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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.08.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-08-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040823024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904082302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904082302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-08
- Tag1904-08-23
- Monat1904-08
- Jahr1904
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(Siehe Aufstand der Herero.) * Der Zar hat durch Tagesbefehl von gestern 2039 Kadetten zu Offizieren befördert. * Von diplomatischer Seite in Petersburg wird versichert, daß der russische Generalstab bereits mit der Möglichkeit einer baldigen Belagerung von Wladiwostok rechnet. Idealer. Ein freund von mir erhielt kürzlich folgenden Brief: „Lehr geehrter Herr! Ihr uns übersandtes dramatisches Manuskript haben wir mir Interesse gelesen; wir müssen Ihnen aber zu unsereni Bedauern mitteilen, daß wir uns von einer Aufführung keinen Erfolg versprechen können. Gestatten Sie, daß wir Ihnen mit wenigen Worten den Grund dafür angeben. Was Sie da aussprechen und durch Ihre Figuren aussprechen lassen, ist lediglich Rhetorik. Sie teilen die Menschen in schlechtweg gute und böse ein, wie es zur Zeit, da die französische Romantik blüte, üblich war. Das Groteske und das Erhabene, diese beiden vermeintlichen Gegensätze, stellte Viktor Hugo ein ander gegenüber. Ueber die eine Seite ergossen der Meister und seine Jünger alle Fülle des Lichts, der Gegenpart wurde über und über schwarz angestrichen und das Ergebnis sollte ein Bild des Lebens sein. Es war aber nur Theater und schlechtes Theater. Heut zutage empfinden wir zu nüchtern, um uns noch durch tönende Phrasen betäuben und berauschen zu lassen und so grobe Konstruktionen, die die Vielgestaltigkeit des menschlichen Wesens naiv in zwei Gegensätze scheiden, verfangen nickst mehr bei unserem Publikum. Hochachtungsvoll usw." Und unter diesem rauhen Schreiben stand der Name eines Berliner Dramaturgen. An diesen Brief mutzte ich denken, als ich die Berichte über den Internationalen Kongretz der Sozialdemokra tie in Amsterdam überlas. Ist cs möglich, datz diese Veranstaltungen, die nur unter dem Zeichen der sozial demokratischen Phrase stehen, irgend einen ernsten Men schen innerlich beschäftigen können? Praktisch haben sie doch noch niemals ein Ergebnis gezeitigt, es sei denn, datz dies Ergebnis die Erkenntnis wäre, wie sehr die Proletarier aller Länder noch immer durch die natür lichen und historischen Schranken ihres Volkstums von einander getrennt sind. Leo Tolstoi, der ein feiner Weltmann war, bevor er Asket und Mystiker wurde, sagt in „Anna Karenina", ein Diner, bei dem zwei Männer recht vertraulich miteinander plaudern wollen und in in timster Stimmung beginnen, ende bisweilen mit einer unausgesprochenen, aber tiefgreifenden inneren Ent fremdung. Der alte Commines, der vor fünfhundert Jahren seine Memoiren schrieb, äußerte, datz Monarchen besuche, die der Beilegung von Streitigkeiten dienen sollten, nicht selten die Zwietracht verschärfen, weil in der mündlichen Aussprache die Beteiligten erst erkennen, wie fern sie einander stehen. So bin ich der ketzerischen Ansicht, daß die internationalen Versammlungen der Sozialdemokratie insofern außerordentlich segensreich wirken, als die Proletarier sich davon überzeugen, wie weltenfern sic einander doch sind. Dies ist vermutlich das einzige praktische Ergebnis der Veranstal tungen. Denn all die Erwägungen taktischer Art, die den Kern der Erörterungen zu bilden pflegen, sind aus dem Begriff der Taktik selbst heraus gegenstandslos. Die Taktik ist die Lehre von der Trup penverwendung zu Gefechtszwecken und darum schon räumlich verhältnismäßig eng begrenzt und genötigt, sich den Bedingungen des „Milieus" anzupassen, mtt anderen Worten: sie mutz in allen Ländern eine verschiedene sein. Von Strategie kann aber noch nicht die Rede sein. So weit ist die internationale Sozialdemokratie noch nicht ge diehen, um einen grandiosen Fcldzugsplan zu entwerfen, durch den sie sich ganz Europa unterjocht. Hier und dort finden Scharmützel und bisweilen Gefechte statt, aber die Betrachtungen über eine internationale Taktik sind blauer Dunst. Diese Beurteilung entspringt nicht etwa einem verbissenen Vorurteil. Ich glaube, datz jede internatio nale Vereinigung zur -Ohnmacht verdammt ist, es sei denn, daß sie nur eine oder mindestens doch nur wenige scharf umrissene Aufgaben verfolgt. Wenn z. B. ein internationaler Kongreß die Verwendung giftiger In gredienzien bei Herstellung von Fabrikaten verbieten oder cinschränken will, so kann es ihm gelingen, praktische Ar beit zu verrichten, wenn aber, wie bei den Frauenkon- gressen oder im vorliegenden Falle „cka omni re seibili" über alles, was man weiß und nicht weiß, geredet wird, dann sollte man in der Halle der Tagungen ein Götzen bild errichten und, weil doch das Französische immer noch als Weltsprache gilt, darunter sehen: In bluixue. Vor dieser Symbolisierung des Phrasennebels, des blauen Dunstes, der hohlen Rhetorik sollten dann die Führer täglich eine kurze Andacht abhalten.' Mir also erscheint die Veranstaltung als Theater und zwar als schlechtes Theater. Wie es in der Sozialdemo kratie üblich, so wurde auch hier Licht und Schatten ver teilt, wie ein mittelmäßiger Autor es tut, dem die Gabe nicht geworden ist, Menschen menschlich zu sehen. Auf der einen Seite die brutalen Ausbeuter, auf der anderen Seite die verklärten Märtyrergestalten der Sozialdemo kratie; keine Spur von dem Versuch, Entwicklungen in ihrer historischen Bedingtheit, in der Entfaltung aus öko nomischen Ursachen zu sehen. Ich betone dies nicht, weil ich die Geschichtsauffassung der Sozialdemokratie etwa teilte — ich halte sie vielmehr für einseitig —, sondern weil man doch erwarten dürfte, daß einer der großen Partei-Theoretiker sich dazu aufraffen würde, die Er gebnisse der neuesten Geschichte etwas philosophischer und nicht nur nach dem agitatorischen Clichä zu betrachten. Auf mich wirkt es geradezu komisch, wenn der russisch japanische Krieg als ein Kapitalistenkrieg gebrandmarkt wird, an dem das Volk keinerlei Anteil habe. Aber diese Anschauung zu bekämpfen, fehlt es hier an Raum und ich kennzeichne sie nur deshalb, weil wir Deutsche uns darüber klar sein müssen, datz die Sozialdemokratie nie mals für die unerläßliche Weltpolitik, die auch unser Blatt immer aufs neue befürwortet, zu haben sein wird, und datz es um so notwendiger ist, datz alle anderen Parteien entschlossen Zusammenhalten, uni diesen Widerstand zu besiegen. Ich habe daher auch nicht die geringste Lust, nach einer Mauserung der Sozialdemokratie auszuspähen und jedes winzige Symptom solcher Wendung mit Ge nugtuung zu verzeichnen. Ich bin überzeugt, datz der Revisionismus dcrSozialdömokratic ganz ebenso unfrucht bar und destruktiv sein würde, wie es ihre heutige poli tische Anschauung ist. Daher scheint es mir sehr gleich gültig, ob Bebel die Monarchie mit einer kargen, aber immerhin ungewöhnlich huldvollen Anerkennung bedachte und daß die Avbeiterversicherungsgesetzgebung Deutsch lands den übrigen Staaten zur Nachahmung empfohlen wurde. Gewiß, es sind Lichtblicke ge sunder Vernunft, die wie selige Inseln aus dem ungeheuren Meer der sozialdemokratischen Phraseo logie auftauchen, aber weiter doch nichts. Datz die ganze deutsche Presse Selbstverständlichkeiten wie diese mit Staunen verzeichnet, beweist doch eben nur, wie sehr man daran gewöhnt ist, datz diese Partei sich bisher mit be wußter Entstellung gegen alles wendete, was ihren« Dogma und ihren agitatorischen Absichten widersprach. Denn