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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.10.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021006014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902100601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902100601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-10
- Tag1902-10-06
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Er hatte erwartet, in Weimar mit Besorgnissen empfangen zu werden,' statt dessen begrüßte ihn der Großherzvg mit den Worten: „Sie sind uns durch Ihre Schriften aufs beste ernpfohlen, und Wir empfangen Sie mit dem vollsten Ver trauen!" und der weimarische Minister v. Watzdorf, dieser national und liberal gesinnte Staatsmann, behandelte B. wie einen vertrauten politischen Freund. Und wie hat B. dieses Vertrauen gerechtfertigt! Seit der Begegnung mit dem Minister v. Watzdorf ist kaum eine wichtige Frage an B. herangetreten, wo er nicht dessen Rat gesucht hätte. Nach dem Wunsche des Ministers hat B. von einer aktiven Teilnahme am Nationalverein abgesehen, um nicht den Anschein zu erwecken, als ob er im geheimen Auftrage der weimarischen Regierung die dort verkörperten Be strebungen fördern helfe. Der Herzog Ernst von Coburg liebte cö, Literaten, Schriftsteller an seinen Hof zu ziehen; als Gustav Freytag B. nahelegte, sich dem Herzog zu nähern, lehnte er es ab um in Weimar nicht zu verstimmen. B. konnte auch sonst die Stellung des Herzogs zum Nationalverein, mit dessen Führern dieser in Verbindung stand, nicht billigen; denn einem Fürsten müsse es als Indiskretion ausgelegt werden, mit Parteihäuptern über diskrete Angelegerilieiten der hohen Politik zu sprechen; andrerseits dürfe ein politischer Verein sich nicht in solche Abhängigkeit von einem Fürsten begeben. An B. gelangten während seines Aufenthaltes in Wei mar wiederholt Aufforderungen zur Ucbernahme aus wärtiger Redaktionen. Eine süddeutsche Handelsgesellschaft erstrebte die Zulassung in Preußen und bot als Gegen leistung die Unterstützung der deutschen Politik Preußens im Süden durch eine Zeitung großen Stiles. B. war zum Redakteur ausersehen, lehnte das Anerbieten aber ab. Ein andres Mal erging an ihn die Aufforderung, die offiziöse „Preußische Zeitung" in Berlin, die sogenannte Stern- zeitung zu redigieren. In allen diesen Dingen zog er den Minister zu Rate; ihn hörte er, bevor er sich entschloß, die Redaktion der Brockhausschcn „Deutschen Allgem. Ztg." in Leipzig zu übernehmen; und alS diese Zeitung 1864 in Preußen verboten wurde, da bat er um die Meinung des Ministers, ob denn solches Verbot durch irgend etwas im geringsten gerechtfertigt war! In seinen Memoiren finden Sie wörtlich abgcdruckt einen Brief des Ministers aus dem Jahre 1865, aus der Zeit, wo B. mit dem Gedanken sih trug, den Wiedereintritt in die akademische Stellung anzu streben. Er hatte beim Minister angesragt, was er wohl zur Verwirklichung dieses Wunsches thun, ob er namentlich einen Schritt beim Ministerium unternehmen sollte, dem selben Ministerium, das im Jahre 1854 seine Entsetzung ausgesprochen hatte. Und der Minister antwortete in einem feinsinnigen Briefe mit einem motivierten Nein! Er sagt darin: es sei ihm kaum zweifelhaft, daß der Mi nister, wenn er auf B.s direktes Ersuchen die Rehabili tation ausspreche, ihn zu verbinden glaube; ebensowenig daß er es B. sehr verargen