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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.12.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-12-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021203010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902120301
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902120301
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1902
- Monat1902-12
- Tag1902-12-03
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L»10''> Ut-VV Bezug-«Prei- tz» d« Ha»pt^p«dttio» «d« de» v» Stadt« teGtkk »d da» Vorvrte» errichtete, A»», Wweßelle» »t>«h»ltr vierteljährlich ^8 4.80, — uvetwaliaer täglicher Zuflell»»g in« Haut 88L Durch di« Post bezogen für Deutschland ». Oesterreich vierteljährlich 8, für die übrige» Länder laut ZeUungspretSltste. Redaktion vnd Expedition: Iohannl-gassr 8. Fernsprecher 153 and SSL. FUi«U»vp«dittonen r UY)»LH«H», Bnchhandlg., llniLersitätsstr.^ L. Lösche, «athariuenstr. 14, ». Näntg-pl. 7. Haupt-Filiale Dresden: Strehlen«, Straße S. Fernsprecher Amt l Nr. 1718. Haupt-Filiale Serlin: Nöniggrätzer Straße IIS. Fernsprecher Amt VI Nr. SSSS. Nr «1t. Morgen-Ausgabe. MpMerIaMatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- «nd -es Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, -es Rates im- -es Rolizei-Ämtes -er Ltadt Leipzig. Mittwoch den 3. Dezember 1902. Anzeige«. Preis die «gespaltene Petitzeile Lö H. R«Il«me» »Mer dem NedaktionSstrich (4 gespalten) 75 vor de» yamtlieanach- richten («gespalten) 80 H. Dabellarischer und Ziffernsah entsprechend hoher. — Erbühren für Nachweisungen und Offerteuannahme SS (excl. Porto). Extra-Vellage« (gesalzt)» nur mit der Morgen-vu-gabe, ohne PostbrsSrderung ^8 «0.—, mit Postbesördernng 70.—. Annahmeschlnß für Anzeigen. Abe»d«Au»gabe: vormittag» 10 Uhr. Morg«»-Nu»gab«r Nachmittag» 4 Uhr. Anzeige« Pud stet» an di« Expedition z» richte«. Die Expedition ist Wochentag» »nuMerbrocheu geöffnet vo« früh 8 bi» abend» 7 Uhr. Druck und Verlag do« E. Polz t» Leipzig. Sk. Jahrgang. Ue> >/;- XL )». .cs o. .vu Der „deutsche Michel." Es ist wiederholt berichtet worden, daß der deutsche Professor HugoVogel es für angemessen erachtet bat, eine Statue der Jeanne D'Are von Dubois in ein Bild der „Germania" umzuwandeln; die ganze Ungeheuerlich keit dieses Vorgehens ist dann durch eine Revancheredc des Generals Farn», der die Soldaten bei der Erinne rung an die Jungfrau von Orleans beschwor, der Rache gegen Deutschland eingedenk zu sein, grell beleuchtet worden. Die Sache ist aber noch viel schlimmer, als man bisher gewußt hatte. Die „Schlesische Zeitung" hat sich in dankenswerter Weise der Muhe unterzogen, ihren Kunst berichterstatter nach Merseburg zu entsenden, um sich ein mal die angebliche Germania ortginaliter anzuschen. Herr Karl Meißner macht nun Mitteilungen, die man für einen schlechten Scherz halten müßte, wenn nicht die „Schlesische Zeitung" ein so ernstes Blatt wäre. Er schreibt u. a.: „Bogel hat seine Eisenhosenrollcn gebende Jeanne D'Are, die er „siegreiche Germania" ge tauft hatte, in einen „deutschen Michel" mit ein fachsten Mitteln umgemalt. Ein kräftiger rotblonder Schnurrbart ist der Jungfrau in die Nase gesteckt. Ihr Frauenpanzcr ist etwas abgeflacht, läßt aber noch immer die Grundform erkennen. Die genaue Kopie der Rüstung ist verwischt, das Zaumzeug geändert. . . . Keine