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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.10.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-10-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021006021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902100602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902100602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-10
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Ze weniger die deutschen Offiziösen sich veranlaßt fühlen, gegen die Auslassungen der „Times" über den an geblich beabsichtigten Empfang der Bocrengeiicralc durch den Kaiser zu protestieren, um so mehr greift im deutschen Bolle die Erregung um sich und mackt sich Luft durch Zuschriften an die Presse. Eine solche Zuschrift, der die „Kreuzztg." weitere Verbreitung gibt, schließt folgendermaßen: „Bei zwei in gegenseitigem Unterordnungsverhältnis stehenden Staaten wird der oberdeutschen Macht die Berechtigung innewohnen, dem untergeordneten Staate ihre Ansicht dahin kund zutun, daß der Empsang politisch bedeutsamer Persönlichkeiten aus den Reihen ihrer Untertanen seitens deS dortigen Staatsoberhauptes im Lande „unangenehm berühren" würde. Zwischen zwei gleich stehenden völlig von einander unabhängigen Staaten geben da gegen die Adresse für eine derartige Mitteilung lediglich die eigenen Untertanen, nicht aber der fremde Monarch ab. Auf die ersteren allein kann mit allen nach den Gesetzen zulässigen Mitteln eingewirkt werden. Seitens deS fremden Staate» muß mindestens der erste Schritt einer darauibrzüglichrn Anfrage abgewartet werden. Wenn also die „Times" statt den Boerengeneralen direkt Seiner Majestät hem deutschen Kaiser ihre Mißbilligung über die den ersteren zu gewährende Audienz glauben aussprecheu zu dürfen, so liegt darin — gelinde gesagt — eine unerhörte An- maßung. Der öffentlichen Meinung in England wird damit nichts mehr und nichts weniger al» die Recht« eines Oberherrn gegenüber dem deutschen Kaiser gleichsam als ihrem Suzerän beigelegt. Nein, Gott sei Dank, ein Vasall der englischen öffentlichen Meinung ist der deutsche Kaiser doch noch nicht! Die ganze Größe der Über- Hebung zeigt sich aber erst in der darin liegenden Undan kbarkeit. Der Reibungsflächen zwischen England und Rußland gibt es mehr als genug. Wer innerhalb der letztverstoffenen Jahre Frankreich besucht hat, weiß, Laß dort die Abneigung — oder sollen wir sagen Verachtung — gegen England säst auf den Siedepunkt gekommen ist. Wenn nun Se. Majestät der deutsche Kaiser nicht unentwegt seine loyale Haltung während LeS ganzen südafrikanischen Krieges bewahrt > ätte, so wird selbst die Üeberhebung der „Times" nicht in Abrede stellen können, daß ein gemeinsames Vorgehen der drei Haupt mächte des Festlandes England wohl unübersteigbare Schwierigkeiten hätte bereiten können. Wir sehen schließlich ganz von dem an geschlagenen Ton ab, als ob ein erfahrener Politiker zu dem un reifen, des wohlmeinenden Rates bedürfenden Anfänger redet. Wir meinen, daß die „Times" und mit ihr die englische öffentliche Meinung sich nicht wundern dürfen, wenn ihr Gebaren in Deutsch, land keine Empörung hervorrust, sondern einfach lächerlich ge- sunden wird." Auf die „Times" und die hinter ihr stehenden englischen Gesellschaftskreise werden freilich derartige Kundgebungen keinen Eindruck machen, so lange die deutschen Offiziösen sogar gegen