aber kein Wort weiter, und setzte den großen Hut aus die üppigen Haare. An der Thür blieb sie einen Augenblick stehen; dann aber verließ sie mit um so schnellerem Schritt das Zimmer. Der Doctor war allein. Murrend und grollend ging er in seiner Stube auf und ab. DaS war also der Erfolg seines Bemühens, das der Dank, den er geerntet. Ein Zwang waren ihr diese Stunden gewesen, weiter nichts! Und jetzt war die kleine Zigeunerin froh, diesem Zwange entlaufen zu sein. Und er? Mitten in seiner Wanderung blieb er stehen. „Set ehrlich gegen Dich selber, Fritz!" murmelte er vor sich hin. „Sollte dieses Mädchen am Ende nicht ganz so im Unrecht sein? Wer war cs, der so oft auf die moderne Erztehungsmeise gescholten hat, auf dieses Außermytlassen der einzelnen Persönlichkeit. Diese Aeußcrlichkeit in der Einprägung von allerlei Kenntnissen, die innerlich zu ver arbeiten das Gcmttth noch zu unreif ist. Das warst Du, Fritz Mollinar! Und was hast Tn jetzt gethan? Dasselbe Princip, dem Du bei jeder Gelegenheit zu Leibe rückst, diesem K'ndc der Freiheit gegenüber hast Tu cs durchsetzen wollen. Trcssur war eS, die Tu ihm geben wolltest. Dressur in seiner Bildung, Dressur in seinen urwüchsigen Manieren. Ja, sei ehrlich gegen Dich selber! Ten Meister wolltest Du ihm zeigen, den Herrn! DaS hattest Tu Dir feierlich ge lobt, als Tu tu den ersten Stunden schon diesem Mädchen gegenüber Deine ganze Hilflosigkeit fühltest. Und als eö sich aufbäumte gegen den Zwang, den Tu ihm authun wolltest, als es sich Deine Herrscherfüße nicht ohne Gegenwehr auf den freien Nacken setzen lassen wollte, da erwachte der Schulmeister in Dir, da fühltest Tu Dich in Deiner Würde gekränkt und wiesest ihr empört die Thür. Du hast Deine Probe schlecht bestanden. Du bist ein
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