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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.07.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-07-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040728020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904072802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904072802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-07
- Tag1904-07-28
- Monat1904-07
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Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem Redaktionsstrich (-gespalten) 75 nach den Femiliennach- richte» (6 gespalten) 50 -H. Tabellarischer und Ziffernfatz entsprechend höher. — Gebühren siir Nachweisungen und Ossertrnannahme 2Ü Extra-Vetlagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbrförderuug ^ll 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschlutz »ar Nuzrigrn: Abe ad-Ausgabe: vormittag- IO Uhr. Morgea-Au-gabe: aachmtttag» 4 Uhr. Anzeigen sind stet- an dieLxprdttto» -»richten. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- abend« 7 Uhr. Druck und Verlag von O. Voh in Leipzig (Inh. Dr. V„R. ch W. -liakhardt). Nr. 381. Donnerstag den 28. Juli 1904. 98. Jahrgang. Var Aicdtigrle vom Lage. * Bei Lützschena wurden heute vormittag zwei Streckenarbeiter von dem aus Leipzig kommen den Zuge erfaßt und getötet. * Der deutsch-russische Handelsver tragsentwurf soll bereits von beiden Seiten unterzeichnet sein. (S. Polit. Tagesschau.) * Die Sammlungen der Deutschen Kolonial gesellschaft für Deutsch-Südwestasrika haben nun eine Viertelmillion überstiegen. * Der russische Minister des Innern Plehwe ist ermordet worden. (S. Leitart.) pledlve ermsnlel. Wolffs Bureau telegraphiert: Petersburg, 28. Juli. Der Minister des Jnuern Plehwe ist aus der Fahrt zum Warschauer Bahnhöfe durch eine Spreng bombe getütet worden. Die Machthaber sind in Rußland von jeher ihres Lebens nicht sicher gewesen und am gefährlichsten ist es, Zar oder russischer Minister des Inneren zu sein. Zwar schon vor den Zeiten, da Moros mit dem Dolche im Gewände zu Tyonis, dem Tyrannen, schlich, wurden die Großen der Reiche aller Länder vom Meuchelmorde bedroht. Davor sind auch die Präsidenten der Republiken durch die freiheit lichsten Institutionen nicht geschützt. In Rußland aber ist System in den politischen Mord gebracht, und das nicht nur von kleinen Cliquen Unzufriedener, sondern von ganzen Bevölkerungskreisen. So muß man heute an- nekmen, daß ein großer Teil der Studentenschaft wie über haupt der russischen „Intellektuellen" im politischen Morde nichts Berabscheuungswürdiges sieht. Von solcher Anschauung bis zum Attentat ist es nicht weit, besonders in Zeikdn all gemeiner Aufregung wie den jetzigen. Die Nihilisten ver flossener Jahre waren gefährliche Gesellen, die z. T. das Bombenwerfen gewissermaßen aus Passion betrieben. Was wir neuerdings aber in Rußland an Morden erlebt haben, ist ein Produkt des überreizten sozialen Empfindens oder wie bei ter Ermordung deö Gouverneurs von Finland eine Em pörung aus nationaler Knechtschaft. Nähere Angaben über das Attentat, über Täter und Motive fehlen zur Zeit noch, und erfahren wird man darüber auch nur, was den russischen Behörden gut dünkt. Es ist also vorläufig noch keinerlei Anhalt dafür gegeben, ob der Mord auf Sünden sozialer oder nationaler Art zurückzuführen ist. Denn das muß ausgesprochen werden: Aus Sünden