dieanmaßlichen Auslastungen des „Standard", des Sprachrohrs der englischen Negierung, kein Wort der Abwehr finden. Und so lange daS nicht geschieh», wird es fraglich bleiben, ob den Boerengeneralen, sofern sie um eine Audienz nachsuchen, eine solche gewährt wird. Za, vielleicht hängt eS von dem Verhalten der offiziösen Berliner Organe ab, ob die Generale zu einem solchen Gesuche sich überhaupt entschließen. Bis jetzt ist eS noch nicht geschehen, denn in DreSven hat, wie unS von dort berichtet wird, der Boeren- Kommandan» Banks unserm Gewährsmann erklärt, er habe aus der Umgebung der Generale erfahren, daß diese um eine Audienz beimKaiser noch nicht nachgesucht haben. Daß die Aussicht aus daS Zustandekommen der Zolltarif vorlagen noch nicht ganz geschwunden ist, gebt au« den Mahnungen hervor, welche die suhlenden Blätter deS Zentrums an die Konservativen richten. So schreibt die „Germania", sie müsse zu ihrem Bedauern feststellen, daß auS den der Landwirtschaft freundlich gesinnten Kreise» der Opposition Wasser auf die Mühle geliefert werde. Als Beispiel hiersür werden die Ausführungen der „Deutschen Tageszeitung" genannt. Auch die Aus führung der „Kreuzpeilung" findet die „Germania" bedenk lich. Sie schreibt dazu: „Wir können beim besten Willen nicht annehmen, daß dies daS letzte Wort der Konservativen zum Zolltarife sein soll. Wäre das der Fall, dann aller ding« müßte jede weitere parlamentarische Vrrbandlung abiolut unnütz sein." Und die „Köln. Volk» zig." mahnt die conservative Partei, nicht durch weiteres Beobachten der ablehnenden Haliung den Zolltarif zu Fall zu bringen. Die Plenarverhanvlungen über den Zolltarif dürften eine Be deutung erlangen, welche weit hinauSgebe über di« Bedeutung der Zolltarisvorlage an sich. Mit der Ent scheidung über den Zolltarif sei die Entscheidung über rein politische Fragen tiefgreifendster Art verknüpft; fall« der Zolltarif, so sei da» ein Sieg der Sozialdemokratie; unter diesem Eindruck müßten alSdann auch Neuwahlen vor sich gehen. Die Konservativen seien vor die Entscheidung gestellt, ob sie, weil nickt alle» zu erreichen sei, was sie verlangen, alles scheitern lassen wollten. Diese Verantwortung sei riesengroß gegenüber derGesamtcntwickelung unserer inneren Politik. Kein bejonnener Politiker werde glauben, daß ein späterer Reichstag an agrarischen Forderungen mehr bewilligen werde, al« der heutige. — So würben beite Blätter gewiß nicht schreiben, wenn sie nicht wüßten, daß das Zentrum seinerseits die „riesengroße" Veranlworlung nicht auf sich nehmen will, vor deren Ueder- nahme sie die Konservativen warnen. Vielleicht aber macht auf diese noch tieferen Eindruck, waS einer ihrer eigenen Parteigenossen, der fi ühere Reichstagsabgeordnete Kammerberr Or. v. Frege-Weltzien, am „Sonnabend in der -Derbst versammlung der Leipziger Ökonomischen Sozietät in seiner Eigenschaft als deren Direktor gesagt hat. Er sprach, wie hier wiederholt sei, sein tiefe» Bedauern darüber auS, daß dir Mehrheit seiner Parteifreunde sich an einmal gefaßte Parteibeschlüste gebunden glaube und dadurck zu einer ablehnenden Haltung gegen die Zollvorlagen der Regierung gelange. Diele Haltung könne schließlich nur dem Zentrum zu gute kommen. Es sei dock ein starker Zrrlum, zu meinen, daß ein Medrzoll von 50 Pf. von großer und ausschlag gebender Bedeutung für die Landwirtschaft sein könne, der Loch durch die Mindestzölle eine