dieser Umänderungen hat dem Werke einen künstlerisch irgend wie ernst zu nehmenden Charakter gegeben, geschweige denn den Wert einer originellen Gcistesschöpsung. Sie sind lediglich Vertuschungsvcrsuche, die dazu hastig und lüderlich angestellt sind. Es war Professor Hugo Vogel augenscheinlich bequemer und leichter, die Dame, da sic einmal wie ein Mann saß, mittelsSchnnrrbarts undBrust- aüplattung in einen deutschen Michel, in einen Mann um zuwandeln, als ihr einen Rock, einen anderen Reitsitz nnd ein neues, deutscheres Gesicht zu geben . . . Das Plagiat war als Original in Berlin fertig auf die Leinwand ge malt und an der Wand des Sitzungssaales des Stände hauses in Merseburg aufgcklebt und eingelassen nnd war jo der Aufsichtsbehörde als fertiges Werk übergeben worden. Und erst, als die skandalöse Sache durch ein ver trauliches Rundschreiben im Kreise Beteiligter zur Sprache gebracht war, hat Professor Vogel auf eigene Jaust wenige Tage vor der Eröffnung des Ständetages im Anfänge dieses Jahres die Veränderungen „ange bracht". Unter dem rotblond-deutschen Schnurrbart sitzt also das gallische schwärmerische Gesicht der Johanna, unter Michels Eisen brust Jarbe und Iorm des I ra n c n p a n z e r S. Das Original ist übermalt worden, als die Sache brenzlich wurde." Wir sind mit Jreudcn Deutsche, aber wir würden etwas darum geben, aus eine Viertelstunde lang Engländer oder Franzosen zn sein, um als Unbeteiligte recht von Herzen lachen zu können; denn cs liegt ja unzweifelhaft ein gro tesker Humor darin, daß das Sinnbild weiblicher fran- zösichcr Heldenhaftigkeit in das Vorbild der deutschen Iran nmgcwandclt wird, und daß dieses dann wieder mittels eines Schnurrbartes zum Vorbildc deutscher Männlichkeit gemacht wird. Neben der Heiterkeit würde dann bei uns noch ein ganz klein bißchen Schadenfreude unterlaufen, daß diese verdammten Deutschen, die sich immer so viel aus ihre Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit zu Gute tun, einmal so eklatant den Beweis vom Gegenteil geliefert haben. Und endlich würde, wenn wir speziell Franzosen wären, neben der Heiterkeit und Schadenfreude noch ein Gefühl befriedigter Eitelkeit cinhergehcn, daß die Deutschen ihre Jdealgcstalten von uns entlehnen müssen. Da wir aber Deutsche nnd damit die Nächstbcteiligten sind, so werden die hnmoristichcn Regungen durch ein brennendes Schamgefühl unterdrückt, denn wenn die „Schlesische Zeitung" sagt: „Ein Fall, in welchem dem nationalen Empfinden eines Volkes derartig Hohn ge sprochen wurde, ivie cs Vogel getan, ist noch ungesehen und unerhört", so drückt sic nur das allgemeine und selbst verständliche Empfinden aus. Mit der Entrüstung aber ist cs nicht getan; es muß etwas geschehen. Wir wollen damit nicht sagen, daß gegen den Verfertiger dieses traurigen Machwerkes vorgegangcn werden solle; der Mann ist genug gestraft durch das Ge lächter des Auslandes, die Entrüstung des Jnlande* und, wie wir wenigstens hoffen wollen, das eigene Ge wissen. Unser l.otornm eonseo aber ist, daß dieses Bild werk schleunigst svrtgcschafst werden muß. Will man nichts Neues an seine Stelle setzen, so mag man die Wand ruhig frei lassen. Ein leerer Fleck ist besser, als ein Schandfleck. Das deutsche Volk muß so lange seine Stimme erheben, bis diese uns zugcsügte Blamage ans der Welt geschasst ist. Schweigt cs still, etwa aus dem Grunde, weil der Ver fertiger