schwerster, schrecklichster Art, aus Verstocktheit und Korruption rer oberen, aus Roheit und Korruption der unteren behörd lichen Organe ist in Rußland der moderne politische Mord entsprossen. WaS wir erst jüngst in Königsberg an gräß lichen Einzelheiten über das, was man russische.Verwaltung nennt, gehört haben, muß eS auch unserm Verständnis näher bringen, wenn die malträtirten Opfer deS Systems selbst vor dem Aeußersten nicht zurückschrecken, wenn sie den Ge danken fassen, zum mindesten einen der Verhaßten „mitzu nehmen". Verständnis und Entschuldigung ist zweierlei. Mord bleibt Mord, auch wenn nicht egoistische Motive ihn veranlaßt haben. Für uns in Deutschland hat dieses Attentat gerade gegenwärtig auch eine innerpolitische Bedeutung. Wir haben vom Königsberger Prozesse her die Versuche der Verteidiger in frischer Erinnerung, die Schmuggelschriften der russischen revolutionären Partei als harmlose theoretische Auseinandersetzungen erscheinen zu lassen. Alle die blutrünstigen Aufforderungen sollten bei Leibe nicht auf konkrete Personen, sondern auf In stitutionen gemünzt sein. „Nieder mit dem Zarismus!" sollte nicht etwa heißen: „Nieder mit dem Zaren!" Aber wir sehen heute, wie es schon hundertfach geschehen, daß die russischen ExaltadoS nach ihrer Art „praktische" Politik treiben und für die Idee die Person setzen. Wir wollen der deutschen Sozialdemokratie ohne Weiteres darin Glauben schenken, daß s i e eine derartige Propaganda der Tat nicht beabsichtigt hat. Daß aber in Rußland nicht nach den Ansichten der Schriftenvermittler gefragt wird, zeigt die Ermordung des Ministers Plehwe zur Evidenz. Die Nutzanwendung aus dem für die deutsche Sozialdemokratie höchst fatalen Ereignis zu ziehen, möchten wir vorläufig denen überlassen, die es angeht. Wjatscheflaw Konstantinowitsch Plehwe war bis vor etwa zwei Jahren Reichssekretär, eine Stellung, die etwa mit der eines Staatssekretärs des Reichsschatzamts bei uns zu vergleichen ist, und wurde am 15. April 1902 nach Ermordung des mit der Verwaltung des Ministeriums des Innern beauftragten Jägermeisters Ssipjagin zum Minister des Innern ernannt. In die Zeit seiner Verwaltung fallen Bauernunruhen, Studentenkrawalle, Massakres, nationale Empörungen und alle Arten von Vorkommnissen, von denen aus Rußland zu hören man sich gewöhnt hat. Wie weit der ermordete Minister für diese Erscheinungen verantwortlich zu machen ist — wer weiß es? Wahrscheinlich ist aber, baß der un glückliche Mann, wie die meisten seinesgleichen ein Opfer der zerfahrenen Verhältnisse gewesen ist und jetzt die Schuld des Systems mit seinem Leben bezahlt hat. Der Fuktanä der Herero. Die Erweiterung der deutsch-südwest afrikanischen Eisenbahnen. In einem in dec „D. Kol.-Ztg." veröffentlichten Aufsatze führte Geheimrat Schwabe das Folgende aus: Im Interesse der leichteren militärischen Ueberwachung und wirtschaftlichen Erschließung des Schutzgebietes wird die Herstellung einer Bahnverbindung zwischen Windhuk und dem so weit entfernten Süden mit allen Mitteln fortdauernd an ¬ zustreben und wenigstens so weit vorzubereiten se»», daß durch Vornahme der technischen Vorarbeiten die in technischer und wirtschaftlicher Beziehung zweckmäßigste Linie ausgesucht und festgestellt wird. , , . . „ Es würde dadurch der große Vorteil zu erreichen sein, daß bei plötzlich eintretendem Bedürfnis des Bahnbaues die langen Verzögerungen, welche durch die Ausführungen der