wertvolle Garantie gegeben sei. Wollte man nicht da» ganze Wahlsystem über denHaufen werfen, so werde man kaum jemals einen Reichstag zmammenbekvm- men, der so in der Lage wäre, einen für die Landwirtschaft günstigen Zolltarif zu konstruieren, wie der jetzige. Mil der Devise „Alles ober nichts" gebe man nur der Sozialdemokratie Stofs für die nächsten Wahlen in die Hand, derselben Sozial demokratie, der man schon früher durch Ablehnung der naiionalliberaleu Abänberungsvoisckläge zum Sozialisten gesetze Vorschub geleistet habe. Zeder einsichtige Landwirt solle daher dahin wirken, daß der jetzige Zolltarif zur Ver abschiedung gelange. Daß diese dringlicke Mahnung eines Mannes, dem seine Parteigenossen jedenfalls vollstes Ver ständnis für die Lage der Landwirtschaft und das, waö ikr frommt, ebensowenig werden absprechen wollen, wie seine oft bewährte Liebe zu ihr, besonders im Königreiche Sacksen tiesen Eindruck macken wird und schwer ins Gewicht fallen würde, wenn die nächsten Reichstagswahlen unter der Zoll parole sick vollziehen sollten, bezweifelt wohl selbst die „Kieuzztg." um so weniger, je ausdrücklicher Herr Di-. o. Frege betonte, daß seine Ausführungen sein wirtschaftspolitisches Testament bedeuteten. WnS sterblich war an Emile Zola, hat inan gestern in Paris — ohne Zwischenfall! — in die Erde gebettet, aber wie sein dichterisches Wirken, so wird auch sein politisches seine Zeit noch lange überdauern. Zola war kein Politiker, aber er hinterläßt gleichwohl ein politisches Werk, das in seiner Art bedeutsamer, folgenschwerer ist als das irgend eines der lebenden Staatsmänner Frankreichs. Denn wer heute, so schreibt die „Köln. Ztg.", mit Nachdenken die all gemeine politische Lage in Frankreich überschaut und rück blickend ihren Ausgangspunkt, ihre wirkende Urs-chc sucht, der kann sic nicht anderswo als in dem Briefe Zolaö er blicken, der am Morgen des 13. Januar 1808 wie ein ge waltiger, zündender Blitzschlag plötzlich ganz Frankreich in seinen geistigen, moralischen und politischen Tiefen er schütterte. Die Mölineschc Politik des Verschweigens und Vertuschens, die verbrecherischen Machenschaften des schuld bewußten Generalstabcs hatten bereits Schcurcr-Kcstner entwaffnet und Picquart hinter« den Mauern des Mont Valerien gewaltsam zum Schweigen gebracht. Da war es das Wort Zolas, das den Kampf und Sturm entfesselte, der zuerst den Sturz Mälines, sodann die Enthüllung dieser verbrecherischen Machenschaften bewirkte und auf allen Ge bieten und in allen Schichten der Gesellschaft die Geister Frankreichs mobil machte und sie auf der einen Seite zn- sammcnschloß, auf der andern gegeneinander führte. Einer der größten Revolutionäre Frankreichs, Robespierrc, hat einmal gesagt, daß auch die Wahrheit ihren Despotismus habe. Das hat sich an diesem Briefe Zolas bewährt. Wenn je ein geschriebenes Wort der Wahrheit eine so unmittel bare, mit despotischer Macht sich fvrtpflanzcndc Wirkung auf das Geschick einer Gesellschaft und eines ganzen Landes ausgeübt hat, so geschah es in dicscin Falle. Der Professor der klassische»» Philologie an der Pariser Fakultät, L uiö Hauet, einer der Gelehrten, die das Wort Zolas als aktive Mitkämpfer aus seiner Seite ans das Kamvffcld führte, hat durchaus recht, wenn er heute schreibt: „Ohne das .I'avouso Zolas, das springt klar in die Augen, würde der Fall Drenfus' nicht die ganze Politik durchdrungen haben, würde», die