des Machwerkes sich angeblich hohen Wohlwollens erfreut, so wollen wir zu einem Ertrahvnorare sammeln, damit Herr Vogel dem deutschen Michel noch eine Schlaf mütze anmalt. Denn diese würde dem wackeren Michel dann gebühren. Vie Todesfälle in der franMschcn Armee und die Kriegstilchtiykeit. In der französischen Kammer ist letzthin eine An gclegenheit zur Sprache gekommen, die sür den Fall eines großen Krieges von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein kann. Ein Abgeordneter hat sestgestellt, das, seit dem Kriege von 1870 Deutschland von den unter der Fahne stehenden Soldaten kaum ein Siebentel der Zifser durch Todesfall cingebüßt hat, die Frankreich in derselben Zeit verloren hat. Der Kriegsminister hat die Richtigkeit dieser Behauptung im großen und ganzen zugegeben, nnd er hat nur als Entschuldigung die Tatsache anzuführcn vermocht, daß man in Deutschland hinsichtlich ihrer Ge sundheit nicht ganz zuverlässige Rekruten überhaupt nicht einstelle, während Frankreich sämtliche diensttauglichen Leute einstcllen müsse. Infolgedessen sei besonders die Tuberkulose in der französischen Armee viel hänsiger, als in der deutschen. Hinsichtlich dieser mörderischen Krank heit ist das Verhältnis für Deutschland noch besser als das Gesamtverhältnis; denn von deutschen Mannschaften stirbt etwa ein Zwölftel soviel an Lungenschwindsucht, wie von französischen. Wir sagen, daß die hier fcstgestellten Tatsachen auch für den Fall eines Krieges von Bedeutung sind, nnd zwar ans zwei Gründen. Es genügt nämlich nicht, daß man nur die während ihrer Dienstzeit an Tuberkulose verstorbenen sranzösischen Mannschaften in Rechnung zieht, sondern wenn ein stärkerer Prozentsatz der Mannschaften zn dieser Krankheit disponiert ist, so gehen zweifellos zahlreiche Personen, die sich zwar durch die Dienstzeit gerade noch durchgcschlcppt haben, deren Leiden aber durch die An strengungen der Dicnstjahrc sich weiter entwickelt hat, in den folgenden Jahren oder Jahrzehnten ihres Lebens zn Grunde. Daraus ergibt sich weiter, daß der prozentuale Abgang von im Reserve- und Landivehrvcrhältnis stehen den Mannschaften in Frankreich großer sein muß, als in Deutschland, und daraus ergibt sich endlich, daß bei gleicher Friedensstärke nnd sonst gleichen Bestimmungen über die Zeit der Wehrpflicht im Falle eines Krieges Frankreich nicht so viel n'uffcngcübte Personen anfstellcn kann, wie das deutsche Reich. Indessen soll hierauf noch nickt das Hauptgewicht gelegt werden; denn der so entstehende Unterschied der Ziffer mag sich ja vielleicht auf Zchntauscndc, ja, aus einige Hunderttausend belaufen, aber diese an sich gewiß großen Ziffern vermögen bei den Millionen, die heutzutage von zwei Militärmächte», wie Deutschland »nd Frankreich, im Kriegsfälle auf die Beine zn bringen sind, keine ent scheidende Rolle zu spiele». Viel wichtiger ist die Ge fährdung der Qualität und der Strapazier- sähigkeit durch die zngegebene Disposition zur Lnngciischwindsnchi. Denn man muß sich sagen, daß, wenn schon im Frieden eine erhebliche Anzahl von Soldaten dieser Krankheit zum Opfer fällt, im Kriegsfälle, wo doch unvergleichlich härtere Anforderungen an die Ausdauer, und damit an die Gesundheit der Mannschaften gestellt werden, der Würgeengel der Lungenschwindsucht in der französischen Armee noch ganz anders wüten wird. Eine mehrtägige Marschleistung mit den