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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 02.12.1906
- Erscheinungsdatum
- 1906-12-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190612023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19061202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19061202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1906
- Monat1906-12
- Tag1906-12-02
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Bez«qS*PrriS für Leipzig «»d vor«t«: I« der Hmlpt- Er-ßdittoa »der deren Ausgabestellen ab- geholtBWWtlich: A»Sgab« d (1 mal täglich) 70 M M»SgaK » <2 mal täglich) 80 bei Z»ftAk»»g la» Haa- Ausgabe d 80 Pi, Ausgabe 8 1 Mark. Durch uasere au«- wärtlge» AuSgabestelleu und durch die Post bezöge» (1 mal täglich) für DraOchland »ad Oestsrrich monatlich 1 Mark, für die übrige» Länder laut ZeitongepreiSIist«. Diej« Numme^ lostet aus SSd allyi Bahnhöfeu und bet III de» Zeitung«. BerkSuser» V f ReSattton uns «r»e«Uto»r Johanairgasse 8. Telephon Rr. 1KL Rr. 222, Nr. 1173. Berliner RedatttonS-Lureau: Berti» 7, Prinz Loai« F«rdt»a»d- Straße 1. Delepbou l, Rr. 9275. Nr. 560. Morgen-Ausgabe v. MpMcrIilgMM Handelszeitung. Amtsblatt -es Rates und -es Rottzeiamles -er Lta-t Leipzig. Sonnlaq 2. Dezember 1906. lAnzeiqen-Preis di« Sgespatteue Petitzeile für Geschäft«. Inserate au- Leipzig und Umgebung 2ä Pf., Familie».. Wohnung«» u. Stellen-Anzeigen, sowie Aa- uud VrrkSuse 20 Pf, finauzielle Anzeigen 30 Pf, für Inserate von au-wärt« 30 Pf. Aeklamr» 75 Pf, auswärts 1 Mark. Beilage- aebühr 4 Mark p. Tausrnv exkl. Postgebühr. GejchästSanzeigrn an bevorzugter Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Tarif. Aueetgen-Annahme: Augustusplay 8, bei lämtlichen Filiale» n. allen Anuoncen» Expeditionen des In- und Auslandes. ür da« Erscheinen an bestimmten Tagen u. lätzen wird keine Garantie übernommen. Haupt-Filiale Berlin. CarlDun cke r.Herzgt.Bayr.Hosbllchhaiidlg.. Lützowstragr 10 iTelephon VI, iltr. 4603). FMal--Erpediti»u:TreSdeu.Marienstr3t 100. Jahrgang. Var iOicdligrle vom lagt. * Am gestrigen Tage sand in Stettin die Taufe des neuen Schnelldampfer« des Norddeutschen Lloyd statt, der den Namen „Kronprinzessin Cecilie" er hielt. (S. Dischs. R.) * 2m Reichstag, der gestern die Kolonialdebatte fortsetzte, kam es zu Lärmlzenen, als Bebel auch den Fall Peter- in leine Erv'terungen hmrinzoz und behauptete, Mitglieder der Rechten halten in unlulälsiger Weise die Ent lassung de- Geheimrats Hellwig aus dem Auswärtigen Amt vrranlaßt. (S. ParlameutSber. 8. Beilage.) * Die offiziöse „Süddeutsche ReichSkorrespon- deuz* bringt eine bemerkenswerte Auslassung über die Abrüstnng-oorschläge. (S. Dtsch. R.) * Die aesariM» Pariser Abendblätter melde» die Modi. lisiera»«t«» sranzösische« Nordgeschwa- der- und der Kolonialartillerie iu Brest au- Aalast der maroHa»ische» Wirren. * Der frühere Oberp rasident der Rheinprovinz von Nasse ist iu Bouu gestorben. « I« Söpenicker Prozeß wnrde der Angeklagte Batgt Wegs« schwerer Urkundenfälschnug, öffcutltchcr Krct- hetlSberaubuug, Betrugs und Trageos etucr Uniform zu vier Jahren Vefäugnts verurteilt. Der Staats anwalt hatte fünf Lahre Luchthaus beautragt. (S. Art. und Gerichts».) * Der russische Finanzminister Kokow^eff hat abermals iu einem geheimen Memorandum die tzinauz- schwierigkeiteu betont. Der ZtanO Oer ssolonialassären. Allmählich beginnt eS zu tagen. Seit Jahren hat man gemunlelt. Seit Jahren ist da- trübe Material, zum Teil au- trüben Quellen, gesickert, gequollen, geströmt. Zuletzt war ein Gebräu entstanden, das niemand mehr zü quali fizieren vermochte. Wurden die Anklagen lauter