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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.06.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-06-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040618029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904061802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904061802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-06
- Tag1904-06-18
- Monat1904-06
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VezugS-PrelS dt« Ipttcher«mt!Nr.I71S). Ha»pt«-Utal« Verltnr L«rlD«»ck,r^ver»gl.Bayr.Hofbulbbandlg- LÜtzowstrab« 10(Ferns-rechrrAmtVI Nr.4603.) t«str.» artn«- .?vllt-«. 7S0K 1» H«r tzaupt«g»rrttton oder deren «usgabe- stell« abaeboltr vierteliährUch ü.—. bei taAltchtz Aitstelluug in» Hau« "putsch. 4.K0, für Zeitvn,»PretSlist» UV- Nr. 3«7. Abend-Ausgabe. MpMer. TaMaü Anzeiger. Ämtsökatt des Königliche« Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, des Rates «nd des Volizeiamtes der Ltadt Leipzig. Sonnabend den 18. Juni 1904. Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem Redattion-flrtch (4gespalten) 7Ü nach den Famtltennach» richt« (6 gespalten) bO Tabellarischer und Zlffernsa- entsprechend höder. — Gebühren für Nachweisungen und Ossertenannahme LL -H. -rtra-Vetlagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe. ohne Postbefvrderuua SO.—, m»t Postbrsordrruug 70.—» vnuahmeschluh für Auzetimr Abend-Bu-gaber vormittag« 10 Uhr. Morgen-Aukgaber nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stet« an dir Trpedttiou zu richten. Tie Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi« abends 7 Uhr. Druck und Vertag von E. Polz tu Leipzig (Inh. Ur. V., R. L W. Kltakhardt). S8. Jahrgang. V« WiÄilgrir vsm Lag«. "KönigGcorg wird sich bestimmt morgen, Sonn tag, 7 Uhr 50 Minuten nachmittags über Leipzig nach Bad Ems begeben. Als Nachkurort ist Bad Gastein in Aussicht genommen. (S. Lachsen.) * Es gilt als feststehend, daß mit dem für den Herbst prophezeiten Rücktritt des Kolonialdirek- tors Dr. Stübel die Umwandlung der Ko lo n i a la b t e i l u n g des Auswärtigen Amtes in ein selbständiges Kolonialamt vollzogen werden wird. * Landgerichtspräsidcnt von Schmidt in Halle (Saale) ist zum Präsidenten des preußischen Kammergerichts ernannt worden. (S. D. Reich.) * In Wilkomir (Rußland) äscherte eine große Feuersbrunst 700 Häuser ein. vir cractition cler suchtet. In Zürich ist ein Buch erschienen, das den Titel führt „Musketiere einer ostdeutschen Garni- s on". Einige Berliner Blätter widmen diesem Buche ausführliche Leitartikel. Der Verfasser ist ein Schau spieler namens Arthur Nowakowski, der vom Oktober 1902 bis zum Juni 1903 im 176. Infanterie regiment gedient hat und dann desertiert ist. Er berichtet von fortgesetzten Beschimpfungen, Mißhandlungen und Ouälcreien, und sein Buch, in dem cs an Lob für einzelne Offiziere nicht fehlt, ist im wesentlichen eine Anklageschrift gegen die Unteroffiziere. Tas Publikum ist nachgerade mit dieser Lektüre über- sättigt. Kaum eine Woche vergeht, daß nicht in irgend einem Nest des deutschen Reiches ein anti-militaristischer Zola erstünde, der ein dröhnendes „ll'aeeuso!" gegen den „Moloch" schleudert. Wir können cs den Konsumenten nicht verdenken, wenn ihnen diese Kost allmählich schaal und ungenießbar vorkommt, und wenn Enthüllungen, bei denen uns früher die Haut geschaudert hätte, mit kübler Gleichgültigkeit cntgegengcnommen werden. Es soll auch keineswegs alles aufs Wort geglaubt werden, waS ein Deserteur zu berichten weiß. Daß