minimalsten Ruhe pausen, ivie sie beispielsweise die Armee des preußischen Kronprinzen in den letzten Tagen des August >870 zu voll führen hatte, kann nur von kerngesunden Mannschaften durchgesührt werden. Was aber vom militärischen Stand pttutte ans noch schlimmer ist, als die Zahl der er tränkenden nnd dadurch marschnnsühigen Soldaten, ist die Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit der marschieren den Truppe durch eine große Zahl von Kranken. Von den „heroischen"Mitteln Napolconsl. in Aegnpten, die kranken Soldaten ins Jenseits befördern zu lassen, wird ja doch nicht jeder Oberbefehlshaber Gebrauch machen wollen. So dürfte sich an den Jranzvsen noch der Versuch räche», Unmögliches leisten zn wollen. Unmöglich aber ist es fiir einen Staat, dessen Einwohnerzahl in fünf Jahren noch nicht um ein Drittel der Ziffer zunimmt, die der Nachbarstaat alljährlich als Zunahme anszuweisen hat, mit dem Nachbarn hinsichtlich der a n a n t i t a t i v e n Mehrleistung rivalisieren zu wollen. Auf die Dauer läßt sich die Quantität doch nicht erreichen, und die Qualität, die sonst vielleicht hätte gleichwertig sein können, nimmt unter den nutzlosen Bersuchen den empfindlichsten Schaden. Deutsches Reich. Berlin, 2. Dezember. lW elfische Ehrlich keit.) Ein wclfischcr Agitator hat sich jüngst in einer braunschweigischen Welsenvcrsammlung mit der Frage beschüstigt, ob der gegenwärtige braunschweigische Landtag die richtige Vertretung des braunschweigischen Volkes sei. und hieraus geantwortet, daß nur in einer auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes gewählten Volks vertretung die Stimme des Volkes ihren Ausdruck finde. Der Nachweis, wie wenig diese Auffassung zu den wel- sischen Traditionen sowohl in Hannover, als auch in Braunschweig passe, ist den Welfen offenbar höchst un gelegen gekommen. Denn die wclfischc „Deutsche Volks zeitung", welche noch am 2). November über jene braun schweigische Versammlung, ohne den leisesten Widerspruch zu erheben, berichtet hat, ist nunmehr beflissen, den Glauben hervorznrnfen, als ob von welfischer Seite das Verlangen nach dem allgemeinen Wahlrechte für den brannschweigischen Landtag überhaupt nicht erhoben sei. Die „Deutsche Volksztg." spricht nämlich — in Sperr druck!! — von den „angeblichen Ansichten" eines »'elfischen Agitators, der für das allgemeine Wahl recht fick erklärt „haben soll". — Solchem Ab- lkugnnngsversuche gegenüber genügt dicWiedcrgabc einer Stelle ans den, Berichte über jene Braunschweiger Ver sammlung, den die „Deutsche VolfSztg." am November veröffentlicht bat. Darin heißt cs wörtlich: „Rechts- auwalt Elster warf die Frage auf, vb der jetzige Landtag die richtige Vertretung des brannschweigischen Volkes sei, und betonte unter lebhaftem Bei- falle der Anwesenden, daß eine Landesver- trctung, in der die wahre Stimme des Volkes znm AuS» Feuilleton. Das erlösende Wort. Humoreske von Teo von Torn. Nachdruck verboten. Wenn jemand Frau Milli Plehwe gesehen hätte, wie sie da saß — die schlanken Arme aus dem wirren Spitzen werk des Negliges weit ans den Tisch gestreckt, die blauen, seuchtschimmerndcn Augen starr auf die gefalteten Händ chen gerichtet — der hätte geschworen, daß Frau Milli Plehwe betete. Aber das war nicht der Fall. Der kleine Mund mit der ein wenig eigensinnig aufgesetzten Oberlippe murmelte allerdings etwas — unaufhörlich, ohne Ermüden