die Führer der Sozialdemokratie wußten seit lange, daß die Monarchie gewisse Vorzüge aufweise, und waren sich über die Bedeutung der Arbeiterschutzgesetzgebung seit lange klar. Diese Einsicht hat sie aber nicht veranlaßt, die von ihnen „angeführten" Massen jemals in diesem Sinne zu belehren. Im Gegenteil! Diese Aeußerung Bebels und das Votum für den deutschen Ardeitcrschutz waren die sachlichen Resultate des Kongresses. Wahrhaftig, ein überaus dürftiges Ergebnis für die mehrtägige Rednerei! Denn die andere große Frage, ob ein „Genosse" Minister werden darf und wie er sich als Minister zu verhalten habe, kann doch niemals allgemeingültig beantwortet werden. Eine wirklich starke Persönlichkeit durchbricht ja doch alle die Schranken der Parteidogmatik und weiß auch die Masse mit sich fortzu reißen. Auch hier zeigt sich eben wieder der Mangel an psychologischer Erkenntnis, der für die Sozialdemokratie so überaus bezeichnend ist. Der hohe Rat der Genossen lebt in dein Wahn, durch seine allmächtigen Dekrete den Strom der Entwickelung eindämmen und zielbewutzt lenken zu können, während der wirklich mit politischem Sinn Begabte genau weiß, daß Politik — um iin Bilde zu bleiben — nichts ist als Flußregulierung. Uebrigens, wir wollen nicht ungerecht sein. Die Aus- stellung — Pardon, der Kongreß! — hatte auch einen „Clou". Ties war der welthistorische Händedruck, den der russische und der japanische Delegierte miteinander wechselten. Minutenlanger tosender Beifall! Unsereiner versteht das nicht. Wir sind zu sehr vom alten Schlag. Wenn ich wüßte, datz, während ich spreche, tausende meiner Landsleute in Lazaretten schwer verwun det sich in Oualen winden, so würde ich nicht einem Angehörigen der gegnerischen Nation de monstrativ die Hand drücken. Geschmackssachen, über die sich nicht streiten läßt, Empfindeleicu, die jener Partei alt modisch und rückständig erscheinen und, weil sie nicht mit Verstandsgründen bekämpft werden können, leider jedes Kompromiß, jode Duldung, jede Einigung ausschlietzen und selbst jede Erörterung unmöglich machen. Wir empfinden immer noch vaterländisch und diese Begrenzt heit ist uns teuer, jene haben sich in einen Kosmopolitis mus hineingeredet, der uns seicht und phrasenhaft er scheint. Wir haben nur eine Hoffnung, daß dieses Welt bürgertum nur Tünche ist, unter der in den meisten Fälle.« doch ein gut deutsches Herz schlägt. Hat ja doch auch ein echt deutscher Klassiker die Vaterlandsliebe als eine „heroische Schwachheit" bezeichnet, freilich unter anderen politischen Umständen als den heutigen. Dem Gebühren der Sozialdemokraten gegenüber bleibt eben nur die Hoff nung, datz viele ihrer Gefühle theatralisch aufgedonnert sind und datz sie in der Stunde der Not sich zu der ein- fachen Pflichtauffassung bekennen werden, die Herr Plechanow und der Mann mit dem volltönenden japa nischen Namen in so abstoßender Weise verleugnet haben. 6. Der NuManck «ter Herero. Die Widerstandskraft der Herero gebrsehen. Wie bereits mitgeteilt, ist die Hauptmacbt der Herero nach der Erstürmung von Waterberg nach Südosten aus gewichen und wirb zur Zeit von den deutschen Truppen ver folgt. Die Widerstandötrafk des Feindes scheint gebrochen, wie folgendes, dem „L. - A." zugehendes Telegramm er kennen läßt: Okawituimbika, 20. August, über Otjire. Heute nahm Haupt mann Franke auf dem Marsch einige Herero gefangen, die das Gefecht bei Hamakari mitgemachl haben, und welche anssagten, die Mamboleute seien unsere Gegner dort gewesen. Die Häuptlinge Mutate und Banjo seien gefallen, ein Teil der Herero, auch Samuel, seien südöstlich nach Otjikongo gegangen. Man vermutet, das; die Tetjoleute nach ihrem Heimatgcbiet Gobabis abgezogen seien. Mühlenfels nahm gestern die Wasserstelle Erindi-Endcka mit vielem Vieh nach kurzem Kampf. Die Gefechtskraft des Feindes scheint gebrochen