und lauter, so mehrte sich auch die Zahl der Verteil, ger. Und schließlich war ei» Widerstreit der Meinungen da, in dem cs nur noch möglich schien, für oder gegen die Kolonien selbst Stellung zu nehmen. Die Debatten der letzten Tage haben endlich Licht in die wichtigsten Angelegenheiten gebracht. Durch die Arbeit zweier Leute ist dies geschehen. Der Abgeordnete Erzberger, das ist heute nicht mehr M bestreiten, hat den entscheidenden Anstoß zur Klärung und Gesundung gegeben, ein Sieg der energischen, parlamentarischen Kritik, für den das Parlament als Institution dem Manne sehr dankbar sein muß. Er hat, manchmal in angreifbarer Form und häufig bis zum Ueberdruß, gegen die Negierunasvertreter das parlamentarische Prinzip der Kontrolle verteidigt und schließlich zur Geltung gebracht. Hätte der Mann von An fang an seine Ziele so prägnant zum Ausdruck gebracht wie am letzten Freitag, so wären ihm sicher auch viele Angriffe erspart geblieben. Aber es ist richtig, daß seine Angriffe nicht immer verständlich waren. Man wußte nicht, wohin aus der Mann wollte, und konnte ihm deshalb nicht überall hin folgen. Heute sieht man, daß Herr Erzberger in seine überaus wichtige Aufgabe erst selbst hineinwachsen mußte, daß er selbst erst nach dem richtigen Wege getappt hat, den ihn schließlich unablässige Energie und Instinkt finden ließen. Daß er sich zu dunklen Andeutungen, die Drohungen sehr ähnlich scchen, hinreißen ließ und sich dadurch Gegner schaffte, war keine angenehme Begleiterscheinung. Wir haben selbst ost genug ihm entgegentreten muffen. Auch heute noch können wir nicht alle taktischen Wendungen des Erzberger- schen Kolonialfeldzugcs billigen. Aber wir billigen seine Ziele. So wichtig nun diese treibende Kraft war, so unentbehr lich sie sich heute dem rückschauenden Bl ck darstellt, noch wichtiger war freilich die zweite Kraft, der wir die Positive Arbeit in der Kolonialwirtschaft verdanken. Terovurg. Ein Vergleich mit seinem Vorgänger zeigt dies in auaenfälliger Weise. Wir stimmen nicht in die Verurteilung des Erb prinzen zu Hohenlohe-Langenburg ein. Eins jedenfalls hat der Mann gezeigt — den guten Willen. Was man auch von den HohenloheS sagen mag, sie alle haben, vom Onkel Chlodwig angefangen und beim in die Verbannung geschickten Bezirk-Präsidenten aufzehört, einen gemeinschaftlichen Zug innerer Unabhängigkeit gehabt, sie alle sind Menschen ohne Ju»kerdnnkel und bereit zur Arbeit für das Vaterland ge wesen. Nur waren sie alle keine Kampfnaturcn und der Schwiegersohn des früheren Koburger Herzogs ist sicher keine. Er war immerhin der erste, der rückhaltlos Beneblungen und Mißgriffe im Kolonialwesen zugab. Auch sein Wille zur Besserung ist in manchen Ansätzen erkennbar. So ^og er den Gouverneur von Kamerun zur Rechenschaft und erkannte die parlüknentarische Kontrolle im Prinzip offen an. Aber er »ar der Sanierungsaufgabc nicht gewachsen. War dos seine Schuld? Wir glauben, nein. Er tat, was er konnte. ITttr» p«s» vomo obli^»tvr. Er tat noch mehr. Er schied ohne Murren aus der Stellung, als er seinen Mangel an den gerade hier nötigen Qualitäten erkannte, od-r als ihm der Mangel klar gemacht worden war. Und nun kam Dera- bur-. D^r Ruf rücksichtsloser Energie ging ihm voran. Und wir vermuten, daß ihm dieser Ruf ebensoviel genützt hat bei seiner Urteil wie die Energie selbst. Ma» war auf Gewalt akte gefaßt und deshalb zmn Frieden geneigt. Aber wie sich auch die Erfolge erklären lassen — sie sind da. Die omi nösen Verträge sind gelöst. Das Beamtenpersoual ist drei mal gesiebt und ergänzt worden, und wir sind endlich dort angelangt, wo wir unsere Kolonialpolitik hätten