würde, wenn er seine publi zistische Meinung vorkommendenfalls gegen den Minister ober die königliche Negierung richten würde, und fährt fort: „das möchte sein! Aber würden Sie selbst sich ganz frei fühlen? Ich urtheile hier wieder nach mir, und sage nein! Mißverstehen Sie mich nicht. Wer mich durch irgend etwas wesentlich verbindet, wird mich damit keineswegs so gewinnen, daß ich Anstand nehme, das Rechte gegen ihn zu vertreten; aber im publizistischen Leben eine Opposition führen, bei welcher man ja öfters gegen die eigene Ansicht Zweifel hegen muß, ist etwas anderes. Hier kann ich mir denken, daß man sich gehemmt fühlt." — Es war an einem jener Sonntag-Vormittage, wo ich B. zu besuchen pflegte. Er holte seine Dokumentenmappe hervor und zeigte mir alle die Schätze, die sie barg. Einen Brief Arndts vom 8. Januar 1860 in grünem Couvert, wenige Tage vor seinem Tode geschrieben; er enthielt den Satz: er laufe noch 4 bis 5 Meilen ohne Krückstock über Berg und Thal; wenn doch die deutschen Dinge auch so laufen möchten! Dann das Schreiben des Reichskanzlers Fürsten Bismarck vom 21. Februar 1888 mit der Anzeige, daß B. aus dem allerhöchsten Dispositionsfonds eine jähr liche Rente von 8000 .< vierteljährlich im voraus zahlbar, gewährt sei; worauf B. dem Reichskanzler gedankt und ihn gebeten hatte, seinen Dank auch dem Kaiser zu übcnnittcln. Dann schon vorn 29. Februar ein weiteres Schreiben deö Reichskanzlers mit den rühmlichen Worten: „Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Dank und meine Anerkennung auszusprechen für die Treue Ihres durch keinen Wechsel der politischen Lage beirrten Fcsthaltens an dem nationalen Gedanken, und für die Tätigkeit, welche Tic für die Ver wirklichung desselben auch in Zeiten entfaltet haben, wo Aussicht auf Erfolg noch nicht vorlag." Endlich auch jenen oben erwähnten Brief des Ministers v. Watzdorff, den ich ihm vorlcsen mußte. Ich kenne keinen Namen, bei dessen Erwähnung sich die Züge des greisen B. so erhellten, und in seinem ganzen Lebenslaufe ist der Minister v. Watzdorf wohl die lichtvollste Erscheinung. Es kamen die Ereignisse des Jahres 1866. Don ihnen hat B. wenig gesprochen. Auf meine Bitten hat er mir einmal den Verlauf jener vielberufenen August-Versamm lung erzählt; ein andres Mal sagte er in seiner kargen Weise: es war ein eigenes Jahr! das aber war alles. Die geschichtlichen Ereignisse brachten ihm persönlich bittere Erfahrungen. B. hatte seine Grundanschauung über die politische Ge staltung Deutschlands entwickelt in seiner Rede für das preußische Erbkaisertum, gehalten im Frankfurter Parla ment am 15. Januar 1849. Dort sagte er.: die Vorteile des Bundesstaates sind größtmögliche Selbständigkeit, Selbst regierung der einzelnen Teile in der Form von mehr oder weniger souveränen Staaten. Diese Vorteile wollen und werden wir nie aufgeben; wir werden niemals zu einer Zentralisation kommen, wie sie die romanischen Völker gleichsam mit der Muttermilch einsaugen, mit welcher keine StaatSform gedeihen kann! Dahin werden wir nicht kommen; davor bewahrt uns der Genius des germanischen Geistes, der immer weniger nach der Einheit hin gravitiert hat, als nach der Freiheit und Vielseitigkeit. Diese Grundsätze hat er niemals verleugnet. B. hatte bis zum Jahre 1866 gegenüber der Bismarckschen Politik große Zurückhaltung beobachtet, weil er in ihr nur die Verfolgung preußischer