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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.08.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-08-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020820020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902082002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902082002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-08
- Tag1902-08-20
- Monat1902-08
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Sie lautet im Wesentlichen — einige scharfe Redewendungen glauben wir auslassen zu sollen — wie folgt: „Wie osficiell gemeldet wird, hat der Minister des königlichen Hauses und Les Aeußeren, Graf Crailsheim, einen mehrwöchi gen Urlaub angetreten. ES ist also anzunehmen, daß alle wich tigeren politischen Fragen bis aus Weiteres vertagt sind, und daß auch die Angelegenheit deS bekannten Depeschenwechsels zwischen dem Kaiser und dem Prinz-Regenten zu einem Stadium gelangt ist, welches die Anwesenheit des leitenden Ministers entbehrlich er scheinen läßt. Es steht nunmehr vollkommen fest, daß die Veröffentlichung des Depeschenwechsels — und nur diese giebt der Sache ihre verhängnißvolle Bedeutung — ausschließlich auf Befehl des Kaisers erfolgt ist, nachdem sie von bayerischer Seite, wo man das Peinliche des Vorgangs von Anfang an sehr lebhaft empfand, abgelehnt worden war. Am Hoslagerj des Prinz-Regenten machte, wie wir hören, die Veröffentlichung, die man erst auS den Zeitungen ersah, eine Wirkung, für welche die Bezeichnung „Ueberraschung" auch nicht annähernd er- schöpfend ist. Von Berlin aus wird versichert, der Kaiser habe keine Ahnung davon gehabt, welche Wirkung diese Veröffentlichung in Bayern haben und welchen Gebrauch da- Centrum von derselben machen werde, und man muß dieser Versicherung Glauben schenken, obgleich cs schwer fällt, anzunehmen, Laß dem Reichsoberhaupt die Kenntniß der Stimmungen und Verhältnisse im zweitgrößten Bundesstaate abgeht. Mit welchen Mitteln die durch den Depeschen wechsel auch in Kreisen, welche mit dem Ccntrum nichts zu thun haben, erzeugte Erregung seitens der Centrumspresse noch zu steigern und zu vergiften gesucht wird, davon nur ein Beispiel. Die „Pfälzer Ztg.", das Organ eines bayerischen LandtagSabgeordneten, gewährt folgendem niederträchtigen Hetzartikel an hervorragender Stelle Ausnahme: „Beim Lesen des Telegramms des Kaisers an Se. königl. Hoheit den Prinz-Regenten, wonach der Kaiser dem Prinz- Regenten 100000 ./L anbietet an Stelle der von der Kammer der Abgeordneten abgclehnten Summe zur Anschaffung von Kunstwerken, kommt einem unwillkürlich der Gedanke: Wie wäre es, wenn Se. Maj. der König von Preußen die dreißig Mil lionen Gulden, welche im Jahre 1866 Bayern an Preußen zahlen mußte, wieder an Bayern herauszahlen würde? Dieser Gedanke wurde ja schon im Jahre 1870/71 geäußert, alS Frankreich 5 Milliarden Mark zahlen mußte. Mit diesen 30 Millionen Gulden ----- 51 Millionen Mark, verzinslich angelegt, können auf die Dauer jährlich zwei Millionen aufgewcndet werden zur Ablösung von Grundzinsen, WohnungsgelL- Zuschüssen rc. Das wäre eine Wohlthat, die dem ganzen bayerischen Volke zu Gute käme und dem deutschen Kaiser den Dank des ganzen Bayernlandes sichern würde." Für derartige schamlose Hetzereien gegen das Reich machen Vorgänge, wie der in Rede stehende, auch Kreise empfänglich, die sonst der klerikalen Agitation nicht zugänglich sind. Wir meinen, daß gerade die Vertreter des NeichSgedankens in Bayern die Pflicht haben, offen und nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen, wie verhängnißvoll Actionen von der Art deS Depeschen- Wechsels bei uns wirken; nach den bisherigen Erfahrungen können wir allerdings kaum hoffen, daß der Kaiser einer Einreoe zugänglich ist, aber wir wollen wenigstens unsere Pflicht gethan haben/' Dieser Auslassung lassen wir zunächst die Bemerkungen folgen, welche die „Nat.