Vorarbeiten entstehen, wenn auch nicht ganz vermieden, so doch wesentlich abgekürzt werden, und daß die festgestellte Eisenbahnlinie zu gleich als Richtschnur für den einzurichtenden Motorwagen verkehr dient. Denn darüber dürfte wohl kein Zweifel sein, daß, wenn auch noch nicht in der nächsten Zeit, an den Bau der Eisenbahn Windhuk—Keelmanshoost— Warmbad gegangen werden sollte, doch schon aus militärischen Rücksichten zur leichteren Ueberwachung deS Schutzgebietes mindestens an die Einrichtung eines Motorwagenverkehrs zur Verbindung zwischen Windhuk und dem Süden des Schutzgebietes geschritten werden muß. Sollten die bereits nach Südwestafrika gesandten, zur Verwendung bei den militärischen Operationen bestimmten Motorwagen sich bewähren, so könnten dieselben nach Beruhigung des Landes benutzt werden, um durch Versuchsfahrten festzustellen, ob bei den sehr schwierigen Geländeverhältnissen, besonders zwischen Windhuk und Rehoboth, die sehr unebene und felsige Beschaffenheit der Erdoberfläche die Benutzung eines Motors ohne weiteres gestattet. Selbst wenn es übrigens gelingen sollte, die mit den Motoren zu kreuzen- den, während des größten Teiles des Jahres trockenen Wasser läufe ohne Erbauung von Brücken zu durchfahren, so werden doch an zahlreichen Stellen Erdarbeiten zur Ebnung deS Weges nicht zu umgehen sein. Zur Ausführung dieser Arbeiten dürften die Herero als Zwangsarbeiter zweckmäßige Verwendung finden. Sollten sich übrigens die Zeitungsnachrichten bestätigen, daß in Aussicht genommen ist, nach Ausführung der Otavi- bahn die jetzt im Betriebe befindliche 194 km lange Strecke Swakopmund—Karibik wegen des ungünstigen baulichen Zu standes ganz aufzugeben und den Verkehr mittels einer kurzen Verbindungsbahn von Karibik aus über die Otavi- bahn zu leiten, so dürfte sich eine günstige Geleaenheit für die Verwendung des Oberbaumaterials durch Ausführung der 340 km langen Teilstrecke Windhuk—Rehoboth—Gibeon bieten, um den Verkehr nach dem Süden wesentlich zu er leichtern. O. L. 6. Der liittkch-japanische Krieg. Die Aänrpfe bei Taschitschiao werden von beiden Seiten fortgesetzt in Depeschen geschildert, die zwar alle möglichen Einzelheiten anführen, trotzdem aber kein klares Bild der Lage gewähren. Man ist gleichwohl genötigt, die Meldungen einzeln zu verzeichnen, für den Fall, daß doch auf die eine oder andere in den nächsten Tagen einmal Bezug zu nehmen ist. Die heute vorliegenden Meldungen lauten: * London, 28. Juli. „Reuter" meldet ausßTokio unter dem gestrigen Datum zu den Kämpfen bei Taschitschiao, daß General Oku am Sonnabend den Vormarsch auf Taschitschiao angetreten hat. Die Russen hatten befestigte Stellungen auf den Höhen südlich von Taschitschiao inne, die sich von dort östlich und westlich der Bahn linie erstreckten. Sonntag morgen entwickelten die Russen allmählich ihre volle Stärke, die General Oku auf 5 Divisionen und 100 Ge schütze berechnet. Die russische Artillerie verhinderte den japanischen Vormarsch. General Oku entschloß sich daher, die Dunkelheit abzuwarten und einen Nachtangriff zu unternehmen. Zwei russische Divisionen standen am Wege nach Saisching. Um 10 Uhr wurde plötzlich der ganze rechte Flügel der Ja paner auf dieRussen geworfen. Die alte russische Stet- lung östlich und westlich von Taitingling wurde mit Leich tigkeit genommen und um Mitternacht die zweite russische Stellung angegriffen. Gegen Tagesanbruch hatten die Japaner