alten Parteien nicht zersprengt worden sein, würde die klerikale Frage sich nicht so gestellt haben, wie eS nun geschehe», ist, würden die Wahlen sich unter anderen Bedingungen abgespielt haben. Ich hoffte damals nichts mehr. Den», die moralische Vergiftung war tiefer, als man ahne», konnte. Die Wahrheit ist, daß Frankreich, in eine lange moralische Betäubung versunken, die unmittcl- barste Gefahr, die cs lief, und die in kurzem unheilbar ge wesen wäre, nicht sah. Die Wahrheit ist ferner, daß keiner seiner Regierungsmünner daran zu arbeiten verstand, daS Land aus der Gefahr zu befreien. In einem bestimmten Augenblick hat Frankreich Zola die Rettung seiner Ehre verdankt, sein Heil vielleicht." Auf der gegnerischen Seite ist, freilich von einen, anderen Gesichtspunkte aus, die Er kenntnis nicht anders. „Die Minister der republikanischen Bcrtcidigung", schreibt der „GauloiS", „verdanken Zola ihr Dasein, nnd Waldeck-Rousseau würde Mühe gehabt haben, aus Ruder zu kommen, wenn die Dreyfus-Bc- wcgung ihm den Zugang dazu nicht erleichtert hätte. Zola war, bewußt oder unbewußt, der verantwortliche Urheber der neitcu Orientierung des Rcgierungssystcms." Die politische Bedeutung, die der „Gaulois" hiermit dem Werke Zolas zuerkennt, ist nicht nnr richtig für Waldeck-Rousseau und die Männer, die jetzt als seine politischen Erben am Ruder sind, sondern sic hat auch ihre Gültigkeit, wenn man weiter rückwärts blickt. Man kan», ruhig behaupten, daß, wenn jene durch Zola ans Ruder kamen, auf der ander», Leite Männer wie Meline, Hanotaux, Billot, Eava gnac, ganz zu schweigen von Mercier, es Zola verdanken, wenn sic auf unabsehbare Zeit ihre führende Rolle in der Politik und noch mehr in der Regierung ausgcsptelt haben. Tie Sozialisten erheben heute auf Zola als einen der Ihrigen Anspruch. Allerdings hat Zola in seinem literarischen Werke, namentlich in seinem Romane „Arbeit", ihre wirt schaftlichen Theorie», der Güter, und Erwcrbsgemeinschast vertreten. Insofern können sie mit Recht von ihm als dein Ihrigen sprechen. Aber in seinem politischen Werke, soweit es sich nm den Kampf für die Wahrheit und Gerechtigkeit im Falle Drenfus' handelt, gehört Zola weder der svzia listischcn noch sonst irgend einer Partei an. Die politischen Parteien suchen und kennen die Wahrheit nur als einen Ausgleich von Gegensätzen, als eine Formel zu dem Zwecke, das Mögliche zu erreichen. Zola aber suchte die Wahrheit ohne politische Nebengedanken, als ein Absolutes und stellte seine WahrlicitSforderung mit derselben Rücksichtslosigkeit, die sein künstlerisches und philosophisch-literarisches Werk kennzeichnet, auch da auf, wo er mit ihr in die Politik, in den konkreten Fall eingriff. Nur so konnte sein Wort, ver stärkt durch die Einsetzung seiner eigenen Persönlichkeit, jene Macht entfalten, jene Bewegung entfachen, die noch heute geistig und politisch sich fortseyt in dem Kampfe, den die Republik gegen den Bund der rückschrittlichen Elemente aller Art führt. Denn kann es ein Zufall sein, daß die heutige neue Orientierung der Parteien in Frankreich in den, Kaumpf für und gegen das Vcreinsgesetz sich genau mit der Scheidung der Geister deckt, die sich neben oder gegen Zola in seinem Kampfe um die Wahrheit scharten? Der Bund der Nationalisten und Klerikalen hatte den, Worte Zolas nichts wie die Verbindung ihrer selbst süchtigen Interessen unter der Flagge eines falschen und im