beginnen sollen, beim wirtschaftlichen Aufbau in Klarheit der Verhält, niffe. Noch am ersten Tage seines parlamentarischen Auf tretens, als die allzu sorgfältig vorbereitete und zuviel be- ratene Programmrede des neuen Kolonialdirektc-rs uns in die Ohren klang, als wir die Mixtur in ihre Bestandteile zerlegten — reaipo Patriotismus 15, Bismarck 10, Zentrumssalbe 10, Optimismus 25, Aufräumuiigsarbcit und Reformen 40 —, war uns immer noch um die Seele des Mannes bange. Wir haben das ja auch nicht verhehlt. Heute sind wir der sicheren Hoffnung, daß Dernburg sich selbst nicht verlieren, daß er sich durchsetzen wird. Sein« Haltung in den Debatte», sei»e Objektivität hei der Beurteilung der Bor- würfe bürgen dafür. Und seine klei»en Entgleisungen, di sämtlich mehr sprachlicher als sachlicher Natur waren, können uns daran nicht irre machen. Den großen Fortschritt in der Gesundung der Kolonial- geschäfte möge folgende Aufstellung zeigen! Lieferungs- und Transportverträge. Be ginn der Session 1905/06: Erzberger bekämpft die Verträge, Kolonialräte verteidigen sie. Ende des ersten Sessionsabschnittes: der Erbprinz zu Hohenlohe erklärt auf eine Resolution des Reichstags, er habe sich um eine Lösung des Vertrages mit Tippelskirch bemüht, die Firma fordere aber zu hohe Ablösungsgelder. Heute: der Vertrag mit Tippelskirch ist gelöst — ohne einen P'eunig Ablölnnqsgeld. fLeider will Herr Dernburg seine lösenden Mittel im Plenum nicht verraten.) Der wichtigste Vertrag mit Woer- mann wegen des Transports von der Heimat nach Südwest afrika ist gelöst — ohne Ablösungsgeld. Wegen der Modi fizierungen anderer Verträge wird verhandelt. Der Apothekervertrag ist gelöst. Verträge mit den Terra/ngeselllchaften. Beginn der Session 1905/06: Aoqeordnete der ver schiedensten Parteien bekämpfen die Landgesellschaften. Kolonialräte verteidigen die Gesellschaften und die Kolonial. Verwaltung. Heute: Dernburg erklärt, die Gesellschaften würden zur Erfüllung ihrer Kontrakte angehalten werden, eventuell würden ihnen Grundsteuern für nicht bewirt schaftete Terrains auferlegt werden. Natürlich dürfe der Ruf des Reiches als Kontrahent bei Verträgen nicht Schaden leiden. Koloniale Eisenbahnbauten. Bisker wurde der Brunnen immer zuzudecken versucht, wenn das Kind hineingefallcn war. Als uns die Versorgung der im Süden des Schutzgebietes kämpfenden Truppen mittels Ochsenkarrcn bereits 75 Millionen Mark gekostet hatte, trat man endlich an den Reichstag mit einer Bahn- forderung heran, die glatt bewilligt wurde. Zur Erzwin gung der Fortsetzung des Bachnbaues hielt ein Kommissar Brüskierung des Parlaments für das sicherste Mittel. Der Bau wurde abgelehnt. Heute hat die Vorlage Aussicht auf Annahme. Ein Eisenbahnprogramm ist ,n Vorbereitung. Parlamentarische Rechnunaskontrolle. Trotz aller Mahnungen des Parlaments war es bisher nicht zu ereichen, daß die Kolonialrechnungen vorgelegt wurden. Die letzte Rechnungslegung schloß mit dem Jahre 1896. Gerüchte über „schwarze Fonds" und „schwarze Kassen" tauchten auf und wurden als Uebertreibungen und Verallgemeinerungen bezeichnet. Auskunft wurde nicht ge geben. Heute: Ein Kreditgesetz über sämtliche Etatsüber- fchreitungen wird angekündigt. Zwar eine böse Ueber- raschung, aber doch eine Klärung. K'effenmißwirtschaft wird zugegeben, Remedur und volle Aufklärung versprochen. Diese Aufstellung ist nicht vollständig, macht auch keinen Anspruch darauf, es zu sein. Sie soll nur zeigen, was in der Zeit von zwei Monaten die Energie des einen ManneS er reicht hat. Man sollte meinen, es genügt. kii» parlamenttrlranllal in knglana. lVon unserem Londoner Korrespondenten.) Daß das