die Höhen östlich von Schenschinschibung genommen und verfolgten die Russen auf ihrem Rückzug nach Taschitschiao. * Petersburg, 28. Juli. Wie General Kuropatkin dem Kaiser untenn 26. Juli meldet, erhielt er an demselben Tage eine Depesche von General Sarubajew, worin dieser die am 24. Juli in der Umgebung von Nandalin Dafantschen und Tsiantschiaissi statt gehabten Kämpfe eingehend schildert. Der Kampf begann um 5 Uhr früh, das japanische Artilleriefeuer währte fast ununterbrochen 15 Stun den, das Geschützfeuer verstummte um 9 Uhr abends, während das Gewehrfeuer bis in die späte Nacht dauerte. Nach Beendigung des Kampfes wurde festgestellt, daß 18 russischen Bataillonen nicht weniger als zwei japanische Divisionen und eine erdrückende An zahl von Batterien gegenübergestanden hatten. Die Gesamtlänge der Stellungen betrug 16 Werst. Unter diesen Umständen hielt es Generalleutnant Sarubajew, dessen Truppen sich auf allen Stellungen behauptet hatten, nicht für angebracht, den Kampf am folgenden Tage fortzusetzen und beschloß, nach Norden zurückzugehen. Die Verluste sind noch nicht festgestellt, doch nimmt Sarubajew an, daß etwa 20 Offiziere und 600 Mann aus der Front ausgeschieden sind. Wie der General meldet, zeichneten sich besonders die sibi rischen Regimenter aus, die den Hauptangriff der Japaner auszu- halten hatten. Im Zentrum der russischen Stellungen kam es viermal zum Bajonettangriff, dem die Japaner nicht Stand hielten. Großen Kampfesruhm erwarb sich insbesondere das Regiment Barnaul, sowie die Regimenter Tobulsk, Tomsk und zwei Bataillone des Regiments Ssemipalatins. Auch die Tätigkeit der russischen Batterien, die während 15'/, S.tunden dem Feuer ausgesetzt waren, war hervorragend. Die Verluste der Japaner hält Generalleutnant Sarubajew für bedeutender als die eigenen. Leiden der russischen ^«ldtrnppen. Die Petersburger Blätter bringen jetzt herzzerreißende Beschreibungen über die Leiden der russischen Truppen im Felde. In einem derselben heißt es: „Das Klima ist jetzt ein menschenmordendes, die überschwemmten Niederungen, in denen wir jetzt kampieren müssen, gleichen den Pestsumpfen der afrikanischen Küste. Die Brechruhr fordert immer zahl reichere Opfer; auch einer unserer Kollegen, ein amerikanischer Korrespondent, ist derselben erlegen. Die Soldaten leiden unter Sonnenstich und Hitzschlag, zu denen sich häufig Lähmungen des Herzens gesellen. Das Wasser ist fast immer untrinkbar; statt seiner erhalten die Truppen heißen Thee geliefert, den sie nur ungern und widerwillig trinken. Biele erkranken an dem Genuß schlechten Wassers und schädlicher Gemüse. Dabei verkommen unsere armen Soldaten in Dreck und Schlamm und selbst die Stärksten werden widerstandsunfähig. Die ältesten Soldaten und Offiziere, die den Türkenkrieg und viele Feldzüge in Asien mitgemacht haben, erklären, niemals auch nur entfernt solchen Strapazen und so furchtbaren Prüfungen unterworfen gewesen zu sein. Dabei ist bei dem fortwährenden Hin- und Herwersen der Truppen die Ver pflegung notwendig mangelhaft und unregelmäßig. Schlaf haben wir alle seit lange nicht mehr in Ruhe genossen: die Moskitos, die uns Tag und Nacht zur Verzweiflung treiben, lassen uns nicht zur Ruhe kommen. Feuilleton. Der Fall Belotti. Roman von Waldemar Urban. Nachdruck verboten. Ein leichter Tritt ging den Sandweg zu einer Seiten tür des Hauses entlang. Der Hund, der laut anschlug, kam auf einen leisen