der Verfasser der Anklageschrift nicht den Mut besaß, seiner militärischen Pflicht bis ans Ende zu genügen, daß er nicht die Energie hatte, auf dem Beschwerdewege sein Recht und damit gleichzeitig das Recht der Kameraden zu suchen, das be weist ja, daß wir cs mindestens mit einem schwachen, wahrscheinlich sehr nervösen Menschen zu tun haben, der zu Uebertrcibungcn geneigt sein wird. Indessen müssen wir doch immer bedenken, daß alle Romandarstellungen, alle Broschüren und ihre Mittet- lungen über Mißhandlungen in der Armee von der trüben Wirklichkeit bei weitem übertroffen und über- trumpft worden sind. Man kann anstandslos behaupten, daß die höheren Vorgesetzten gar nicht geahnt haben, wie tief dieser Krebsschaden sich in den Organismus des Heeres bereit- oingefrcssen hatte. Aber immer noch ist es notwendig, daß sowohl die maßgebende Behörde wie die gesamte Ocffentlichkeit auf diese Wunde am Leibe der Armee hingewicsen werde: denn immer noch begegnen wir Versuchen, die Gebrechen vor der Ocffentlichkeit zu verhüllen, wir begegnen merkwürdig nachsichtigen Ur teilen, die uns beweisen, daß manche Stellen noch immer nicht den allein richtigen Standpunkt der schärfsten Verdammung diesen Ausschreitungen gegeniiber ein nehmen. Wir geben daher auch wieder heute unserer Ucbcrzcugung Ausdruck, daß hier nur drakonische Strafen helfen können. Selbstverständlich würde das Uebel damit nicht vollständig ausgerottct werden, denn es wird immer sadistisch veranlagte Naturen geben, die sich auch durch die strengsten Strafen von der Betätigung ihrer perversen Neigungen nicht abhalten lassen. Trotzdem aber sollte man versuchen, mit allen Miteln gegen dieses Uebel einzuschreiten, das der Sozialdemokratie alljährlich Tausende zutreibt. Außerordentlich wichtig wäre cs dann aber auch, vor beugend zu wirken, und auch in dieser Beziehung könnte vieles geschehen. In manchen Erziehungsanstalten, auch militärischen, ist die körperliche Züchtigung noch ein ganz offizielles Mittel, das in einer Weise angewendet wird, die den Grundsätzen moderner Pädagogik nicht mehr entspricht. Wir wissen uns von jeder Sentimen talität frei und haben gegen eine gelegentliche Anwen dung des Nobrstockcs durchaus nichts cinzuwenden. Wir sind der Ansicht, daß über die Frage, ob der Lehrer ein mal die uftimn ratio anwendcn darf oder nicht, viel zu viel gegreint nnd geplärrt wird, aber wir können uns nicht verhehlen, daß in der Volksschule, im Lehrlings wesen und schließlich auch beim Militär noch immer die altpreußische, aber keineswegs empfehlenswerte Tradition der Fuchtel herrscht und mit dieser Tradition sollte ein mal von Grund auf aufgeräumt werden. Selbstver ständlich kann eine derartige Svstemänderung nur dann erfolgen, wenn die öffentliche Meinung von der Not wendigkeit einer solchen völlig überzeugt ist, und um diese Ueberzeugung herbcizuführcn, ist cs gut, auf literarische Erscheinungen, wie das Nowatowskische Buch von Zeit zu Zeit hinzuwcisen. vrr Nuktana Orr Herero. Verstärkungstranspsrt. Der Verstärkungstransport, der gestern abend an Bord der „Palatia" Hamburg verließ, umfaßte außer 800 Mann und 900 Pferden folgende Offiziere: Major Meister und Major Freiherr von Reitzenstein, die Hauptleute Freiherr v. Humbracht, Graf v. Zeck, Remmert, Richard, und Evler v. Kempelhuber auf Emingen, die Oberleutnants Cramer, Kirsten, v. KMber, v. Bensten, Hördens, Lautcschläger, v. Presscntin und NadrowSki, die Leutnants Frhr. von und zu Egloffstein, Heltsch, v. Kleist, Rietzsch, Geisler, Schimmer, Donner (Adolf), Engler, Freiherr