britische Unterhaus schon längst nicht mehr „die vornehmste gesetzgebende Versammlung der Welt" ist, darüber besteht auch unter den englischen Patrioten, welche der Verfall des Parlamentarismus in seinem Heimatlande schmerzt, schon längst eine oorumunis opinis. Nicht nur die alte Höhe der Intelligenz ist verloren ge gangen, so daß dem Worte des bekannten Kriegskorrcspon- denten Spencer Wilkinson auch von Nichtkonservativen recht gegeben wird. daß nämlich der geistvollste Politiker Eng land« — Guy Fawks gewesen sei, der das Parlament durch die Pulvervcrschwörung aus dem Wege räumen wollte. Auch die alte stramme Rechtlichkeit ist verloren gegangen. So wenigstens behaupten die Lobredner vergangener Zeiten, ivabrend freilich der Historiker eine etwas bescheidenere Meinung von dem Standard der Honorigkeit bekommen muß, wenn er da- Treiben in den „rotten dorousds" nachblättert; denn da ist kein« Serie ohne Flecken! Es ist nicht wahr, daß es an dem parlamentarischen Nachwuchs fehlt, aber er wird durch plutdkratische Korruption teils moralisch teil physisch ferngehalten. Man kann eS in jedem Klub hören, daß jeder energische Mann, der fünftausend Pfund in einem ländlichen Wahlkreis zu „investieren" den Mut bat, parla mentarischer Ehren sicher ist. TaS Parlament hat aus die sem durchaus nickt mehr ungewöhnlichem Wege eine Reihe tüchtiger politischer Geschäftsleute erhalten . Größer ist die Reihe fragwürdiger und keineswegs klein die Reihe keines wegs mehr fragwürdiger Gestalten. Die Eisenbahnen haben bis tief in die neunziger Jahre auch in England mit dem Parlament gemacht, was sie woll ten. Auch Großbritanien hat einen Tarifkrieg der wildesten Art gehabt, und zwar einen vierzigjährigen! Und der Friede war ein ebenio lahmes, ebenso zu gunsten der Bahnen ab schließendes Kompromiß, wie es in Amerika den Kriegszug Roosevelts gegen die Union Pacific und die Pennsylvania Railroad beschließen wird. Bis zu den letzten Neuwahlen nahm die Montanindustrie eine ähnliche Stellung ein und durfte die alten britischen Antikar- tellgesetze ungestraft verletzen. Balfour lehnte verschiedent lich im Parlament ab, gegen den nordenglischen Schiffs- bautrust einzuschreiten. An den Einfluß der Minenfinanz unter Chamberlains Kolonialsekretariat braucht man kaum zu erinnern. Der große Stil dieser Cotcrien, die enge wirtschaftliche Verflechtung mit seinen eigenen wirtschait- lichen Interessen läßt den „Mann in der Straße" über die Clique» aber ein Auge zudrücken: er weiß, daß diese Wirt schaft bas Rückgrat de- CithlebenS bildet, dessen Abenteuer lichkeit die Chancen seiner Laufbahn ausmacht, und daß eben die Citypolitik Englands Größe, nämlich seinen Reich tum und seine Skrupellosigkeit geschaffen hat. Aber gegen die bloß reichen, bloß frechen Räuber kehrt sich ferne Wut um so mehr, revoltiert sein Selbstbewußtsein um so heftiger — gelegentlich, wenn irgendwer die Sache geschickt in die Hand nimmt. So letzthin gegen den M. P. Lever, den lächerlichen Reklamehelden, der den Seisentrust zur Abwendung seines eigenen Bankerottes in Szene setzen wollte: ein paar Monate früher gegen den M. P. Dottomley: gegen den M. P. Homer, einen der gefährlichsten Check schwindler und Hotelpreller, daneben auch Manipulanten von Börsenblättchen, der die parlamentarische Immunität zur Verschleppung seiner Bankerottprozesse in der verwegensten Weife ausnützte. Iu die reine Luft dieser Versammlung haben jetzt die „Times" eine böse Stinkbombe geworfen. Das „Opfer" dieses wohlberechneten Attentates ist H. H. Marks, als Parlamentarier der Vertreter des Wahlkreises Jsle os Thanet als Privatmann Besitzer und Chefredakteur der „Financial NewS" in London. Mr. Marks hat mittel- der „Fmonc.