-Zlg." an sie knüpft: „Der Befehl an das Wolsj'sche Bureau, die beiden Telegramme zu veröffentlichen, muß unseres Erachtens als eine Negie rungshandlung erachtet werden, und zwar, wenn die Angaben über die vorausgegangene Verhandlung mit dem bayerischen Hose richtig sind, als eine Regierungs handlung von erheblicher Bedeutung, welche das Verhältnis) Preußens und der Reichsgewalt zu einem Bundesstaate berührt. Tie preußische Verfassung (Art. 44) besagt: „Tie Minister Les Königs sind verantwortlich. Alle Negierungsacte Les Königs be- dürfen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt". Die Reicksverfassung (Art. 17) besagt: „Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung Les Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt". Daß der Kaiser persönlich dem Wolff'schen Bureau besohlen habe, die beiden Telegramme zu ver öffentlichen, wird, bis es etwa festgestellt wird, Niemand an nehmen. Wer hat den Befehl erlassen? Ter Reichskanzler oder ein preußischer Minister? Tann würde formell Alle» in Ordnung und der Reichskanzler oder der betreffende Minister würde verantwortlich sein. Aber schon die Nichterwähnung der beiden Telegramme im „Reichsanzeiger" schließt Liese Annahme aus. Wer hat also den Befehl zur Veröffentlichung ertheilt? Der Chef LeS CivilcabinetS, Herr von Lucanus, ist unseres Wissens leidend und befindet sich deshalb seit einiger Zeit nicht in der Begleitung Les Kaisers. Ist der Befehl von dem Stellvertreter LeS Cabinets-Chefs, Herrn vonValentini, er theilt worden? Oder von einem Adjutanten, oder von wem sonst? Wer es auch sein mag, er würde ohne Berechtigung eine ministerielle Function ausgeübt haben. Daß der „Negierungsact", die „Anordnung" oder „Verfügung" deS Kaisers infolge dessen „ungiltig" sein würde, ist eine im vor liegenden Falle bedeutungslose, lediglich formale Folgerung. Worauf es ankommt, das ist die Frage: was der Reichskanzler und Las Staatsministerium — die Nichtigkeit der obigen Mit theilungen vorausgesetzt — gegen die Ausübung der ihnen ob liegenden, verantwortlichen Pflichten durch nicht Lazu befugte Personen zu thun gedenken." Daß der Befehl zur Veröffentlichung der beiden Depeschen eine Regierungöhandlung ist, und zwar eine sehr be deutungsvolle, weil die Veröffentlichung von bayerischer Seite abgelehnt worden war, ist unbestreitbar. Und daß eine solche Ablehnung erfolgt war, kann man bei den Beziehungen der „Augsb. Abendztg." zur bayerischen Regierung nicht be zweifeln. Daö preußische Staatsministerium bat aber unseres Erachtens mit dieser Regierungöhandlung deS Kaisers nichts zu schaffen und eine Verantwortung für sie nicht zu übernehmen. Daö dürfte allein Sache LeS Reichskanzlers sein, dem jedenfalls die Pflicht obliegt, nicht nur festzustcllen, wer dem Wolff'schen Bureau die Depeschen zur Veröffentlichung überbracht hat, sondern auch — und das vergißt die „Nak.-Ztg." —, zu untersuchen, wie dieses Bureau dazu gekommen ist, wenigstens den nicht bayerischen Blättern die irreführende Meldung zu machen, es sei nicht von Berlin, sondern von München auS zur Veröffentlichung veranlaßt worden. Daß der Kaiser von dieser Meldung nichts gewußt hat, ist selbstverständ lich. Von besonderer Wichtigkeit aber ist cö, den Urheber festzustellen, da er zu der irrigen und in Bayern besonders anstößigen Annahme geführt hat, der Münchener Hof habe vie Veröffentlichung verursacht, um die das Cen trum betreffenden scharfen Worte deS Kaisers bekannt werden zu lassen. Ist erst dieser Annahme der Boden völlig ent zogen, so wird sich die Aufregung in Bayern wenigstens etwas