besten Falle irregeleiteten Patriotisrnus entgegenzu setzen. Darum unterlag er und mnßte er unterliegen, wenn anders nicht Frankreich um ein Jahrhundert ii, seiner freiheitlichen Entwickelung zurückgeworfen werden sollte. Es ist begreiflich, wenn dieser falsche Nationalismus beute Zola noch in seinem Grabe fürchtet. Denn sein politisches Werk wirkt über das Grab hinaus gegen sie weiter, und deshalb möchten sie es mich noch i», dem Toten tätlich verunglimpfen. Deutsches Reich. Berlin, 5. Oktober. (Zum nationallib«ralen Delegiertentag in Eisenach.) Wie groß das Znteresse an der Eisenacher Tagung ist, geht auS der Zahl der An- Meldungen für die Teilnahme feiten» der Delegierten und Parlamentarier bervor: sic batdaS vierte Hundert bereits überschritten. Dem vereinzelt aufgetauchten Bedenken, die Tagesordnung biete der Gegenstände zu viel, so daß eine erschöpfende Behandlung derselben auch nicht in sieben Tagen FsuiHet-n. Lompania Lcha-or. bj Roman von Woldemar Urban. Nachdruck verboten. Überhaupt wurde ihr seit einiger Zeit — seit Vetter Ermin nicht mehr ihr Vetter war — ihre eigentliche Situa tion in immer schauerlicherer Weise klar. Dieses Herum sitzen und Herumsuchen nach einem Mann, der so freund lich sei», möchte, eine vornehm und luxuriös erzogene Dame ohne Mitgift in Versorgung zu nehmen, oder, wie man ge wöhnlich sagt: zu heiraten, das wäre ohne ihre gesunde und natürliche Anlage schon längst über ihre Kräfte ge gangen. Aber Fräulein von Thcsscn hatte wirklich ein glückliches Temperament und war ein durchaus gesundes Mädchen. Sie schätzte ja die eigene Situation im ganzen richtig ein. Sie wußte sehr »vohl, wie peinlich cs für sie und besonders für ihre Elter», sein mußte, daß sich für sie noch keine passende Partie gefunden hatte. Und mit jedem Jahre wurde die Situation peinlicher und streifte immer mehr ans Lächerliche. Aber was konnte sic dafür? Wenn cs „ach ihr gegangen wäre, wäre sie schon längst ver heiratet. Aber immer, wenn ihr ein junger Mann ge fallen hatte — das war besonders früher gar nicht selten vorgekommen — so wurde die Partie bald auf der einen, bald auf der anderen Seite nicht standesgemäß, oder nicht vorteilhaft, nicht paffend gefunden, und die Geschichte ging wieder aus dem Leim. Ihre Eltern wollten offenbar mit ihr zu hoch hinaus, warteten auf Gott weiß welchen Märchenprinzcn, der nicht kam, und so wurde sie mit der Zeit eine alte Jungfer. Die Illusionen flohen und Fräu lein Eleonore sah die Welt — weirigstcnS soweit sie sie per sönlich anging — immer mehr nnd mehr als eine ver pfuschte Einrichtung an. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre vollen, schönen Lippen, als sic mit ihren Eltern durch die Straßen fuhr. Sic dachte au Vetter Erwin. Eines Tages — sic nannte», sich damals noch du nnd bei ihrem Vornamen, während sie jetzt, wenigstens öffentlich, sich „Herr Hauptmann" und „gnädiges Fräulein" titulierten — sagte sic scherzweise zu ihm: „Glaubst du auch, Erwin, daß Gott die Welt für uns tzemacht hat?" „Dann müßte sie anders auSsehen, Lore", hatte er seufzend geantwortet. „Ich glaube vielmehr, daß irgend ein Neidhammel Wasser in unseren Wein gegossen hat, und das nicht wenig. Es schmeckt scheußlich." Ihr Vetter Ermin war der Einzige, mit dem sie sich voll ständig verstand. Er war der Netteste von allen. Sic sah ihn im Geiste vor sich, die offenen, zutraulichen Augen auf sic gerichtet, wie auf