-il News" in einem Jahrzehnt mehrere Milli onen vcrdren., obwohl das Blatt keine übermäßige Auflage besitzt und nur noch — im Auslande ernst genommen wird. Ter Charakter des Blattes wird chnrch . zwei. „Hüge charakterisiert. Es hat täglich eine Spalte übrig, um „Haltet den Dieb" hinter irgend einem kleinen Dieb zu rufen, der auf dem Wege des Inserats ein paar foule Aktien oder noch etwas Fauleres loszuwerden sucht. Im übrigen aber verleiht eine weitgehende Nai vität gegenüber tendenziösen Börsennachrichten, eine ver blüffende Harmlosigkeit bei der Beurteilung groß ange legter — Citygeschäfte ihm das Gepräge rührender Unschuld. Ganz unschuldig ist das Blatt und sein Herausgeber auch in alle großen Finanzskandale des letzten Jahrzehnts verwickelt gewesen. Im Whitacker Wright - Prozeß wurde der meistkompromittierte Redakteur nicht etwa entlassen, son- dein in eme andere Abteilung versetzt! Mr. Marks ist aber nicht etwa ein vereinzelter Spezialist, sondern ein Typus, wenn auch ein sehr grober. Als Mr. Marks bei einer Nachwahl im Jahre 1905 sich bei den einfachen Schiffern von Margate als „Chamber- lainist" seinen Sitz eroberte, da schüttelte ein Sturm der Entrüstung die Oeffentlichkeit: die „Daily News" veröfsent- lichten das gegen Marks vorliegende Material, aber es folgte keine Klage! Marks wartete einige Wochen und fand dann wirklich zwei gute Leute, die in einer stillen Stunde seine „Einführung" ins Unterhaus besorgten. Mr. Chamber lain gratulierte ihm nicht, wie allen unionistischen Wahl siegern, die konservative Partei erkannte ihn nicht als Mit glied an. Seit der großen Wahlniederlage im Januar, bei der aber Marks wiedergewählt wurde, sind die konservativen Herren milder geworden. Es wurde von Zeitungen aller Parteien als die Bankerotterklärung der Tarifreform be zeichnet, als sich vor einigen Wochen Mr. Austin Chamber- Iain in einer Hauptversammlung der Schutzzöllner mit Mr. Marks in die Ehren der Vorstandschaft teilte. Fast zur gleichen Zeit erklärte der hochgeschätzte Richter Bigham amt lich Mr. Marks für „einen Schurken nach seinem eigenen Eingeständnis" und für einen „unehrlichen Landstreicher". Dieses Material gegen Mr. Marks haben nun 16 hoch angesehene Wähler der Jsle of Thanet, darunter Priester und Generäle, aktenmäßig in einem Briefe an den Unter- Hauspräsidenten zusammengefaßt, und diesen Brief haben die „Times" veröffentlicht. Die Anklage gipfelt darin, daß ein in finanziellen Dingen unzuverlässiger Zeitungsbesitzer nicht befähigt ist, über sogenannte „Private Bills", in denen finanzielle Interessen der Allgemeinheit in Frage kommen, mitzuberaten. Solche Privatgesetze, welche für irgend ein Erwerbsunternehmen von Personen, Gesellschaften oder Kommunen die parlamentarische Sanktion nachsuchen, bilden in der Tat den Ansteckungspunkt des Korruptionsherdes. Gesellschaften sind dadurch bankerott, kleinere Gemeinden bettelarm aeworden, und in den Schlußstadien einer Session ist es nichts Ungewöhnliches, daß auf die großen finanziellen Opfer hingewiesen wird, um noch eine oder die andere Pri vatbill ungeprüft durchzudrücken. Eine Interpellation über die Anklage gegen Marks mußte von dem Präsidenten zurückgcwicien werden, weil der Jnkulpat sich der Vergehen nicht in seiner Eigenschaft als M. P. schuldig gemacht habe. Marks selbst erklärte sich mit seinen Freunden „beraten" zu wollen, ob er klagen werde. Und damit war das Hans befriedigt! Das heißt, der Skandal beginnt erst! Denn die „Times" werden nicht locker lassen. WaS man von ihnen sonst denken mag: Sic haben mehr als einmal ihre wirtschaftliche