Sonderinteressen erblicken konnte. Aus dieser Zurückhaltung trat er selbst dann nicht heraus, als Bismarck am 9. April 1866 beim Bundestage die Be rufung eines deutschen Parlaments zur Beratung einer Bundesreform beantragt hatte. Gleichwohl erblickte er im Parlament die beste Bürgschaft für eine friedliche Losung des Konflikts zwischen Preußen und Österreich und sah mit Besorgnis, wie das Bestreben Österreichs, die Schles- wig-Holsteinsche Krage durch den Bundesrat, nicht durch ein Parlament entscheiden zu lassen, von den Mittelstaaten unterstützt wurde. Bekannt sind seine Bemühungen um die Erhaltung des Friedens. Ich erinnere z. B. an seine Friedens-Adresse. Als dann die Schlacht von Kvniggratz geschlagen war, schrieb er: Preußen wird die sehr müßigen und berechtigten Forderungen, die es noch unmittelbar vor Ausbruch des Krieges stellte, auch nach diesen so raschen und glänzenden Erfolgen seiner Waffen nicht über das Maß dessen steigern, was ihm billigerweise schon da mals nicht hätte verweigert werden sollen. B. sagt darüber in seinen Memoiren, man hätte denken sollen, daß in einer solchen Behandlung der Frage wegen der künftigen Stellung Sachsens zu Preußen eher alles an dere gefunden werden mußte, als annexionistische Tendenz; aber man habe damals nicht zu unterscheiden gewußt zwischen förmlicher Einverleibung und bundesstaatlichem Anschluß an Preußen, und unter Aufrechterhaltung der Selbständigkeit Sachsens vielfach die Wiederherstellung des Zustandes vor dem Kriege, einschließlich des Bcustschen Systems verstanden. Dieser Möglichkeit vorzubeugen, darauf waren seine Bemühungen gerichtet, nnd so erklärt sich seine Resolution in der erwähnten Landesversamm lung vom 26. August 1866. Es war darin gesagt: Es lüge im Interesse des sächsischen Volkes, daß Sachsen nicht allein die Gesetzgebung in allen notwendig gemeinsamen An gelegenheiten an die Organe des Bundes übertrage, son dern auch seine Militärhoheit und diplomatische Ver tretung an die Krone Preußen abtrete. Und znm Schluß hieß es: nur unter diesen Beschränkungen erachten wir cs für möglich, daß der Fortbestand der Selbständigkeit Sachsens nicht den allgemeinen nnd auch den eigenen sächsischen Volköintercssen nachteilig werde. Das steht in scharfem Gegensatz zu dem wirklichen Annexionsantrag, der aus der Mitte jener Versammlung im Laufe der De batte auftauchte und eine große Mehrheit fand. B. hatte damit nichts gemein; er hatte den Antrag bekämpft und als die eigentliche, weil einstimmige Kundgebung der Ver sammlung vom 26. August nur seine Resolution ins Land verschickt. Es war ein Mißbrauch, daß vr. Joseph, indem er den Annexionsbeschluß an das preußische Abgeordneten haus telegraphierte, sich dabei der Mit-Unterschrift B.s be diente. Es hat B. nichts geholfen, daß er sich öffentlich dagegen verwahrte. Auf ihn, den Wortführer der Nationalliberalen, häufte sich aller Groll und alle Ver bissenheit der Gegner Preußens; und noch bis an sein Lebensende und darüber hinaus waren die Anschuldi gungen nicht zum Schweigen gebracht. Wie neulich der Geheimrat Planck seinem Freunde Bennigsen die Worte nachgerufen hat: Er war ein treuer und guter Hannove raner, so ist von B. zu sagen: Er war ein treuer und guter Sachse. Auch seine Töchter haben es aus eigenem Erfahren und Miterleben ost bezeugt: Vater war niemals Annexionist. Ganz bezeichnend für die Stellurrg B.s erscheint