ei», verlorenes Paradies, die Schnurr- bartspitzen zwischen die Lippen geklemmt, wie er das häufig machte, wem, er wütend war, mit dem Degen heftig aus den Bode», stoßend — die leibhaftige Resignation! Und gerade ihn mußte die tote Tante vergessen! Fräulein Eleo nore seufzte tief auf. Es war vollständig richtig — die Welt war verpfuscht. „Wir sind da! Aussteigen l" sagte ihre Mama plötzlich. Fräulein Eleonore erschrak. Wie klang die Stimme ihrer Mutter so rauh! Hatte sie den Schnupfen? Oder erschien eS Fräulein Eleonore nur so, weil sie aus ihren süßesten Träumereien ausgeschreckt wurde? „Ja doch, ich komme ja schon", antwortete sie, ergeben in ihr Schicksal. Nu», ging die Geschichte wieder los, dachte sie, mit den höflichen Redensarten, den kleinen Scherzen, den gelehrten Plaudereien über Kunst und Literatur, über die neue Oper und das letzte Pferderennen, mit den ver bindlichen Händedrücken und dem verstohlenen Beobachten — alle mit dem einzige,» Godanken tm Hintergründe: Wird eine Hochzeit daraus oder nicht? Es war gräßlich. Aber was konnte Fräulein von Theflen dagegen tun? Sie hätte ja eine Revolution hervor gerufen, wenn sie auch nur ein Wort gegen die Art und Weise gesagt hätte, wie man ihr — Glück und ihre Zukunft sichern wollte. Aber eS kam doch „och schlimmer', als sich Fräulein Eleonore nach den bisherigen anderweitigen Erfahrungen dachte. Am Gartentor wurde sie von Herrn Habicht I empfangen, sehr höflich und demütig, als ob er eS sei, der etwas haben wolle. Gleich darauf erschien auch Fräulein Luise Habicht mit ihrer jüngeren Schwester Hedwig und ,hrer Mutter, um die Gäste zu begrüßen. Alle waren ein Herz und eine Seele. Fräulein Hedwig besonders — sie war erst zwüls Jahre alt und ging noch in die Schule — machte sich sehr niedlich nnd hatte für Fräulein von Thcffen ausrichtig und ehrlich eine unbegrenzte Hoch achtung und Bewunderung Vielleicht imponierte», der jungen Dame die volle, stattliche Figur und die vornehme Erscheinung der neuen Freundin, mit welcher selbst die Mathematiklehrerin, die sonst der Inbegriff weiblicher Vollkommenheit für sie war, nicht konkurriere», konnte. Aber wo war er? Wo war die „Sonne", die dem Fräulein von Thessen ihren Lebensweg erhellen und erwärmen sollte? Der junge Habicht ließ sich nicht sehen. Allen fiel das peinlich auf, aber cs ging doch wahrhaftig nicht an, daß Fräulein Eleonore oder ihre Eltern nach ihm fragten, und der alte Habicht gab keine Erklärung dieses merk würdige», Umstandes. Offenbar vermißte er ihr, an, aller meisten und gab sich nun die größte Mühe, die Abwesenheit seines Sohnes vergesse», zu machen. Er machte die krampf haftesten Anstrengungen, um die Aufmerksamkeit der Be sucher zu beschäftigen. „Welch schöner Garten", äußerte Frau von Thcsscn. „Ja, und ist auch ein teurer Garten, »„eine Gnädigste", beeilte sich Herr Habicht zu erklären. „Lehen Sie, diese Zedern dort stammen wirklich und wahrhaftig voin Libanon, die beiden Pfcfferbäumc von Peru, diese Agaven standen einst auf der Insel Capri und die Palmen kommen meist von Ceylon. Der Vorbesitzer des Hauses und deS Gartens hatte eine besondere Vorliebe für solche exotische Erzeugnisse und wollte ergründen, ob sich diese in unseren» Klima entwickeln und erhalten. Nun, die Bäume habe», sich erhalten dank der ungewöhnliche», Intelligenz meines Gärtners, mein Vorbcsitzer aber ist leider an solchen Ex perimenten zu Grunde