ExiOenz aufs Spiel gesetzt, um parlamentarisch« und finanzielle Skan dale aus der Welt zu schassen, und ihr schönster Schatz ist noch heute die vor beiläufig hundert Jahren vom Parla ment für eine solche publizistische Tat votierte Ehrentafel. ver „sisuplmatm von ssöpenick". Wie? Nun soll der sympathische Gauner von Köpenick, dessen Sckiusterwitz die Berliner Intelligenz so fürchterlich hcreinaelegt hat, und dessen Vorleben gestern vor der Justiz ausgcbreitet wurde, mit unserer deutschen Kultur in Ver- bindung gebracht werden? Allerdings soll er das. Man hat weidlich gelacht über diesen dreisten Don Quixote, aber das Lachen verstummte, als das Vorleben des Mannes bekannt wurde, als seine Ge- meingesährlichkeit denn doch größer schien als sein Witz. Tie Sympathien vieler gingen, wenn auch nicht in Antipathien, so doch in Apathie über. In den Kreisen der Gebildeten ver lor der Schuster an „Ansehen". Nicht so in der Menge. Die feierte ihn weiter und drängte sich gestern zum Spektakel seines Prozesses. Die Dreistigkeit des Mannes war so außergewöhnlich, die Ruhe, mit der er seine Rolle so überraschend durchzuführen wußte, so imponierend, daß man unwillkürlich die geistige Leistung über die moralische stellte und sie allein gelten lassen wollte. Aus demselben Beweggründe heraus, ans dem wir einem großen Verbrecher auf der Bühne eine »1t Grausen gemischte Bewunderung entgegenbringen, wollten wir auch dem „Hauptmann von Köpenick" unsere Urteilskraft be weisen. Ein jeder Einzelne spielte ein klein wenig den Re volutionär und argumentierte: Was sind Gesetze? Was ist Moral? Ter Mann ist ein Prachtkerl und verdient eine Ausnahmestellung. Mit anderen Worten: Man räumte dem „Hauptmann Vvn Köpenick" ein, was man dem Genie manchmal zubilligt, öfters aber vorcnthält. Man maß ihn an seinem eigenen Maßstade und erkannte seine geistige Ueberlegenheit und Unerschrocken- heit willig an. So kam cs, daß die Nachricht, daß der Mann ein Zuchthäusler sei, ein allgemeines Bedauern hervorries. Denn nun konnte der Nimbus des Romantischen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Jede abenteuerliche Un geheuerlichkeit hätte nur dazu dienen können, den Mann noch beliebter und populärer zu machen. Hätte er feine Braut bei Nacht und Nebel entführt, hätte er drei Ehefrauen gleichzeitig besessen, hätte er einer fetten Parvenüsgatlin die Brillanten von den Händen weggestohlen, man hätte es ihm verziehen. Denn das hätte das Bild, das sich die Phan tasie von ihm gemacht, bestätigt und bereichert. Nun aber kam es anders: Ter Mann entpuppt sich als ein alter Zucht häusler. Das war stillos. Das konnten ihm viele nicht verzeihen. Jedwede noch so tolle Romantik hätte ihm zu Gesicht gestanden. Das Zuchthaus aber P-e r ä n bEr t e da ganze Bild. Das bengalssche Not wandelte sich plötzlich in ein gemeines Fahlgelb. Der zwar erdichteten, aber um so lieber geglaubten Romantik des Abenteurers wurde ein Paroli geboten in dieser Nachricht, die trocken und sachlich seststellte: Ter Mann ist ein Zuchthäusler. Zuchthaus ist keine Romantik. Zuchtbaus ist krasseste Realistik. Ich sagte es schon: Ter Mann hat kein Stilgefühl. Er hat sich mit diesen Zuchthausstrafen der Anwartschaft auf den Ruhm eines sympathischen Gauners beraubt. Dis dahin war die Tragikomödie, menschlich ersaßt und menschlich gewertet, harmlos, nur ein Schulbeispiel aus un serer Strasanstaltspraxis. Sie war es nicht mehr in dem Moment, da spekulative Köpfe die Popularität züchten und in bar umsetzen wollten. Es versteht sich, daß in Berlin eine ganze Anzahl von Ansichtskarten erschienen. Wenn man die Dankbarkeit des Stoffes in Betracht