Tas Detachement Winkler stieß vor einigen Tagen nördlich von Otjosondu auf sehr überlegene Hererohausen und brachte ihnen zahlreiche Verluste bei. Alle Abteilungen folgen dem Feinde zur Umfassung der Flanke. Das Hauptquartier geht zunächst nach Owikokorero. Auch die „Natl. Korr." klagt übrigens darüber, baß amt lich in den bisherigen Nachrichten über den positiven Erfolg des Kampfes, über die Verluste der Herero und über die Feuilleton. Der Fall Lelotti. Roman von Waldemar Urban. Nachdruck verboten. Florence sagte nichts, auch Andrä blieb still, als ob das Dazwischenkommen eines dritten ihre Zunge gelähmt hätte. Andrä legte Florence in die Arme ihrer Mutter zurück, die sie langsam nach dem Hause zurückführte. „Komm", fuhr Fran de Blois leise und zärtlich fort, „mein armes Kind, wie du kalt bist und zitterst. Das war doch nicht nötig, daß du vor mir flohst. Mein Gott, ich Weitz ja wohl, ich war doch auch jung — nein, sei still und weine nicht. Und Andre ist doch ein Ehrenmann. Tas ist doch unter solchen Umständen etwas Anderes. Komm. Sei still." Im Salon wieder angekommen, machte sich Florence wieder von ihrer Mutter los und trat zu Andrä. „Morgen?" fragte sie leise. „Hm. Vielleicht in den Abendstunden. Wenn du fest entschlossen bist " Tann tuschelten sie noch eine Weile heimlich mit einander, so datz ihre Mutter nichts mehr hörte. Madame de Blois wollte auch gar nichts von ihren Geheimnissen, die sie schon zu wissen glaubte, hören. Im Gegenteil dachte sie: tuschelt nur zu, je mehr, je besser, und machte sich im entferntesten Winkel des Salons vor dem Spiegel mit ihrer Toilette zu schaffen. Tann gingen sie fort und Andrä brachte die Damen höflich nach dem Wagen. Madame de Blois ging voran, Florence und Andrä folgten. Im Hausgang hörte Madame de Blois hinter sich einen tiefen Seufzer und eine lange Umarmung. Sie war fast zu lang und jeden falls sehr zärtlich, aber Madame de Blois sah sich nicht uin. Nur zu, dachte sic, das hilft uns über alles weg. Was wußte sie von den letzten Kämpfen und Krämpfen zweier lebensmüder Herzen? Dann stiegen sie ein und fuhren davon. XVIII. Nicht weit von den großen Boulevards und in un mittelbarer Nähe der „Folies Bergäres" zieht sich eine kleine, äußerlich durch nichts auffällige Straße hin — die Rue du Vergäre. Das ist in dem lustigen Paris eine der lustigsten Straßen. Tagsüber dämmert und träumt sie verschlafen und müde, ähnlich einer Lotosblume, als ob ihr das Tageslicht zu grell und störend wäre, und erwacht erst abends, wenn die elektrischen Lampen von der Front der Folies Bergäres ihren glitzernden, unruhig zuckenden Schein in die Straße werfen, zu ihrem eigentlichen, vollen Leben. Dann füllt sie sich init eleganten Herren und Damen in tadellosen Abendtoiletten, die plaudernd und lachend nach dem Tempel der heitersten Muse von Paris wandeln, mit eleganten Karossen, die das gleiche Ziel haben, die kleinen Kneipen und Marchand de vin-Buden der Rue du Vergäre bevölkern sich mit Droschkenkutschern, Statisten und ähnlichen Anhängseln einer großen Bühne, man erzählt lachend und verschmitzt blinzelnd die manch mal etwas sehr delikaten Geschichten der „schönen Otäro" oder der Madame Thäo oder Cläo oder wie die jeweiligen Tagesheldinnen der Folies Bergäres gerade heißen, deren Kunst zumeist in den Falten ihrer Unterröcke liegt. Dann kommen die Millionäre und Milliardäre aus Amerika, England, Rußland und der übrigen Welt, die in Paris noch immer den ergiebigsten Acker für ihre goldene Saat finden, durch die Rue du Vergäre, und hier entstehen dann aus dieser goldenen Saat eine Menge zweibeinige Gewächse, von denen man in der übrigen spießbürgerlichen Welt keine Ahnung hat. Das dauert die ganze Nacht hindurch bis um drei, vier oder fünf Uhr morgens. Mit der Tämmcrung des neuen Tages verschwindet dann der Spuk wieder und die Rue du Vergäre