und nur mit jenen Unterbrechungen von Sekunden, die das rote spitzige Zünglein brauchte, um die trockenen Lippen wieder geschmeidig zu machen. Sonst murmelte sie immer weiter und nur das Eine: „Schock — Bomben — Millionen — Donnerwetter ..." Wen das etwa befremden sollte, der weiß eben nicht, was vor einer Stunde in dem mollig warmen, funkel nagelneuen Nestchen des Assessor Plchweschen Ehepaares unter der von grüngoldenen Fransen umschatteten Hänge lampe und im Angesichte eines noch nicht berührten Abend essens sich abgespielt hatte. Er war fürchterlich gewesen, dieser cicstc Krach. Mit einem ganz leichten Geplänkel hatte er angefangen. Ein drolliges Schneeballen mit Worten. Ohne daß man es wollte und zunächst auch nur merkte, waren die Würfe hef tiger geworden. Schließlich wurden es Vorwürfe, die nach und nach zu Wortlawincn anwuchsen und mit immer gröberer Wucht einer Katastrophe cntgegenrollten. Nach einem besonders empfindlichen Angriffe seiner kleinen Frau versagte plötzlich die bei aller Erregung bis her noch festgehaltene juristische Logik und ttebcrlcgcnheit: der Assessor Gerd Plehwe sprang so heftig auf, daß der schwere Eichcnstuhl hintenüber schlug; dann holte er tief Atem — und wie ein Kaserncnhoforgan dröhnte es durch das Stübchen: „Schock — Bomben — Millionen — Donnerwetter!" Der Rest ging unter dem Schmettern der zugeschlagc- nen Tür verloren — und mit dem letzten leise verklingen den NachkUrrcn der Gläser im Büffetschrank, mit dem Nachzucken der Nerven in Frau Milli Plchwcs zornrotcm Gesichtchen war die Sonnenscligkeit der Flitterwochen zu Ende. Es war überhaupt alles zu Ende . . . DaS war ihr erster lähmender Gedanke gewesen, als sie sich allein gesehen. Znm ersten Male in diesen vier Monaten und an diesem Tische allein. Eine furchtbare Leere gähnte um sie herum. Alle die vertrauten Gegen stände, die die trtjbbrennendc Lampe beschien, nahmen sich mit einem Male kalt und gespenstisch fremd aus. Der silberne Affenkops auf der Zuckerdose, den sie so drollig gesunden und über den sie beide so oft gelacht hatten — Gott, wie weit lag das alles hinter ihr! — schnitt die un ausstehlichsten Grimassen. Das behagliche Summen und Singen der Thcemaschine zerrte an ihren Nerven; aber als sie mit einer müden Bewegung das blaue Flämmchcn erstickt hatte, erschrack sie; denn es war nun noch stiller geworden und es überschlich sic das hcrzkrampscnde Weh gefühl, die Trennung nun auch ihrerseits besiegelt zn haben. Und weshalb das alles? Weshalb? Wie war das Schreckliche gekommen — ? Angefangen hatte es damit, daß c r schon zur Ressource gekleidet ü gnotre öpinulk-»; sich zu Tisch gesetzt hatte. S i c noch nicht. E r hatte etwas von gewohnheitsmäßiger Ver spätung gesagt. L i c hatte erwidert, daß sic auch schon fertig sein würde, wenn sic nur einen Frack nnd eine weiße Halsbinde anzulegeu hätte. Darauf er, sie wolle sich wohl heute ganz besonders schön machen, weil ne in dem albernen Einakter des noch alberneren Dichterlings mitmime, der ihr in so unverfrorener Weise den Hof mache. Darauf sic: Der Baron von Rauten fei durchaus nicht albern; er stoße zwar ein bischen mit der Zunge an, dafür aber habe sein Gcdichtband „Im Spiel der Mücken" einen kolossalen Eindruck gemacht — und zwar einen un vergleichlich tieferen als beispielsweise die jüngste Ver teidigungsrede des Herrn Assessors Gerd Plehwe. Was dann hinüber