beruhigen. Es bleibt freilich noch genug zurück, waS die Erinnerung an die Veröffentlichung nicht nur in Bayern noch lange erhalten wird — länger jedenfalls, als der „Fall Löbning", mit dem ein Tbeil der Presse sich tagtäglich in spaltenlangeu Artikeln beschäftigt, um Len politisch ungleich wichtigeren, aber auch heikleren „Fall Berlin-München" kurz abthun zu dürfen, der wieder einmal eindringlich die Be rechtigung der Mahnung Bismarck'S beweist, der Monarch möge sich möglichst selten ohne „ministerielle Bekleidung" vor der Öffentlichkeit bewegen. In erfreulichem Gegensätze zu den mannigfach in deutschen Blättern erhobenen Klagen, daß die deutschen Interessen im Auslände nicht genügenv gewahrt würden, steht eine elegische Auslassung der „Shanghai-TimeS" vom 11. Juli über die Bevorzugung der Deutschen gegenüber den Eng ländern und den Amerikanern bei Auszahlung der aus Len Boxer-Unruhen dalirenden Entschädigungs ansprüche. DaS englische Blatt in Shanghai schreibt u. A.: „Unsere deutschen Freunde können sich aufrichtig beglück wünsche», einen offenkundigen Vorsprung vor ihren englischen und amerikanischen Wettbewerbern im fernen Osten davon getragen zu haben. Diesmal liegt der Sieg nicht aus dem Gebiete des Handels, sondern ist mehr diplomatischer Natur, da er die Alles umfassende Frage der Auszahlung der von China zu zahlenden Entschädigungen auS den Boxer-Ausständen vor zwei Jahren betrifft. Von allen Nationen, welche aus dieser höchst denkwürdigen Zeit an China Forderungen zu erheben haben, sind nun die Deutschen die Ersten, welche etwas auf Grund ihrer Rechnungen ausgezahlt erhalten, während die anderen Nationen auch noch nicht einen Schimmer chinesischen Geldes zu sehen be kamen und wahrscheinlich auch noch manchen lieben Tag daraus warten müssen." Dir „Shanghai-Times" giebt dann LaS vom 22. Juni datirte energisch gehaltene Circular deS deutschen General- ConsulS Knappe wieder, daö den MoouS der Auszahlung der Entschädigungsansprüche für die chinesische Regierung bestimmt, und jährt dann fort: „Und wirklich, die Auszahlungen seitens der Deutsch-Asiatischen Bank nahmen am 10. Juli ihren Anfang. Manch schönes Stück Geld der kaiserlichen Majestät zu Peking erhielten jene Leute für ihre Ansprüche, die glücklich sind, in Kaiser Wilhelm II. ihren Souverän zu sehen." Dann ergießt sich die volle Schale deS Zorns der „Shanghai-TimeS" über die unglücklichen englischen unv amerikanischen Gcneralconsulu, die eS nicht verstanden, die Ansprüche ihrer Landsleute durchzudrücken. Ingrimmig heißt es dann schließlich: „. . . . Tie Chinesen bezahlten den Deutschen das Geld — zum Theil wenigstens — aus und werden mit dem freundlichsten Gesicht so sortfahrcn, bis Alles bezahlt ist oder der mächtige Schirm ¬ herr der Deutschen, Kaiser Wilhelm II., den Gott erhalten möge, wird sie moros lehren. Die Engländer und Amerikaner gehen mit den Chinesen zu höflich um (??). Die Deutschen dagegen wissen, daß der geschmeidige, schlaue Orientale sich seinen Verpflichtungen entzieht, wo er nur immer kann, und verstehe» deshalb keinen Spaß. Diese rasche Erledigung der deutschen Ansprüche ist ei» neuer, thatjächlicher Triumph für die brüske, sich nicht mit vielem Verhandeln abplagende deutsche Diplomatie. Das ist die von Bismarck beliebte Methode, die sich heute noch ebenso erfolgreich erweist, wie sie cs in den Händen des „Eisernen Kanzlers" gegen über einem ganz anderen Volk und Laud vor einigen dreißig Jahren trübseligen Andenkens war." - Die kleine^ diplomatische Niederlage der Engländer in Shanghai in Sachen der Entschädigungsansprüche ist natürlich lediglich auf die Gutherzigkeit Englands zurückzuführen! Wer verspürte darüber nicht mitleidvolles Rühren? AuS dem elegisch grimmigen Ergüsse der „Shanghai-TimeS" spricht aber die unumwundenste Anerkennung für die diplomatische Geschick lichkeit unseres deutschen Generalconsuls I)r. Knappe und das Ansehen, welches der deutsche Name sich im fernen Asien erworben hat. Uebcr daö Ergebniß der vorige Woche zum Abschluß gelangten Eoufcreii; der colonialen Minister öcS britischen Reiches schreibt vr. Carl PeterS in der Londoner „Finanz- Chronik" u. A.: Zum ersten Mal ist durch die Conferenz von 1902 das britische Reich als eine commerzielle Einheit anerkannt worden. Tie Colonialminister haben Las Princip von Differentialzöllen zwischen England und seinen überseeischen Besitzungen zugestande». Nach Art des Vorgehens von Canada sollen von jetzt ab auch in den anderen Colonien englischen Gütern Erleichterungen gegenüber Len ausländischen ge- währt werden. Aber cs soll dabei nicht einheitlich reglemeutirt werden, sondern man will cs jedem einzelnen Gebiet überlassen, seinen Bedürfnissen gemäß, selbstständige Zollbedingungen zu schaffen. Von diesem Beschluß bis zu einem großbritannischen Zollbund ist noch ein weiter Weg. Jndeß ist der Anfang dazu gemacht; und vermuthlich wird eS den britischen Reichstheilen ähnlich gehen, wie Len Staaten deS deutschen Zoll bundes. Auch in Deutschland gab es vor Einführung der Zoll einheit bekanntlich eine Unmenge von Erwägungen, welche da meinten, daß diese oder jene Provinz in ihren Sonderinteressen durch Las Auf gehen im Ganzen geschädigt werden würde, während sich Loch schließ lich herausstellte, daß der „Sprung ins Dunkle" Allen zum Segen gereichte. Diese Schädigungen in einzelnen Zweigen gleichen sich nämlich am Ende auS, und Alle gewinnen durch den erhöhten Handelsumsatz, welcher die sichere Folge der Verbindung ist. Das industrielle England könnte sich getrost mit seinen ackerbautreibenden Colonien zollvereinlich zusammen- und gegen das Ausland abschließen; LaS Endergebnis müßte ein Aufschwung aller Betriebe in Europa und über See, und schließlich die wirthschastliche Unabhängigkeit deS Größeren Britanniens von der übrigen Welt sein. Zwar ist Groß- britannicn heute noch aus Getreide aus Argentinien, Fleisch aus den Vereinigten Staaten, Obst und Gemüse aus Frankreich, Deutsch- land und Holland, Butter aus Dänemark rc. angewiesen; Feuilleton. Das Fräulein von Saint-Sauveur. 15s Roman von Gröville. ('Nachdruck verboten.) Fünfzehntes Capitel. Jehan von Olivettes war ans dem Schauplatze seiner Triumphe von Neuem aufgetaucht. Doch klüger als daS erste Mal, miethcte er sich zwei Zimmer bei einer guten, alten Frau, so daß der Dichter nunmehr auch in Bourges ein Heim besaß. Dieser Umstand gestattete ihm, die an ihn ergehenden Einladungen nach Gutdünken anzunehmcn oder abzu lehnen, sowie der Dinge zu harren, die Va kommen sollten. Ter Herbst, der in dieser Gegend stets herrlich ist, be günstigte die Jagden, sehr zum Nachtheil der edlen Dicht kunst; immerhin begann man an den Abenden zu em pfangen, und ein Diner folgte dem anderen. Wiederholt traf er in den Häusern, in die er geladen war, mit An toinette zusammen, ohne daß er aber mit ihr sprechen konnte; denn der Marguis und Landry ließen ihn nie mals hcrankvmmcn. Da Jehan nicht reiten konnte, so mußte er auf das Vergnügen der Jagd verzichten, was ihn gar mancher Gelegenheit beraubte, sich zur Geltung zu bringen. Als er eines Abends stach einer dieser Jagden bet Fran von Ornus geladen war, fand er sich ein wenig zu früh ein. Diesen Fehler begehen alle Leute, die von Anbeginn an nicht den guten Kreisen angchören; denn keinerlei Vorschrift, keinerlei Anstandsregel vermag Einem das richtige Vcrständniß für den Augenblick beizubringcn, da man sich als Gast etnzufindeu hat. Ties gehört mit zu den vielen Dingen, die dem Menschen angeboren sein