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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.02.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-02-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960205024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896020502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896020502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
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Der Umstand, daß Fürst Bismarck Ehrenmitglied veS hiesigen Vereins ist, der noch vor der Veröffentlichung des von der königl. sächsischen Regierung in Aussicht genommenen neuen Wahlgesetzes Stellung gegen dasselbe nimmt, bat hier und da die Vermulhung aufkommen lasten, auch derFürst sei einprincipieller Gegner jeder Aendcrung unseres sächsischen Wahlgesetzes, be sonders aber der indirekten Wahlen und des Drei- classensystemS. Diese Bermutbung suchen die Gegner der geplanten Reform durch den Hinweis auf die bekannte That- sache zu verstärken, daß der Altreichskanzler das allgemeine gleiche und directe Wahlsystem vcrtbeidigt und sich wieder holt abfällig über das preußische Wahlgesetz geäußert hat. Bei dem Hoden Gewichte, das man besonders in Leipzig auf daS Urtbeil dcS größten deutschen Staatsmannes legt, ist es daher geboten, sich einmal die Aeußernngen deS Fürsten über daö Dreiclassenwablsystem, das allgemeine Stimm- recht :c. genauer anzusehen, um festzustellen, ob irgendwer diese hohe Autorität in vaterländischen und politischen deutschen Fragen für einen „Protest" gegen die jetzige säch sische Wahlrechtsreform anzusühren berechtigt ist. Die erste bemerkenßwertbe Aeußernng, die Bismarck als Minister über diese Frage that, erfolgte bei seinem Aufent halt in Karlsbad im Juni oder Juli 1863 gegen den da maligen französischen Botschafter bei der Wiener Hofburg, den Herzog von Gramont (den französischen Premierminister von 1870)" Damals bezeichnete Bismarck die Mängel dcS preußischen Wahlgesetzes in den Worten: „Der preußische Wahlkörper stelle nur höchstens ein Sieben zehntel der Bevölkerung dar und Dank der schlechten Landes gesetzgebung sei dieses Siebenzehntel auch beinahe ausschließlich zu sammengesetzt ans Bureaukraten mit feindseliger und besang en er Gesinnung. An der Stelle von Bürgern gingen aus den Wahlen nur Professoren und ungenießbare Pedanten her vor. Es sei absolut nöthig, den Kreis der Wähler zu er weitern, um eine Kammer zu erlangen, die vaterländischer »nationaler) gesinnt, weniger dogmatisch und minder feind selig sei gegenüber den legitimen Vorrechten des Kvnrgthums." Mit diesen Worten BiSmarck's kann natürlich kein Mensch gegen die sächsische Wahlrechtsreform krebsen. Denn wie schlecht auch ihre Gegner die sächsische Wablgesetznovelle atmungSwcise sich vorstellen mögen — davon kann doch nicht entfernt die Rede sein, daß in Zukunft der sächsische Wahlkörper „nur höchstens ein Siebenzehntel der Bevölkerung darstellen" und daß dieses Sieben zehntel auch beinahe nur auS Bureaukraten mit der Regierung feindseliger und befangener Gesinnung bestehen, daß es weiter statt Bürgern nur Professoren und ungenieß bare Pedanten wählen werde. Am allerwenigsten aber kann bei uns die „absolute Nothwendigkeit, den KreiS der Wähler zu erweitern" damit begründet werden, wie Bismarck das 1863, nach den bitteren Erfahrungen im preußischen Conflicte that, daß durch diese Erweiterung erst eine „Kammer zu erlangen sei, dievaterländiscker (nationaler) gesinnt, weniger dogmatisch und minder feindselig sei gegenüber den legitimen Vorrechten des Königtbums." Denn die große Mehrheit unserer Kam mer war von diesen Fehlern, die dem preußischen Ab geordnetenhaus der Confticlsjahre anhasteten, vollkommen frei. Wir müßten aber auf daS Ernsteste be fürchten, daß die Vaterlandslosigkeit, der Dogmatismus und die Feindseligkeit gegen die legitimen Vorrechte unseres