Georg Seuter v. Lotzen, Graf Rudolf v. Hardenberg, Freiherr v. Plotho, Egon Hüller, Wilhelm Schwandner und Karl Klewitz; Stabsarzt Or. Liese gang, die Oberärzte vr. Hildcbrecht und vr. Zimmer, Assistenzarzt Herzer, die Zahlmeister Boch und Zborowski und die Oberveterinäre Klinner, Jantzen, Knochen, Doppel und Ossermann. Mit diesem Transport ist unsere Schutz truppe in Südwestafrika nach militärischer Angabe auf rund 5.800 Mann gebracht. Sie ist dann den Herero auch bei höchster Schätzung gleich. * t-tnc Audienz beim Kaiser zu vermitteln, soll der Reichskanzler der Ansiedler-Abordnung bei dem vorgestrigen Empfang versprochen haben. * Verlustliste. Nach Mitteilungen des ersten Seebataillons ist in Windhuk der Seesoldat Feller von der zweiten Kom panie an Herzschwäche gestorben. Ferner ist im Lazarett von Swakopmund der Unteroffizier der Landwehr Kaufmann Willy Harbecke aus Berge (Bez. Osuabrück) gestorben. * Zum Feldgeistlichen für die südwestafrikanische Schutz truppe ist der Braunschweiger Divisionspfarrer Schmidt ernannt worden. Schmidt, der bereits den China-Feldzug als Feldgeistlicher mitgemacht hat, wird voraussichtlich die Ausreise" nach Südwestafrika in kurzer Zeit antreten. politische Lagerzchau. * Leipzig, 18. Juni. Rcichsbehördcn und LandrSbchördcn. Ter Reichstag ist nunmehr vertagt worden, aber nicht, ohne daß sich die R e g i e r u n g noch eine schwere Schlappe zugezogen hätte. Tie Sozial- demokraten hatten bekanntlich den Reichskanzler über das Gesetz interpelliert, das sich gegen den Kontrakt- bruch ländlicher Arbeiter richtet. Sie be haupten, daß dieses im preußischen Abgeordnetenhaus eingebrachte Gesetz sich nicht mit der Neichsgesetzgebung vereinbaren lasse. Ter Staatssekretär des Reichsjustiz- amtcs Herr vr. Nieberding bemühte sich nun, diese Auf fassung zn widerlegen, aber seine Bemühungen waren in sofern nicht sehr glücklich, als sie sich zum Teil zu einer ziemlich deutlichen Kritik des Gesetzentwurfs selbst ge stalteten. Herr Nieberding fand, daß der Entwurf „schwer zu verstehen" sei. Et erklärte, cs sei nicht die Absicht des Entwurfes, die Beschäftigung kontraktbrüchiger Leute außerhalb der Landwirtschaft und des Gesindestandes zu untersagen. Tann aber fügte er gleich hinzu: „Das geht aus dem Wortlaut dos Gesetzentwurfes nicht so klar hervor, wie man es von einem Strafgesetz verlangen mutz, aber die Herren mutzten den Gesetzentwurf nicht nach dem formellen Wortlaut, sondern nach dem, was die Regierung wirklich gewollt hat, beurteilen." Mit diesen Aeußcrungcn hat Herr Nieberding ein ganz merkwürdiges Präzedens geschaffen: denn man wird von nun an immer fragen müssen, ob denn der Wortlaut des Gesetzentwurfs, den die Negierung einbringt, auch maß gebend sei oder ob die Regierung in Wirklichkeit nicht ganz etwas anderes wolle. Man muß gestehen, daß durch diese Theorie eines bisher unbekannten Dualismus die Beurteilung der Gesetzentwürfe weder sehr erleichtert, noch das Vertrauen zu der Regierung sehr gefördert wird. Herr Nieberding erklärte dann weiter, dec preußische Ge setzentwurf fei zwar mit dem Reichsrccht durchaus ver- eiubar, aber die Grenze zwischen der Landesgesetzgebung und dem Neichsgesetz sei „nicht in allen Fällen mit der Deutlichkeit gezogen, die gewünscht werden muß", und der Entwurf bedürfe in dieser Richtung einer Korrektur. Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, daß der Staats sekretär des Neichsjustizamtes einen von der preußischen Staatsregierung dem Landtage unterbreiteten Gesetz entwurf so scharf kritisiert und in einer Rede kritisiert, die gerade dazu bestimmt ist, die Vorlage zu verteidigen. Herr Nieberding war der Ansicht, der Entwurf werde in seiner vorliegenden Form überhaupt nicht Gesetzeskraft er langen. Aus seinen Aeußcrungcn geht hervor, daß jede Verbindung zwischen den obersten preußischen und den obersten Reichsbchörden gefehlt hat. Tie preußische Staatsrcgierung, die ja wissen mußte, daß bei Regelung der Materie die Reichskompetenz in Frage kommen konnte, hat es nicht für nötig gehalten, in den vorbereitenden Stadien des Gesetzentwurfs das Reichsjustizamt zu einer Meinungsäußerung zu veranlassen. So schließt die un fruchtbare Session des Reichstages mit einer nicht zu ver hüllenden Niederlage der preußischen Negierung durch einen Vertreter der „NeichSregierung". Tic Annahme der Kolonialbahn-Vorlagen. Die Zustimmung deS Reichstages zu den beiden afrikanischen Bahnvorlagen darf in mehr als einer Beziehung als ein Ereignis von hoher und nachhaltiger Bedeutung bezeichnet werden. Ten beteiligten Schutzgebieten bringt die Annahme der Gesetz entwürfe schon insofern einen keineswegs zu unter schätzenden Vorteil, als dadurch die Wertschätzung der kolonialen Bestrebungen Deutsch- lands in den Augen der fremdländischen, in unmittel barer Nachbarschaft angesiedelten Staaten und Völker zweifellos gewinnen wird. Nicht ohne Grund geschah cs bisher, daß die deutschen Kolonien mehr oder weniger als ein guuntito in wirtschaftlichem Betracht an- gesehen wurden und im Urteil französischer und eng lischer Kolonialpolitiker und Großunternehmer aus den Reihen dec als Märkte und Absatzgebiete der Zukunft bewerteten afrikanischen Territorien schon fast als ausge schaltet gelten konnten. Hier wird der Beschluß des Reichstages in erfreulicher Weise Wandel schaffen und mit großer Wahrscheinlichkeit dahin führen, daß neben und mit denk deutschen auch ausländisches Kapital die weitere, intensivere Erschließung der nunmehr mit ge sünderen Lebensbedingungen ausgestatteten Landgebiere in die Hand nimmt. Zugleich aber bedeutet die Ent scheidung des Reichstages für das deutsche Han dels- und Wirtschaftsleben einen Schritt vor wärts auf einem noch fast neuen, bisher kaum als Ver suchsfeld angesehenen Gebiete. Nicht etwa, daß man so fort oder auch nur in naher Zukunft die Erfüllung der Wünsche und Hoffnungen erwarten könnte, die sich an die Möglichkeit der Versorgung einer dec wichtigsten deut schen Vorbereitungsindustrien mit Rohstoffmaterial knüpfen. Gewiß aber wird nun, da angesehene und leistungsfähige Großbanken der kolonialen Entwickelung Vorspann leisten wollen, in weiten Kreisen ein stärkerer Unternehmungstrieb, eine höhere Schaffensfreudigkeit Platz greifen. Denn bisher — das bewies erst wieder die Art, wie die Ersatzansprüche der geschädigten Ansiedler in Südwestafrika erledigt wurden — konnte keinem Farmer und Händler in den deutschen Kolonien das Ver trauen zur Seite stehen, daß die Vertretung des deutschen Volkes in der Behandlung kolonialer Fragen und Auf gaben sich frei zeigen würde von kleinlichen und eng herzigen Erwägungen und Bedenken. Die Tatsache steht leider fest, daß vieles, sehr vieles, was für das eine und das andere Schutzgebiet bitter not tat und von amtlicher wie privater Seite immer aufs neue und immer dring licher gefordert wurde, nicht zur Ausführung gelangte, ja nicht einmal Gegenstand der parlamentarischen Er örterungen wurde, weil man auf Grund mannigfacher Erfahrungen der ablehnenden Antwort des Reichstages von vornherein gewiß war. — Es wäre nur zu