endlich sein Verhältnis zu dem Manne, in dessen Person sich Sachsenhaß und Annexionsgelüste verkörperten: zu Hein rich v. Treitschke. Treitschke war kein Geschichtschreiber nach B.s Sinn. B. vermißte an ihm vor allem die Nüchternheit. Ich erinnere mich einer Sitzung unsres Prcßausschusses aus der Zeit nach Treitschkes Tode. Die Zeitungen hatten einen Sknfruf wegen Errichtung eines Denkmals gebracht; das Denkmal sollte gar die Inschrift erhalten: Ihrem Geschichtschreiber die deutsche Nation. B. entwickelte die Gründe, ans denen er seine Beteiligung abgelehnt hatte. Er vermöge Treitschke als den Geschicht schreiber der deutschen Nation nicht anzuerkennen; er schreibe Geschichte vom preußischen Standpunkt aus, und oft in leidenschaftlichem Gegensatz gegen den deutschen Lüden. In einem Briefe an mich vom Jahre 1896 be klagt B., daß diesem Manne, dessen Hatz gegen Sachsen sich noch in späten Werken mehrfach kundgebe, gerade von hier aus und unter Beteiligung von Mitgliedern unsrer Partei eine so warme Sympathie-Kundgebung dargebracht werde; er spricht die Befürchtung aus, daß wir uns gerade von der Seite, wo man immer unsre KönigStreue al» nicht echt angezweifelt habe, Beargwöhnung zuziehen werden, und fährt fort: „Noch eine andre Besorgnis kann ich nicht gänzlich unterdrücken: ich frage mich, war es wohlgetan in demselben Augenblicke, wo vom Süden her der Partikularismus sich in wenig angebrachter Weise auf die bundesstaatliche Natur des Reiches stützt, und gegen eine, ohne Not befürchtete Hinneigung zum Einheits staate protestiert — vorausgcgangen waren die bekannten Moskauer Vorgänge —, von Berlin darauf mit einer so überhasteten und überschwänglichen Verherrlichung eines Mannes zu antworten, der für die schroffste Verkörperung jenes Einheitsstaates und des sogenannten Groß-Preutzen- tums gilt und sich wenigstens in seinem 5. Bande noch Feuilleton. "--o—— Eine Kuinenstadt am Amur.*) ii. 31. Juli 1901. Gegen 9 Uhr Vormittags kommen wir in die Nähe von Nigun, einst das nördlichste chinesische Bollwerk, das gegen das Vordringen des Russentums aufgerichtet wurde, zuletzt berühmt geworden durch die Konvention von Aigun, in der das linke Amurufer an Rußland abgetreten wurde. Noch vor einem Jahre war cs eine blühende Stadt, die auf 15 000 Einwohner geschätzt wurde. Eine starke chinesische Garnison lag darin. Heute ist die Stadt ein Trümmer haufen. Gerade jetzt, um die Wende des Juli, fanden die Kümpfe statt, in denen Aigun vernichtet, und damit die Macht Chinas auch auf dem rechten Amurufer definitiv ge brochen wurde. Zwei Kilometer von dem zerstörten Aigun entfernt, erhebt sich heute auf dem rechten Amurufer ein stattlicher Tteinbau, eine russische Kaserne. Die Wirren in Petschili hatten das Interesse der Welt so sehr absor biert, daß ihr darüber die wichtigen Kämpfe in der Mandschurei vollständig entgangen sind. Bis zum ver gangenen Jahre mar Rußland noch nicht faktischer Herr des rechten Amnrufcrs. Erst die chinesischen Wirren gaben ihm willkommenen Anlaß, das Werk Muravioffs zu vollenden, nämlich auch das rechte Amurufer völlig in Besitz zu nehmen, und somit China vollständig von dem „Schwarzen Drachenfluß" abzuschneiden. Auch das ist der Welt da drautzen entgangen, daß es noch sehr erhebliche Kämpfe gekostet hat, um die Chinesen von den Ufern des Amur zu vertreiben. Die Friedhöfe in der Nähe von Aigun und in