gegangen." „Wie vornehm, wie anheimelnd das alles ist", bemerkte Frau von Thessen wieder. „In einer» solchen Heim fühlt »nan sich erst als Mensch. Wenn ich dagegen an die soge nannten Amtswohnungen denke — ach, du lieber Gott!" „Sie haben doch eine sehr hübsche Wohnung, gnädige Frau." „Ja, aber kein HauS, keine», Garten. Was ist denn eine solche Wohnung ohne Garten?" „Sie müssen sich mein HauS einmal ansehen, Frau Re- gicrungsrätin", fuhr Habicht I erregt fort. „Es ist auch für zwei Haushaltungen eingerichtet, weil eS ursprünglich zwei Brüder», gehörte, die nicht gut zusammen harmonier ten. Aber sie waren beide unpraktische Leute und jetzt be wohne ich daS sehr geräumige HauS allein. Ich liebe eS nicht, mit anderen Leuten zusammen zu wohnen, die nicht zur Familie gehören. Ich habe das, Gott sei Dank, nicht nötig." „Natürlich. So etwas tut man nur, wenn man muß." Nach dem Garten besah man das Haus. Es war alles sehr schön und der Rechtsanwalt zeigte, wie leicht sich eine völlig separierte Wohnung von der seinen a-trennen ließ, wenn sein Lohn einmal eine eigene Wohnung brauchen würde. „Bisher war das nicht nötig", fuhr er plaudernd forl^ „denn cs wird nicht leicht ein einträchtigeres Verhältnis gebe», als zwischen mir und meinem Sohn existiert. Wir sind i», allen wesentlichen Punkte», einverstanden und wir sind in vielen Beziehungen mehr zwei Freunde oder zwei Brüder als Vater und Sohn. Ich habe ihn in die Praxis ciugcführt und er ist ein Heller Kopf, der schon jetzt min destens seine dreißigtauscnd Mark tm Jahre macht " „Drcißigtausend " warf Herr von Thessen erstaunt dazwischen und gab seiner Tochter einen bedeutsamen Wink. „Das will natürlich noch nicht viel heißen, wenigstens für eine», praktischen Rechtsanwalt nicht", fuhr Herr- Habicht etwas protzig fort, „aber wenn ich einmal die Praxis aufgcbe, was doch früher oder später kommt, so kann cs »nein Sohn leicht auf das doppelte oder dreifache bringen — ohne seine Zinsen. Dabei braucht er eigentliä, wenig, aber das wird natürlich alles anders, wenn er sich verheiratet. Dann wird das Haus einfach geteilt und wohl auch in anderer Hinsicht eine solide Grundlage ge schaffen." Das war alles ganz gut und schön, aber wo war der Mann, mit dem alle diese Herrlichkeiten verknüpft waren ? Das Eilwerständnis zwischen Vater und Sohn konnte noch so vollständig und einwandfrei sein, es mußte doch bei solche», Gelegenheiten der Sohn auch vorhanden sein. „Wo ist denn Ihr Herr Sohn?" platzte endlich Frau von Thessen loS. „Er ist doch hoffentlich nicht unwohl?" Die Verlegenheit war groß. „Ich weiß in der Tat nicht ich will gleich nach ihm sehen er war noch vor einer halben Stunde hier eS können ihn doch unmöglich Geschäfte abhalten, es ist ja heute Sonntag " hastete Habicht I verlegen heraus. Man mußte zu Tisch gehen. Es war die höchste Zeit — wie sroh war Fräulein Eleonore, in ihrer weiten Vorsicht etwas voraelegt zu haben — und die Hauptperson war nicht da. Ein Zweckessen ohne Zweck und — vorläufig wenigstens — ohne Essen. Der alte Herr machte sich für einen Augenblick frei und lief hinunter in den Garten, um nach seinem Sohne zn forschen. Jeden, dem er begegnete, fragte er, ob er den junge», Herrn gesehen habe und jeder verneinte cs. Es war zum Verzweifeln. Endlich traf er unten auch den in telligenten Gärtner, der auf die Krage seines Herrn ant- wartete:
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