wünschen, daß der Reichstag dieselbe einsichtige Haltung an den Tag legte, wenn cs sich um die Bewilligung der Ausgaben handelt, die für die Wiederaufrichtung des Handels- und Sicdclungsbetriebs in Südwestafrika nötig sein werden. Friedensworte. Das preußische Abgeordnetenhaus hat am Freitag den Antrag des Grafen Douglas, den Mannschaften des Heeres und der Marine das Militärgesang buch bei ihrem Eintritte als Eigentum zu übergeben, angenommen. Der Antragsteller gab u. a. dem Wunsche Ausdruck, daß in Zukunft das evangelische und das Feuilleton. ij Der Fall Milverton. Don A. Conan Doyle. Ucbcrscht von O. Leinih. Tie Dinge, von denen ich heute erzählen will, liegen bereits eine lange Zeit zurück, aber trotzdem spreche ich immer noch nur sehr ungern davon. Viele Jahre hin durch wäre cS übrigens selbst bei der größten Diskretion und Vorsicht ganz unmöglich gewesen, dies Erlebnis zu veröffentlichen, aber heute, da die Person, die dabei in erster Linie in Frage kommt, dem Arm der mcnschlicl-en Gerechtigkeit entrückt ist, mag dieser Fall, immerhin mit einigen Aendcrungen, um nur ja niemandem zu schaden, erzählt werden. Es handelt sich um ein ganz einzig artiges Abenteuer, das Sherlock Holmes und ich erlebten, und der Leser muß schon entschuldigen, ivenn ich das Da tum und einige andere Fakten verschweige, die dazu dienen könnten, die tatsächlichen Umstände bekannt zu machen. Holmes und ich hatten an einein ziemlich kalten Winterabend unfern gewöhnlichen Spaziergang beendet und waren gegen 6 Uhr nach Hause gekommen. AlS Holmes die Lampe angczündct hatte, sahen wir auf dem Tische eine Visitenkarte liegen. Er warf einen Blick darauf und schmiß sie dann mit einer Bewegung des Ab- scheu« auf den Fußboden. Ich hob die Karte auf und las: „Charles Augustus Milverton, Applcdorc Towers, Hampstead. Agent." „Wer ist das?" fragte ich „Der gefährlichste Kerl von ganz London", erwiderte Holmes, nachdem er's sich bequem gemacht und seine Beine vor dem Ofen ausgcstrcckt hatte. „Steht noch ctlvas auf der Karte?" Ich drehte sic um und las: „Wird um 6 Uhr 30 wieder vorsprcchen. 0. .O HI." „Ja, er ist fällig. Kennen Sie das unangenehme, kribbelnde Gefühl, Watson, das man im Zoologischen Garten vor dem Schlangenhanse verspürt, wenn man diese glatten, kriechenden, giftigen Geschöpfe mit den grau- samcn Augen und den unangenehmen Gesichtern sieht? So wirkt dieser Mensch auf mich. Ich habe bisher ja schon ungefähr mit 50 Mördern zu tun gehabt, aber auch der schlimmste unter ihnen hat mir nie einen solchen Widerwillen eingcflvßt, wie dieser Mensch. Und doch bin ich verdammt, mit ihm geschäftlich zu verkehren: auch heut' kommt er auf meine Veranlassung". „Aber was ist er denn?" „DaS will ich Ihnen sagen, Watson. Ec ist der König der Erpresser I Gnade Gott dem Manne und mehr noch der Frau, deren guter Ruf von Milverton abhängig ist. Mit lächelnden! Munde, aber steinernem Herzen wird er seinem Opfer nach und nach auch noch das Letzte heraus- pressen. In seiner Art ist dieser Mensch nämlich ein Genie, und er würde es sicher auch auf anständige Weise zu etwas gebracht haben. Er zieht cs aber vor, auf folgende Art zn operieren: Unter der Hand läßt er be kannt machen, daß er für Briefe, durch die reiche oder hochgestellte Personen irgendwie kompromittiert werden, die höchsten Preise zahlt. Diese Ware wird ihm aber keineswegs nur von unehrlichen Kammerdienern und -zofen geliefert, sondern häufig auch von vornehmen Lum pen, die eS verstanden haben, sich das Vertrauen und die Zuneigung anständiger Frauen