nimmt wieder das langweilige und ge langweilte, schläfrige und verdrossene Gesicht eines Nacht bummlers an, dem die Sonne ins Gesicht scheint. Es war schon gegen Morgen. Die lustigen Gespenster der Rue du Vergäre waren in ihrer Mehrzahl schon wieder verschwunden, die elektrischen Lampen der Folies Bergäres erloschen. Nur hier und da fiel aus den Marchand de vin-Buden noch Licht auf die Straße und klangen die Stimmen der letzten und schon deshalb nicht gerade der zahmsten Nachtschwärmer. Die verschiedenen „petits vorros"' die im Laufe der langen Nacht genossen worden waren, machten sich nicht nur durch die heiseren, rauhen Stimmen bemerklich, die aus den Schänken herausklangen, sondern auch durch die Nachtwandler, die im unsicheren Zickzackschritt im Schatten der Häuser hin taumelten. Da bog, von den Boulevards herunter kommend, ein älterer Herr in die Rue du Vergäre ein und, obwohl gut und anständig gekleidet, mit Zylinder im dunklen An zug, machte er doch nicht den Eindruck, als ob er zu seinem Vergnügen in die Rue du Vergäre käme. Man hätte vielmehr meinen können, er ginge zu einem Begräbnis, wenn nicht gar zu seinem eigenen. Den Rockkragen hoch geschlagen, den Hut tief im Gesicht, so daß man davon fast nichts zu sehen bekam, ausgenommen die Augen, die scheu und ängstlich überall herumflogen, ging er langsam, müde und offenbar sehr vorsichtig die Straße entlang, denn er sah sich häufig um, als ob er fürchte, datz ihn, jemand verfolge oder aber schon packen wolle, vermied sorgfältig alle Hellen Stellen der Straße und machte lieber einen großen Bogen, als daß er vor einer der er leuchteten Schenkbuden vorüberging. Dieser Herr war Jean Baptiste Bclotti, der, von einein seiner nächtlichen Ausflüge zurückkehrend, nun wieder seinen Schlupfwinkel aufsuchte, wie ein moderner Vampir, der nur des Nachts ausfliegt, um seine Opfer zu suchen, und während des Tages sich verbirgt und scheu vor allem rein Menschlichen zurückschreckt. Er hatte auch alle Ursache dazu. Schon als er in« Hotel d'Isly durch die Ankunft des Herr«« Meunicr so jäh aufgeschreckt worden war und nur eben noch die Zeit gefunden, ans der gefährlichen Nähe zu verschwinden, war ihm der Ge danke aufgetaucht, datz Herr Meunier wohl von Marseille aus zu seiner Verfolgung ausgcsaudt worden «var. Nun aber wußte er es gewiß. Seine Frau hatte ihm soeben mitgcteilt, datz seine Machenschaften in Marseille durch sclxmt. datz die Staatsanwaltschaft hinter ihm her sei und eine ganze Kette von Geheimagenten nach ihm fahnde. Wenn er ergriffen wurde, so war „Zwangsarbeit von zehn bis fünfzehn Jahren" — er hatte sich ganz genau über seinen Fall in« Strafgesetzbuch orientiert — sein Los. Herr Belotti hatte also guten Grund, sich im Schatten der Häuser vorsichtig und verstohlen hinzuschleichen, und sein heißester Wunsch war in diesem Augenblick, nur noch dies einzige Mal unentdeckt seine Zuflucht zu erreichen, uin zunächst ungestört und unbeobachtet nachdenken und sich selbst über seine Lage orientieren zu können. Er war von den Mitteilungen seiner Frau wie zerschmettert, so daß er nicht einmal zur Ruhe kam, um nachzudenken, was nun zu geschehen habe. Schon ganz nabe an den Folies Bergäres, deren leicht geschürzte Wandbilder ihn wie ironische Fratzen an- muteten, angekommen, bog er auS der Rue du Vergäre in eine schmale, dunkle Seitenstraße ab und blieb bei dem dritten Hause stehen, um sich zunächst ängstlich lauschend umzusehcn. Erst als er sich dadurch überzeugt hatte, das; ihm niemand folge, zog er einen Hausschlüssel hervor, öffnete die Tür und trat ein. „Monsieur Landois", rief in diesem Augenblick eine Frauenstimme aus der Concierge-Loge, „sind Sie es?" „Ja, Madame Eltville, ich bin's", antwortete er. Bitte, dcrangieren Sic sich nicht. Ich bin's." (Fortsetzung folgt.)
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