und herüber geschwirrt war, das wußte die kleine Frau nicht mehr wörtlich — aber es war fürchterlich aufregend gewesen. Und der Schluß! Der entsetzliche Schluß! Sic wurde diese massiven, bleischweren, häßlichen Worte nicht mehr los. Der kleine Mund mit der ein wenig eigensinnig aufgesetzten Oberlippe murmelte sie unaufhör lich, ohne Ermüden und nur mit jenen Unterbrechungen von Sekunden, die das rote spitzige Zünglein brauchte, um die trockenen Lippen wieder geschmeidig zu machen Und als die Zofe mit der Meldung eintrat, baß es sür die gnädige Frau die allcrhöckntc Zeit sei, sich zur Ressource anzuklciden, prallte bas Mädchen erschrocken gegen die Tür, denn die sonst so zarte und ätherische Frau Assessor hatte laut und vernehmlich gesagt: „Schock — Bomben — Millionen — Donnerwetter!" Eine der beliebtesten Unterhaltungen in einer kleinen Stadt nnd speziell auf einer Honoratioren-Ressource ist das Wundern. Man wnndcrt sich Uber alle und alles. Die Frau Steucrrat wundert sich, daß ObcramtsrichterS Lotte noch in demselben meergrünen Fähnchen auf Gesell schaft geht, das sie in der vorigen Saison schon zweimal angebab»; durch zwei Volants wird ein häßliches Kleid nicht neuer und nicht schöner. Noch verwunderlicher aber sei cs, daß Pvstdircttvrs den tiefen Halsausschnitt ihrer Liese und deren unerhörtes Herumtändeln mit dem Super- nnmerar Rothe duldeten. Fran Oberlehrer Klein wun derte sich über die neue Brillantbrvsche der Fran Fabrik besitzerin — obgleich man wußte, wie cs mit der be rühmten Fabrik stand! Sie tuschelte das der Frau Pro fessor Oberding zn — und nun wunderten sich beide ge meinsam. Ganz allgemein aber wunderte man sich, daß der jung verheiratete Gerichtsassessor Cserd Plehwe genau zwei Stunden früher auf der Ressource war als seine Iran. Und die Verwunderung stieg noch, als er auf die vielen takt- und teilnahmsvollen Fragen teils ausweichend, teils direkt grob antwortete — so zum Beispiel dem allge mein beliebten Baron von Rauten. Das Wundern er reichte aber seinen Kulminationspunkt, als die Fran Assessor endlich lam und von ihrem Gatten so gut wie gar keine Notiz, vielmehr sofort den Arm deS Barons nahm, um sich von ihm hinter die Bühne führen zu lassen, wo die anderen Mitwirlendcn bereits ungeduldig ihrer re spektive« Triumphe harrten. Des Wunderns wäre überhaupt kein Ende gewesen, wenn die nun beginnende Vorstellung das Interesse nicht doch etwas abgclcnkt hätte. Assessor Plehwe folgte den Vorgängen auf der Bühne zunächst nur mit einer ganz äußerlichen Aufmerksamkeit. Er befand sich in einer Stimmung, in der der Mensch das zwingende» Bedürfnis hat, sich in die Hacken zu beißen. Blutete ihm schon längst das Herz ob der unsinnigen Zankerei, so war er ganz besonders trostlos über die Un geschicklichkeit, mit der er seine erste Ehcdisfercnz vor den Schnüsfclnascn und süffisanten Frageaugcn dieser Krähwinkler enthüllt. War das nötig gewesen? Mit Nichten. Er hätte nicht -ergehen dürfen ohne seine Frau. Er hätte über haupt das mollige Stübchen mit der von grüngoldenen Fransen umschatteten Hängelampe nicht verlassen dürfen, ohne das Kribbclköpfchcn mit beiden Händen zn fassen und herzhaft abzuküssen. Ihr Zorn hätte sich dann schon ge geben — und der seine auch. Nnn sprach sic da oben ihre süßen Liebcsworte zu einem andern, zu diesem pflaumenweichen Dichterjüngling mit der Lispelzungc nnd der Feuerscelc. Was