zieht, so muß man sich fast wundern über die Witzlosigkeit dieser Karten. Sic sind nur sensationell, nichts weiter. Da unleugbar einem „dringenden Bedürfnis" abgcholfen werden mußte, so kann man die scharfe, über Nacht entstandene Konkurrenz der ein zelnen Kartenverleger untereinander wohl verstehen. Ter eine hielt seine Ansichtskarten in blau, der andere in schwarz, der eine ließ den Schädel des Gauners zum Wasserkopf an schwellen, so daß er die ganze Karte bedeckte, der andere ver sprach sich eine intensivere Wirkung von viel Tetailzeichnung m Strichelmanier. Jeder hatte seinen Trick. Keiner hatte Witz. Der Mann war ein Ausbeutungsobjekt geworden. Und diese Sucht, dieser Heißhunger, aus allem und jedem Kapital zu schlagen, ist charakteristisch für die Skrupellosig keit, mit der manche Leute heutzutage Geld verdienen. Dieses stillschweigend behauptete non ölet ist im Grunde gleich bedeutend mit Gewissenlosigkeit. Immer finden sich bei solchen Anlässen Leute, die nur der eine Gedanke beherrscht: Wie kann ich auf Grund dieses oder jenes Falles oder mit Hilfe dieser oder jener Person den dummen Mitmenschen das Geld aus der Tasche ziehen? In demselben Sinne, in dem die Prinzessin Chimay und Rigo seinerzeit fürs Variete engagiert wurden, sollte nun auch der „Hauptmann von Köpenick" dem Publikum geboten werden. Jemand bot der Polizeibehörde 150 000 F für das „Objekt" und sicherte dem Gauner außerdem ein glänzendes Honorar zu. Die Polizei lehnte ab Selbstverständlich. Aber der Gedanke, den Zuchthäusler für Geld c.uftrcten zu lassen, bleibt bestehen und mag in mehr als e.inem faden Hirn bestanden haben. Diese Sucht des tc» inalce rnonov, diese Skrupellosigkeit den Mitteln gegenüber, mit denen Geld zu verdienen ist, dürste für unsere heutige Kultur charakteristisch sein. Tic Sache fing vor einigen Jahren damit an, daß irgend ein Ge rissener em skandalisiertes Frauenzimmer im Variete aus treten ließ. Die künstlerische Leistung war von vornherein Nebensache, aber sie wurde wenigstens prätendiert. Jetzt sind wir einen Schritt weiter: man hält es gar nicht mehr »ür nötig, sic vorzuschützen. Die Sensation allein genügt und man erwartet, daß dieselben Leute, denen es bei den blöd sinnigsten kinemotographischen Detcktivbildereien eisig kalt über den Rücken läuft, auch dem „Hauptmann von Köpenick" ein intensives Interesse entgegenbringen werden. Nichts ist charakteristischer für die Masse, als die Aeußerlichkeit des Interesses, das der „Hauptmann von Köpenick" ihr abzu ringen verstand, bis die sozialen Fakten gestern, vor der dritten Strafkammer in Moabit, in grauem Lichte ausgezeigt wurden. * Noch einmal war gestern ^ie Rcich^bwunZvadt in den Bann dieses Mannes geschlagen. An den Plakatsäulen grellfarbige Ankündigungen einer „aus Anlaß des Voigt-Prozesses" er scheinenden Senfationsbrofchüre, in den Straßenbahnen, die nach Moabit führen, kein Gespräch, in dem nickt der Name Voigt eine Rolle spielte, und schließlich in Moabit selbst, jenem nordwestlichen nüchternen Stadttess Berlins, der die Aolossalbauten der drei Berliner Landgerichte be herbergt, em Massenandrang, wie ihn selbst dieser an Sen sationen einigermaßen gewöhnte Bezirk noch nicht erlebt hat. — Wabrlich. Wilhelm Hat konnte mit seinem Publi- kum zufrieden sein. Aber auch die gesellschaftliche Quali tät der Neugierigen, die sich im GerichtSgebäude drängten, war tip top. Wilhelm yoigt spielte vor einem Par terre von kommandierenden Generälen — auch im dovvelten Sinne de» Worte», vor den ersten Juristen Berlin», vor eine« Halden Hundert Preßvertreteru und vor den elo»
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