Blagoweschtschensk sind ein beredtes Zeugnis dieser Kämpfe. Aber die Arbeit ist gründlich gelungen. In Aigun liegt kein Dachbalken mehr, ja, man kann fast wört lich sagen: „kein Stein mehr auf dem andern". In der Konvention von Aigun ist beiden Nationen, den Chinesen wie den Russen, die Schiffahrt aus dem Amur gewähr, leistet. Ich habe während meiner Amurreise keine einzige chinesische Tjunke gesehen! Rußland hat diese Kämpfe tot geschwiegen, oder ließ aus seinen Berichten doch nicht deren Tragweite erkennen. Sollte ich da nicht Überrascht sein, anstatt einer chinesischen Stadt nur noch ein großes Trümmerfeld und eine Brandstätte zu finden? Ein einziges Jahr hatte genügt, um den Ort, auf dem bis dahin eine blühende Stadt gestanden, mit manneshohem Gras und Unkraut überwuchern zu lassen, so daß man vom Wasser aus nicht einmal hätte erkennen können, daß hier elnst Aigun lag, wenn man nicht darauf aufmerksam gemacht *) Aus dem schon erwähnten Werke von RudolfZabek: „Durch die Mandschurei und Sibirien" (Verlag von Georg Wigand in Leipzig)« worden wäre, und ein steinerner Turm und die heraus ragenden steinernen Wände eines Namens mit ihren brandgeschwärzten Balkenrcsten das Auge gefesselt hätten. Das muß man Rußland zugcben, es macht reine Arbeit. In zwei Jahren erbaut es an der Bucht von Ta lien wan auf Regierungskosten eine ganze Stadt, ein Jahr rusüicher Kultur genügt aber auch, um von den Ufern des Amur das letzte Nestchen chinesischer Kultur zu entfernen und die Trümmer einer soeben noch blühenden Stadt mit Un kraut und Gras überwachsen zu lassen. In demselben Jahre im äußersten Norden — Aigun, der letzte und nörd lichste Vorposten chinesischer Macht, dem Erdboden gleich gemacht, im äußersten Süden — Dalny, das neue russische San Francisco. Faktisch in Besitz genommen ist das da zwischen liegende Land erst in diesem letzten Jahre. Ta eS mich interessiert, die Nninen von Aigun aus der Nähe zu betrachten, so bitte ich den Kapitän, anzu legen. Er erweist mir die Gefälligkeit, und ich gehe mit den: Oberstabsarzt zusammen an Land. Das Bild, das ich zu sehen bekomme, ist das der ärgsten Verwüstung. Genau dieselbe Exaktheit in der Zerstörung, wie seinerzeit aus der Strecke Taku-Tieutsin, wo die Kosaken ebenfalls so gründlich mit den chinesischen Fansen verfahren sind, daß kein Stein auf dem anderen blieb. Wir bahnen uns durch das in die Höhe wuchernde Unkraut eines ehemaligen Ge müsegartens einen Weg. Die rapide Vegetation hat genügt, nm sogar die früheren Straßen mit GraS und Disteln überwuchern zu lassen. Hier und da ragt ein Fundament und ein rotgebrannter Mauerrcst in die Höhe, Scherbenhaufen und verkohltes Gebälk liegen an den Straßcnzügen. Die Hauptstraße führte dem Amur parallel. Wir durchwandern die Nuinen. Kletten und Grassamen setzen sich an unseren Kleidern fest. Zum Andenken nehmen wir einige Granitsplitter mit und einige Scherbcnreste. Es ist ein jammervolles Bild der Zerstörung, das sich nnS einprägt. Bon Aigun aus führt ein Fahrstraße nach Süden, die bald das Tal des Nonni, des längsten Nebenflusses des Snngart, erreicht. Hier trifft sie bereits dichter besiedelte Gebiete, in deren Zentrum die Stadt Mcrgen liegt. So dann folgt die Straße dem Laufe des Nonni über Tsitsikar nach der südlichen Mandschurei. Es ist kein Zufall, daß der Vorstoß der chinesisch-mandschurischen Kultur gerade in dieser Richtung nach Norden