müssen, die sich nicht durch Erziehung aneigncn lassen. Ter Abend brach an. Jehan hatte gedacht, baß die Jagdtheilnchmer vor Eintritt der Nacht heimkchren wurden, und er wollte sich an diesem Augenblick ergötzen, um den gewonnenen Eindruck dichterisch auszunützen, gleichviel, ob in gebundener oder ungebundener Rede. Doch er sah sich in seiner Erwartung getäuscht, und so suchte er nach einer barmherzigen Seele im Schlosse, die ihm Gesellschaft geleistet hätte, ohne indessen Jemand zu finden. Die Herren oder Damen, die sich den Jagdtcheilnehmern nicht angeschlossen hatten, weilten in ihren Zimmern, und so beschloß denn Olivettes, sich unter dem fallenden Laube zu ergehen, das von einer ganzen Schaar von Gärtnern zwar fortwährend hinweggeschafst wurde, aber die Wege trotzdem immer wieder bedeckte, da die warme Herbstsvnuc seinen Fall noch beschleunigte. Lctobcrbetrachtungen sind selten heiter; diejenigen des Dichters aber waren geradezu trostlos. Seine Angelegen heiten gediehen nicht; dieser Umstand war nicht hinweg- zuleugnen. Aolande war — aus weiser Berechnung — unzugänglicher geworden; vielleicht auch erschien er ihr weniger verführerisch, als in den ersten Tagen. Dabei hatte sich Jehan, der den Quartalsbetrag seiner beschei denen Leibrente behoben hatte, sehr elegant ausgestattet; allein, das Sammctwnms war nicht mehr zn sehen, besser gesagt, es hatte seinen Werth verloren. Auf dem Ball, der dem Diner folgen sollte, würde auch Wlandc erscheinen; das hatte Fran von Ornus nicht ohne ein boshaftes Funkeln der schönen, kalten Augen dem Dichter selbst vcrrathcn. Sollte er Alles auf seine Karte setzen, das heißt, auf die trügerische Hoffnung, Antoinette jemals zu erobern, cndgiltig verzichten und sich mit voller Kraft der Bestürmung der Festung TonrnellcS widmen? Auch damit setzte er sich einer großen Gefahr aus. War der Augenblick nicht bereits verstrichen und versäumt worden, da cs ihm möglich gewesen wäre, König in dem modernen Schlosse zu werden? Bei diesem Punete seiner Erwägungen augclangt, mußte sich Jehan gestehen, daß er allein die Schuld daran trage. Weshalb hatte er ans den errungenen Vvrtheilcn keinen besseren Nutzen ziehen können? Tas köstliche Ge sichtchen Antoincttcn's hatte ihn in Bande geschlagen, und wie ein richtiger Dummkopf hatte er sich . . . Jehan erhob sich hastig von der Bank, auf welcher er bisher gesessen. Die Bank war aus Stein, und um sechs Uhr Abends im Oktober ist jeder Stein kalt, zumal, wenn man sich in Salontoilcttc befindet und nur einen dünnen Ucberztehcr hat, um sich gegen die Kälte zu schützen. Er machte einige Schritte uud stand bei der Biegung einer Allee vor dem Baron, den er unehrerbietig genug cincu alten Geck zn nennen pflegte. „Ah, Sie sind eS?" fragte der Baron, sein Glas zurecht rückend. „Sic gehen also nicht auf die Jagd ?" / Olivettes mußte seine geringe Vertrautheit mit den Jagdgebräuchen eingestchen, worauf der alte Edelmann fortfuhrr „Ich selbst jage nicht mehr. Ich hatte eine herrliche Stute, herrlich, sage ich Ihnen! „Loeuste" hieß sie, Vater „Wellington", Mutter „Glycine"; ein göttliches Thier! Sie brach sich ein Bein, als sie einst in ein Manlwurfslvch trat. Haben Sie schon einmal ein solches Pech gehört? Seither wollte ich kein anderes Thier mehr besteigen; ich bethätigc auf diese Weise meine Trauer um den erlittenen Verlust." „Alter Narr!" sagte sich Jehan im Stillen. „Wird er vielleicht über lauter Pferde schwatzen, bis man zu Tische geht?" „Nur ein Pferd giebt es, welches ich vielleicht noch be stiegen hätte", plauderte der Baron weiter. „Doch nun hat es Villorö angekaust. Es freut mich, daß es gerade in seine Hände kam; denn Villorö allein ist dieses Hengstes würdig. Er heißt „Lneifcr". Kennen Sie