Zuruf des Ankommenden schwanz wedelnd näher. Da erkannte ihn Belotti. Es war sein Sohn Viktor, der vermutlich aus irgend welcher lockeren Gesellschaft heimkehrte. Eine neue Sorge! Herr Belotti hatte sich bei seiner aufreibenden Geschäftstätigkeit nicht viel um die Erziehung seiner Kinder gekümmert, sondern geglaubt, diese seiner Frau überlassen zu können. Nun sah er ja wohl seit einiger Zeit, mit welchem Effekt dies geschehen war, aber es ließ sich so rasch nicht mehr ver bessern. Gleichwohl beschloß er, auf der Stelle mit 'einem Sohn zu reden und ihm nach Kräften den Stand punkt klar zu wachen. Er zündete eine Kerze an und ging in das Schlaf zimmer seines Sohnes, wo er fast gleichzeitig mit diesem eintrat. „Papa!" rief Viktor überrascht aus. „Du bist noch wach?" „Wie du siehst. Wo kommst du so spät her, Viktor?" „Ich . Aber, mein Gott, wie siehst du denn aus, Papa? Bist du krank? Tu bist wirklich krank." Cs handelt sich nicht um mich, sondern um dich, Viktor. Du führst ein Leben, das direkt ins Zuchthaus führt. Verstanden?" »Nicht im geringsten, Papa", erklärte Viktor, starr vor Staunen. „Du gibst eine Menge Geld aus, ohne je einen Sou zu verdienen. Was glaubst du, daß daraus wird? Du lebst liederlich und ausschweifend, kommst des Nachts spät nach Hause und bist des Tages unwohl oder unbrauchbar zu jeder nützlichen Arbeit. Hältst du das für anständig, für ehrlich?" Viktor sah seinen Vater im wahrsten Sinne des Wortes mit offenem Munde an. Noch nie in seinem Leben hatte er irgend jemand so reden hören. Er lebte wie Hunderte und Tausende seiner Altersgenossen, deren Eltern reich genug waren, um nichts tun zu müssen. Mußten diese alle in's Zuchthaus? Oder waren sie un anständig oder Spitzbuben? Der erste Gedanke des jungen Mannes war, daß sein Vater verrückt war. „Papa", sagte er einfach und schlicht, „ich — verstehe dich nicht." „Nun gut", antwortete Herr Belotti müde, „ich werde mit dir reden, wenn du ausgeschlafen hast und nüchtern bist. Von morgen ab werde ich dafür sorgen, daß dir der Segen nützlicher Arbeit reichlicher als bisher zuteil wird." Als er ging, fiel ihm ein, daß es doch ein recht un dankbares Geschäft sei, sich Tag und Nacht zu sorgen, zu arbeiten ein ganzes Leben lang, um — Strolche und Faulenzer groß zu ziehen. Wäre es seinem Sohne nicht viel gesünder und besser gewesen, wenn er für den Unter halt seines Lebens hätte arbeiten müssen, wie andere Leute auch? Freilich war es auch seine Pflicht, ihn dazu zu erziehen. Gleich darauf ging er, mit der Kerze in der Hand, durch die Schlafzimmer seiner Kinder. Die beiden jüngsten, Judith und Hermana, lagen im harmlosen Frieden süßen Schlafes in ihren Betten, schön und hilf los, rein und vertrauend wie die Engel. Er blieb einen Augenblick an ihren Netten stehen und sah die regel mäßigen, ruhigen Atemzüge, die schlafgeröteten Wangen, die zarten, rundlichen Glieder der Kinder, die wie ein Heiligtum in: Frieden des Hauses ruhten. Wie nun, wenn sie plötzlich hinausgestoßen wurden in den Wust und Schmutz der Straße, in die tobende Hast und den grau samen Kampf des Lebens? Und auch Viktor und Florence, diese verzogenen und verzärtelten Geschöpfchen, so wenig geeignet für den finsteren Ernst des Lebens, so unfähig, für sich selbst zu denken und zu sorgen, waren sie nicht dem Untergange oder dem Verbrechen verfallen, wenn er sie verließ? Früher hatte Herr Belotti wohl manchmal daran ge dacht, daß ja