erfolgte. Denn es schiebt sich dem Flußtale des Nonni nach Norden folgend und sich *n dem Tal der Zeja weiterhin fortsehcnd gewissermaßen eine Halbinsel guten, kulturfähigen Bodens in daS umgebende Steppenmcer hinein. Erreichte doch auch die russische Kolonisation von Norden her, von Jakutsk aus, das Amur tal zuerst im Bereiche dieser Kulturzone. Wir haben kaum 20 Minuten am Lande verweilt, da ertönt die SchiffSpscifc und mahnt zur Rückkehr. Wir eilen auch zurück ans Ufer. Mittlerweile hat die Pfeife noch. malS eingehender gedrängt, und als wir unten anlangcn. sehen wir gerade, wie der Kahn der uns hinübergebracht hat, vom Dampfer wieder ablegt, um uns zu holen. Als er näher kommt, erblicken wir darin uns unbekannte rus sische Offiziere. Sie kommen näher, landen. Wir be grüßen sie kurz mit dem üblichen Handschlag und wollen unser Geführt besteigen, um uns übersetzen zu lassen. Die Offiziere scheinen noch eine Unterhaltung anknüpfen zu wollen. Besonders redet ein Hauptmann auf mich ein. Ich verstehe ihn nicht. Der Stabsarzt übersetzt mir in seinem mangelhaften Deutsch, und ich entnehme daraus so viel, daß der Hauptmann sich für meinen photographi schen Apparat besonders interessiert. Ich zeige ihm den Apparat, drehe ihn aus die eine Seite und drehe ihn auf die andere Seite. Er nimmt ihn an sich, und ich bemerke zu meinem Schrecken, daß er sehr unvorsichtig damit umgeht und mir Licht an die Platten kommen lassen wird. Ich nehme ihm daher den Apparat mit sanfter Gewalt wieder fort. Mittlerweile übersetzt mir aber der Stabsarzt, daß der Offizier meine photographischen Platten zn besitzen wünscht, und während ich mich für außerordentlich höflich halte, indem ich mich mit dem fremden Offizier so ein gehend cinlasse, wird mir erst klar, daß dieser nichts An deres will, als mir meine Ausnahmen, die ich in Aigun ge macht habe, konfiszieren. Das ist denn doch etwas stark, daß man auf einem Gebiete, das zunächst noch durch keiner lei staatsrechtliche Akte an Rußland abgetreten ist, nicht soll photographieren dürfen. Aber hier hilft keine Ent rüstung, sondern nur List und Schläue. Denn wer die Macht hat, hat daS Recht. Zunächst versuche ich daher die Berufung ans völkerrechtliche Tatsachen, indem ich erkläre, erstens ich sei Deutscher, zweitens befänden wir uns ans chinesischem Grund und Boden, und drittens hätte Ruß land kein Recht, die Freiheiten von Angehörigen eines fremden Staates aus fremdem Grund und Boden zu be einträchtigen. Aber der Hauptmann erklärt mir nur kurz und bündig: „Nitschiwo!" Was das heißt, weiß ich ganz genau, und ick denke denn mcinesteils ebenfalls „Nitschiwo". Da mir also dieser Versuch vor- beigclungcu ist, so kommt es nur noch auf die allen Natio nen mehr oder weniger gemeinsame Pfiffigkeit an, um wenigstens zu verhindern, daß der Offizier jetzt einfach meine Filmrolle auö dem Apparat nimmt, sie den Sonnen strahlen prciögiebt und somit meine schönen Bilder von der Amursahrt mit samt denen von Aigun verdirbt. Ich werde also wieder sehr höflich und lasse ihm sagen, ich gäbe ihm die Versicherung, daß ich in Aigun nicht mehr als drei Aufnahmen gemacht hätte. Er möchte doch so freund lich sein, mir die übrigen FilmS nicht -n verderben, son dern meinetwegen die Rolle mitnehmen und im Dunkeln die drei Aignnbildcr abschnciden. Er ist denn schließlich auch kein Unmensch, behauptet, er photographiere auch, verstünde