ihn?" „Wen? „Lneifcr?" „Nein, Villorö?" „Ja, ich kenne Herrn von Villorö ein wenig." „Ein ausgezeichneter Reiter, der mit Pferden Bescheid weiß, wie kaum ein Zweiter. Wollte er rennen lassen, so würde er uns alle Preise vor der Nase sortschnappen. Doch er will nicht." „Weshalb denn nicht?" „Weiß der liebe Gott; ich glaube, weil er sich nicht be merkbar machen will." „Daran tbut er Unrecht", meinte Jehan. „Nicht wahr? Ein so trefflicher junger Mann! Und welch' ein Pferd dieser „Lneifcr" ist! Gern möchte ich Villorö auf seinem Rücken sehen. Dieser Hengst thut Alles, was man von ihm will, man kann ihn an einem Seiden faden lenken." „Wen? Villorö?" „Nein, sondern „Lneifcr". Der vermag sich im Kreise zu drehen, wie ein Kreisel. Doch da kommen ja schon unsere Jäger!" Das geübte Ohr deS BaronS hatte schon von Weitem die Töne der Jagdsanfare vernommen; ohne sonderliche Eile wendete er seine Schritte dem Schlosse zu, und Jehan folgte ihm. In dem großen Hofe deS FcudalschlvsseS, der mit einem Male von fünfzig gualmcndcn Fackeln crbellt wurde, waren die Jäger angclaugt. Wie eine fröhliche Bewegung ging cs durch die frische Abcndluft, die unter den dichten Acsten der mächtigen Eichen ziemlich kühl zu nennen war. Eine Atmosphäre des Triumphes, der etwas Wildes und dennoch auch etwas Hochcivilisirtes an sich hatte, ver breitere sich mit einem Riale bei der in schönster Ordnung erfolgenden Ankunft der herrlich berittenen Jäger, der an Riemen festgchalteuen Hunde, der Treiber und bei dem lustigen Klirren der Kinnketten und des Zaumzeuges. Jehan betrachtete mit einer Regung tiefen Zornes dieses sogenannte königliche Vergnügen, diesen Uebcrrest einer früheren Epoche, an dem er trotz aller Bemühungen nicht theilnehmen konnte; denn man lernt nicht mehr fest zu Pferde sitzen, wenn man einmal die Dreißig hinter sich hat und man in seiner Jugend nur die hölzernen Pferde des Carvussels unter sich getummelt hat. Inmitten der Fanfarenbläser erblickte man den er legten Hirsch auf einem Lager von grünen Blättern. Bei dem Helten Scheine der weißen Wachssackeln trat Landrn ro>r Villorö heran, und indem er auf einen Wink der Frau voll Ornus sich Antoinette näherte, erklärte er, daß die Jagdbeute ilir zu Ehren erlegt worden sei. Tic auf einer herrlichen Fuchssiutc sitzende junge Dame ritt einige Schritte neigte sich über das erlegte Wild und dankte ihrem Vetter mit einem köstlichen Lächeln, das gleich einem schärfet» Dolche dem Dichter iu's Herz dyang. Tie Hunde bellten und rissen an den Riemen; denn sic wollten ihren Anthcil an der Bente haben; die Hörner schmetterten, und ringsum erstrahlten der Park und das Schloß in leuchtendem bengalischen Feuer. Inmitten des Qualmes und der tanzenden Lichtreflere glitten Herren und Damen aus den Sättel» und stiegen langsam die Stufen der Freitreppe binan „Sic bat das Aussehen einer Prinzessin", sagte sich Jehan. „Sie ist Euryanthe in Person. Und ich — ich bin nur ein Bauer, für den ;')olande gerade gut genug sein wird", fügte er voll Bitterkeit hinzu. „Unser Adel wiegt sich gegenseitig auf." Der Hof war wie durch Zauberei leer geworden; daS bengalische Licht erlosch, die Hunde waren in den Stall gebracht worden, und das Pflaster deS HofcS wurde reich lich mit Waller besprengt, um die Spuren der Reiter und der Tlüere binwegzuspülen. Traurig langte Jehan als Letzter im Schlosse an, wo er sich in das Rauchzimmer begab, während die Jagdtheilnchmer sich in ihre Zimmer zuruckr"gen, nm die Kleider zu wechseln. Der alteBaron, dem solch' einAnblick nichts Neues mehr war, hatte sich in der Nähe des hell flackernden Kamin- fencrS in einem bequemen Fautenil niedergelassen, wo er friedlich cingeschlummcrt war; bet dem Scheine einer halb
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