schließlich der Druck auf den Revolver auch die längste Rechnung bezahlt. Jetzt, am Bett seines schlafenden Kindes, dachte er es nicht mehr, jetzt war er entschlossen, sich durchzuringen, um welchen Preis es auch sei. Die Errettung der Rasse, die Erhaltung der Familie war das Heiligtum, das alles überstrahlte alles! — VI. Während dieser Zeit blühte Saintine Villeneuve, der es schon ohnehin nicht an Eklat und Lebhaftigkeit fehlte, auf wie eine Rose. Glückliche Braut! In diesen zwei Worten liegt eine Welt, eine ganze Schöpfung, ein Zauber, der wie Sonnenschein und Regen Wunder tut, der aus totem, kaltem Acker neue Frucht, aus dem kahlen Walde neue Blätter und Blüten lockt. Und wenn eine junge Dame vor Griesgram und altkluger Interessen losigkeit in acht Tagen nicht zwei Worte spricht, man mache sie nur zu einer glücklichen Braut, und sie sieht den Himmel voller Geigen, auf den matten Wangen blühen neue Rosen, die stumpfen Augen sprühen und leuchten von neuem Feuer und an Stelle der nüchternen Altklug heit tritt ein träumerischer, glücklich sinnender, phan tastischer Luftbau, voll Jugendglück und reinster Lebens wonne. „Schöne Zeiten, schöne Zeiten", schwatzte ihre Mutter in ihrer eigentümlichen Art; „ich besinne mich, wie das Enkelkind meiner alten Amme in Perpignan eine glück- liche Braut war. Das sind nun, wenn die jungen Erbsen wieder kommen, drei Jahre her, und Titlit — sie hieß eigentlich Judith, aber die Leute nannten sie nur Titlit — also Titlit träumte in der Nacht, sie stiege, wie Jakob — oder war es Abraham? -, auf einer Leiter in den Himmel hinauf, bis sie von der Erde nichts mehr sah und hörte. Und drei Tage später fiel ein wilder Stier ihren Bräutigam an, warf ihn in die Luft, und als er wieder herunterkam, war er tot. " „Himmlischer Vater, du erzählst aber doch lauter fürchterliche Geschichten, Mama", kreischte Fräulein Sain tine erschrocken auf. „ den Bräutigam meine ich, nicht das Tier", er ¬ gänzte ihre Mutter exakt, damit ja kein Irrtum auf- kommen solle. „Ei was. Warum erzählst du solche schreckliche Sachen, Mama? In Marseille und besonders in der Expedition des „Maitre Lejeune" gibt es keine wilden Tiere. Warum ängstigst du mich mit solchen Dingen?" „Man soll im Glück ans Unglück denken, mein Kind. Da war vor vielen Jahren eine Frau in England — oder war's in Amerika?" „Ich will nichts mehr hören, Mama. Deine Gc schichten sind zu schrecklich. Ich will sie nicht wissen." „Höre nur zu, mein liebes Kind. Das ist gerade eine hübsche Geschichte." „Nein nein * „Also es ist gleichgültig, ob die alte Frau in England oder in Amerika lebte, die Hauptsache war, daß sie einen Sohn hatte, ihren einzigen Erben, der eine lockere Schau spielerin heiraten wollte. Sie hatte ihren Sohn aber sehr lieb und sagte: Ist gut, und ging nach der Bank, wo sic ihr Vermögen verwalten ließ. Als sie wieder zurückkam. sagte sie zu ihrem Sohn: Mein liebes Kind, ich habe mein ganzes Vermögen verloren. Wir sind bettelarm und müssen arbeiten, um zu leben. Das war natürlicb dem jungen Herrn sehr unangenehm, denn er hatte nicku viel Lust zum Arbeiten, und deshalb klagte er seiner Braut seine Not. Diese aber antwortete ihm: Ei, du Einfaltspinsel, was geht das mich an? Grase du, wo du willst — und hängte sich an einen Anderen, der reicher war —" „Aber das ist doch —" „Die alte Frau in England oder in Amerika lachte sich
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