sich also auf die Sache, und wird mir nur die drei Aigunbilder abschneiden. Ich wickle also meine Film rolle zusammen, nehme sie aus dem Apparat heraus und überreiche sie ihm feierlich» mit einer Verbeugung. Er verspricht mir, die Filmrolle bereits morgen bei Kunst L AlberS in Blagoweschtschensk abaeben zu lassen. «l»dann verabschieden wir uns gegenseitig und schütteln uns die Hand, wie wenn nichts geschehen wäre. An Bord zurück gekehrt, werde ich mit Hallo empfangen und von meinen russischen Mitreisenden gehörig geneckt. Um gleich vor- zugreifcn, will ich hier schon anfügen, daß auch in diesem Falle sich das alte Sprichwort bewährte: „Wer zuletzt lacht, lacht am besten", und letzteres tat ich. Als nrir am näch sten Tage die Filmrolle zurückgegeben wird, eile ich so fort zn einem japanischen Photographen, um zu entwickeln und zu sehen, was nun eigentlich aus meinen Bildern geworden ist. Ich bin nicht wenig überrascht, als sich beim Entwickeln herausstellt, daß sämtliche Bilder noch auf dem Film sind — auch meine Bilder von Aigun! Es war dem braven Hauptmann zu viel Arbeit, die ganze Rolle zu ent wickeln und dann die richtigen Negative abzuschneiden. So hatte er eben nur die drei letzten Films herunter geschnitten, und diese waren überhaupt nicht belichtet. So belanglos an sich dieser Vorfall auch sein mag, so beweist er doch, daß Rußland sich als Herr des rechten Amurnfers betrachtet und das Verbot, die Trttmmcrstätte von Aigun zn photographieren, deutet darauf hin, daß cs Rußland keineswegs angenehm ist, wenn die Welt etwas genauer in die Details seines Vorgehens in der Man dschurei eingewciht wird. Während der Weiterfahrt fin den wir etwa einen Kilometer flußaufwärts auf dem rech ten Ufer des Amur große Steinbautcn. Es sind russische Kasernen. Das ziemlich dicht besiedelte chinesische Amur- nser zwischen Aigun und Blagoweschtschensk bietet den selben Anblick wie die Stadt Aignn. Nur noch Trümmcr- stätten und Ruinen, sowie von Unkraut überwucherte Gärten und Felder zeugen davon, daß hier einst fleißige Landlcute wohnten, die Blagoweschtschensk mit Garten früchten nnd Gemüse versahen. Seit einem Jahre soll das tzkmüse in Blagoweschtschensk unerschwinglich teuer geworden sein. Der arme Kapitän, der auf meine Ver anlassung bei Aignn gehalten bat und mir dadurch einen tieferen Blick in die Geheimnisse russischer Kolonialpolitik ermöglichte, bekam übrigens späterhin einen ganz gc- hörigen Rüffel. Gegen 2 Uhr Nachmittags kommen wir in das Mün dungsgebiet der Zeja, und von den flachen Ufern her leuch ten uns auS der Ferne bereits die Kuppeln und vergolde ten Kreuze der Kirchen von Blagoweschtschensk entgegen. Dort wo Zeja und Amur zusammensließen, liegt die Stadt, deren Name deutsch bedeutet „die Verheißung". Ursprüng lich wurde Blagoweschtschensk als Kosakenposten gegründet unter dem Namen Ustzeisk. Als aber Mnraviosf den Ver trag von Aigun abgeschlossen hatte, meldete er diese „frohe Verheißung" von UstzeiSk auS dem Zaren, nnd seit jener Zeit datiert der jetzige Name. Die Stadt hat auch sonst ihre Verheißungen gehalten, insofern, als sie der Mittel- punkt einer blühenden Goldindustrie geworden ist, die sich an den Usern der Zeja nnd am Oberlauf der Bureja ent wickelt hat und durchschnittlich bessere Resultate liefert, als die Goldproduktion am Unterlauf des Amur.
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