sic sprach, verstand er gar nickt einmal. Er hörte nur den weichen, einschmeichelnden Ton, das leidenschaftliche Vibrieren in der Stimme — und das sür einen andern! Denn cs auch nur eine Komödie war, so war es doch zum Rasendwerden! In den bitteren Aergcr mischte sich ein schmerzhaft melancholisches Gefühl der Verlassenheit, das sich mehr nnd mehr vertiefte und ihm schließlich sogar das hcHc Wasser in die Augen trieb. Dazu ein Gefühl der Ohn macht. Ihm war, als wenn er allen auf einer wüsten Insel stände durch all diese Menschen wie durch eine brodelnde abgründige Tiefe von seinem Weibe getrennt. Sic war unerreichbar weit von ihm — ganz weit drüben auf einem Hellen sonnigen Ufer, wo sie mit keinem Gc- I danken mehr an ihn dachte, nicht an das lauschige Stüb- I chen daheim, an die Hängelampe mit den grüngoldenen I Fransen, an das stehengebliebcnc Abendbrot, an die be trübte Seele und den nachgerade mächtig knurrenden Magen des ihr vor Gott und den Menschen angetrauten Gatten. Aber im Grunde konnte es ja auch gar nicht anders sein. Er verdiente es nicht besser. Eine rauhe Natur wie er, ein nüchterner Mensch der Praxis — wie hatte er ein so zartes, poetisches und sensibles Wesen an sein Leben ketten können! Sie mußte sich ja kreuzunglücklich bei ihn, fühlen — und nach jenem brutalen Abgang war ein innerer Bruch so gut wie gewiß. Er begriff überhaupt nicht, wie er sich so weit hatte vergessen können. Jedoch selbst in diesem grauen Stadium der Selbst anklage beobachtete er die Vorgänge ans der Bühne mit zunehmender Gereiztheit. Das Stück ging zu Ende und Gerd Plchwcs Geduld auch. Am Schluß, „als sic fick kriegten", lehnte Frau Milli ihr Köpfchen hingebungsvoll an die Schulter des Barons, dieser legte seinen Arm um ihre Taille und — Des Assessors Zähneknirschen ging in dem stürmischen Beifall, der das Fallen des Vorhangs begleitete, unter. Gerd Plehwe drängte sich wie ein Wilder durch die Menschcnmasscn, uni den „Buben" nnd die Ungetreue, die sich wahr und wahrhaftig hatte küssen lassen, zur Rechen schaft zu ziehen. Er konnte nur langsam durchdringen, tteberall stellte man sich ihm entgegen nnd beglückwünschte ihn mit mehr oder minder Niederträchtigkeit zu dem wundervollen nnd überaus natürlichen Spiel seiner Gattin. Er hätte einen Massenmord anrichten mögen unter dieser tückischen Bande. Aber zuerst die Beiden. Die Beiden! Als der Assessor den an die Bühne grenzenden Neben raum betrat, hatten sich die andern Mitwirkcnden schon im Saale zerstreut — nur die Beiden nicht. Trotzdem drang Gerd Plehwe nicht mit gezücktem Dolche in die Cvulisse. Die Stimme der Gattin fesselte seinen Fnß an die Schwelle. Diese Stimme flötete und säuselte nicht mehr — sic war deutlich und unpoetisch wie ein handlicher Spazicrstock nnd schloß eben mit der Wendung: „Also lassen Sic sich das gesagt sein, Sie alberner Mensch! Und wenn Sie es wagen, auch nnr noch ein einziges Wort an mich zn richten, so soll Sie ein Schock — Bombe» — Millionen — Donerwctter " srikassieren!" ergänzte der Assessor vergnügt, In dem er auf die Bühne trat. Er sah nnr noch die fliehenden Rockschösse des Barons nnd zwei zärtliche blaue Augen dickt vor seinem Gesichte. Frau Milli legte die Arme fest nm den Hals ihres Gatten und sagte: „Ach du — wie iß da» schön, wenn man so ein erlösen des Wort bei der Hand hat!"
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