zu erschleichen. Er bc- zahlt nicht schlecht. Ich weiß zufällig, daß er einem Be dienten für ein kleines Zettelchen von 2 Zeilen 700 Pfund Sterling gezahlt hat und daß der Ruin einer vor nehmen Familie das Ende vom Liede war. All' solche Sachen finden ihren Weg zu Milverton und cs gibt in dieser Riesenstadt Hunderte von Personen, die blaß wer den, wenn nur sein Name genannt wird. Niemand hat eine Ahnung, wer das nächste Opfer sein wird, denn er ist viel zu reich und viel zn gerissen, um von der Hand in den Mund zu leben. Jahrelang wird er eine Karte in der Hinterhand halten, um sie wie ein guter Spieler erst dann aufzudeckcn, wenn ihm der Einsatz lohnend er scheint. Ich nannte ihn den gefährlichsten Kerl von Lon don und man könnte sich wirklich fragen, ob der Ver brecher, der im Jähzorn seinen Spießgesellen nieder schlägt, auch nur zu vergleichen ist mit diesem Schuft, der ganz methodisch und in aller Ruhe die Seelen martert und die Nerven zerrüttet, nur um seinen schon recht vollen Beutel noch mehr zu füllen." Selten noch hatte ich meinen Freund so erregt spreckxm hören. „Aber es muß doch möglich sein", wandte ich ein, „diesem Menschen mit den Gesetzen bcizukommcn." „Theoretisch vielleicht, aber praktisch nicht. Waä würde cs z. B. einer Dame nützen, ihn auf einige Monate ins Gefängnis zu bringen, wenn die unmittelbare Folge davon ihr völliger gesellschaftlicher Ruin wäre. Nein, seine Opfer sind ihm gegenüber ja ganz wehrlos: wenn er freilich seine Praktiken mal bei einer Person versuchen wollte, die nichts Kompromittierendes zu verheimlichen hat, dann würden Mir ihn schon fassen, aber er ist ja so schlau wie der Teufel. Nein, nein, man muß dem Burschen schon auf eine andere Art beiznkommcn suchen." „Und was führt ihn her?" „Eine Dame der Gesellschaft hat mir die Erledigung ihrer sehr delikaten Angelegenheit übertragen. Sie kennen doch Lady Eva Brackwcll, die meist umschwärmte Schön heit der letzten Saison? In 14 Tagen soll sie den Earl of Tovercourt heiraten, aber jener Teufel besitzt einige törichte Briefe von ihr — wirklich, Watson, sie sind nur töricht, nichts weiter —, die sic an einen armen, jungen Edelmann geschrieben hat. Milverton will nun diese Briefe dein Grafen aushändigen, wenn ihm nicht eine sehr große Summe ausgezahlt wird. Ich habe den Auf trag erhalten, mit ihm zu unterhandeln und möglichst günstige Bedingungen zu erzielen." In diesem Augenblicke hörte man unten einen Wagen vorfahren. Ich trat ans Fenster und sah ein elegantes Fuhrwerk, mit zwei tadellosen Braunen bespannt, auf deren glattem Fell sich das Helle Licht der Wagenlaternen spiegelte. Ein Bedienter öffnete den Wagenschlag, und ein Mann von kleiner, gedrungener Figur in einem sehr eleganten Pelz stieg aus. Wenige Augenblicke drauf trat er bei uns ein. Charles Augustus Milverton war ein Mann von un gefähr 50 Jahren, mit großem, Klugheit verratenden Kopfe und mit einem runden, gewöhnlichen, bartlosen Gesichte. Um seine Lippen spielte beständig ein frostiges Lächeln und zwei stechende graue Augen blickten aufmerk- sam durch einen goldgefaßten Klemmer. In seinem ganzen Aussehen erinnerte er ein wenig an Mr. Pickwicks wohlwollende Erscheinung, nnr wurde dieser Eindruck sehr stark beeinträchtigt durch die Verlogenheit seines stereotypen Lächelns und durch das listige Funkeln seiner Augen, die unruhig und forschend umhcrschiclten. Seine Stimme klang sanft und süßlich und entsprach ganz der Haltung, in der er jetzt auf Holmes zuschritt, ihm die
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