KönigthumS, gegen unsere Staats- und Gesellschafts ordnung in immer größerer Masse in unseren Landtag Einzug hielten, wenn der „Kreis der Wähler" oder der Kreis des Einflusses einer Wählergruppe bei uns nicht baldigst verengert, statt erweitert würde. Ganz im Sinne der obigen Aussprache gegen den Herzog v.Gramont in Karlsbad im Jahre 1863 rechtfertigte Bismarck im März 1866 den Vorschlag der Einführung des allgemeinen Stimmrechts in dem damaligen preußischen Bundesverfassungs entwurf. Denn in einer Note von Mitte März 1866 an den bayerischen Minister v. d. Psordten sagte BiSniarck: „Nach unseren Erfahrungen sind die Massen ehrlicher bei der Erhaltung staatlicher Ordnung betheiligt, als die Führer derjenigen Classen, welche man durch Einführung irgend eines Cenjus in der aktiven Wahlberechtigung bevorzugen möchte." Und am 19. April 1866 rechtfertigte Bismarck auch in einer Note au den preußischen Gesandten Bernstorff in London daS kühne Vorhaben der Einführung des allgemeinen Stimmrechts in Deutschland mit den Worten: „In einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stimmrecht auch zu monarchischen Wahlen führen, ebenso wie in Ländern, wo die Massen revolutionär fühlen, zu anarchischen. In Preußen aber sind neun Zehntel des Volkes dem König treu und durch den künstlichen Mechanismus der Wahl um den Ausdruck ihrer Meinung gebracht." Endlich sagt Bismarck in der Denkschrift vom 9. April 1866, mit welcher die preußische Bundesreform dem Bunde unterbreitet wurde: „Die königliche Staatsregierung nimmt um so weniger Anstand, diese Form der Wahl" (das allgemeine Stimmrecht) „in Vorschlag zu bringen, als sie dieselbe für das konservative Princip förderlicher erachtet, wie irgend einen andern aus künstlichen Combinativnen beruhenden Wahlmodus." Auch mit diesen Aeußerungen Bismarck s kann ein Gegner der sächsischen Wahlrechtsreform selbstverständlich nicht daS Geringste ansangen. Denn Bismarck erklärt sich für das allgemeine Wahlrecht nur, weil er, nach der damaligen Beschaffenheit nnd Gesinnung der Massen der deutschen Bevölkerung diese „Massen ehrlicher bei der Erhaltung der staatlichen Ordnung betheiligt" glaubte, sie von „monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung" durchdrungen dachte und deshalb von diesen durch das allgemeine Stimmreckt zur Mitwabl berufenen Massen „monarchische Wahlen" erwartete, dieses Stimmrecht also „für das konservative Princip förderlicher erachtete". Bismarck konnte für diese Hoff nungen damals in der That auch die „Erfahrungen der königlichen Regierung" anfübren. Denn selbst die Arbeiterpartei Lafsalle's war gesetzcs- und königstreu, und der Vaterlands- lose revolutionäre Communismus Liebknccht's batte damals noch ausschließlich mit der Umgarnung und Verführung Bebel's zu thun, der dem Verführer erst später Bebel's An hang als Partei zuführte. DaS preußische Wahlgesetz aber tadelte Bismarck in diesen Auslassungen abermals auch nur deshalb, weil es die „neun Zehntel" des preußischen Volkes, die „königstreu" gesinnt seien, nicht zum Aus druck ihrer Ueberzeugung kommen lasse. Mag man nun auch die unbekannten Absichten der sächsischen Negierung noch so ungestüm mißbilligen, so kann man ihr doch jeden falls nicht die thörickte Absicht zutrauen, daß sie mit der sächsischen Wahlrechtsreform auch nur entfernt dar nach strebe, jenes von Bismarck 1866 gegeißelte preußische Wahlgesetz in dem Sinne nachzuabmen, daß fortan die glücklicherweise in unserem Sachsen auch heute nock in ihrer großen Mehrheit königstreue Bevölkerung von der Kundgebung ihrer Ueberzeugung bei den LanvtagSwahlen aus geschlossen werde. Vielmehr scheint sich unsere Negierung die tiefste Wahrbeit aus Bismarcks obigen Worten gut gemerkt zu haben: „Das allgemeine Wahl recht wird in Ländern, wo die Massen revolu tionär fühlen, zu anarchischen Wahlen führen." Gegen diese Wahrheit ist auch mit „Proiestvrrsammlungrn" und Theorien nicht anzukämpfen. „Denn in politischen Dingen ist die Theorie noch grauer als sonst", sagt der Weise von FriedrichSrub. Nun kommen wir zu der bekanntesten Aeußerung BiS- marck's über daS Dreiclassenwahlsystem Preußens. Das all gemeine Wahlrecht war auch in den Entwurf einer Ver fassung für den Norddeutschen Bund übergangen. Im con- stituirenden Reichstag verteidigte Bismarck am 28. März l867 die Einführung dieses allgemeinen Wahlrechts und nannte dabei daS preußische Treiclassenwahlsystem: „Beispiellos widersinnig und elend, da es alles Zusammengehörige auseinanderreibt und Leute zusammeiiwürfelt, die nichts miteinander zu thun Haden, und in jeder Gemeinde mit anderem Maße mißt. Eine ähnliche Willkür nnd zugleich eine Härte liegt aber in jedem Eens ns, eine Härte, die da am fühlbarsten wird, ivo dieser Cenjus abreißt, wo die Ausschließung ansängt. Wir können dem Aus- geschlossenen gegenüber doch schwer begründen, daß er deshalb, null er nicht dieselbe Steurrquote wie sein Nachbar zahlt, gerade Helot und politisch todt in diesem Staatswesen sein soll." Das ist die Rede Bismarcks, mit welcher man den Feldzug gegen die sächsische Wahlrechtsreform aufputzen zu können meint —, man zeige uns wenigstens erst eine andere Rede deS Altreichskanzlers, die in den Augen und Ohren unnachrenklicher Leute bester für eine Protestbewegung ge eignet schiene. WaS aber spricht in Wabrheit jene Rede aus? Zunächst eine herbe Kritik des preußischen Dreiclassen- wahlsystemS, „weil es alles Zusammengehörige auS- einanderreiße" und alles Nicktzusammengebörige „durch- einandcrwürsle und in jeder Gemeinde mit anderem Maße messe". Dieser Tadel traf schon auf unser bisheriges sächsisches Wahlgesetz nur im geringsten Maße zu. Er konnte aber da zutreffen, wo die Mehrzahl einer königs treuen und selbst konservativen Bevölkerung an einem einzigen Wahltag durch die Dreimark-Steuerzahler einer fluctuirenden proletarisch-soeialdemokratischen Gegnerschaft in die Minder heit versetzt wurde. Ta wurde möglicherweise Nickt- zusammengehörigeS „durckeinanrergcwürfelt" u. s. w. Tie neue Vorlage will aber dieser Möglichkeit Vor beugen, und deshalb sollte jeder Einsichtige sie willkommen beißen, nicht dagegen protestiren. Bismarck verurtheilt in jener Rede weiter scheinbar „jeden CensnS". Aber er versteht unter „CensuS" nur jene Beschränkung des Wahlrechts auf bestimmte Steuersätze, die bei irgend einem willkürlichen niederen Steuerbetrage „ab reißt" und die weniger Zahlenden zu „Heloten" und „politisch todt" macht. Nun mögen aber die höchst verebrten Vorkämpfer unserer staatsbürgerlichen Freiheiten einmal annehmen, die sächsische Wablreform stellte überhaupt keinen „Census" im Sinne der Rede Bismarcks auf, sondern gestatte jedem Steuerzahler, d. b. also Jedem, der eine (nicht wie bisher drei) Mark jährlich Steuern bezahlt, nach seiner Fatzvn künftig als Ur Wähler sich und das Vaterland zu beglücken. Kann man sich dann gegen ein so eminent volksthümliches Wahlgesetz immer noch mit der ^Autorität Bis marck's brüsten? Bismarck ließ aber jenen Worten sofort selbst noch eine wesentliche Einschränkung folgen. Er fügte nämlich am 28. März 1867 hinzu: „Ich halte die Frage" (welches Wahlgesetz das beste sei) „für W. Jahrgang. offen, bis mir Jemand darthut, daß ein anderes Wol>l- gesetz besser sei und im Besitz besonderer Vorzüge, die dirieS nicht hat; die Frage ist discutirbar", um sie aber zu eni- scheiden, fehle die Zeit. Das war das Entscheidende. Damals, wo die Ver fassung für den Norddeutschen Bund binnen wenig Wochen fertig gemacht werden mußte, fehlte die Zeit, ein „besseres Wahlgesetz" auSzusinnen. UnS in Sachsen fehlt heute die Zeit nickt, wenn wir auck nicht leugnen wollen, daß es die höchste Zeit ist, mit der sächsischen Wahlrechtsreform Ernst zu machen. Bismarck bat endlich noch einmal, am 16. September 1878, als es sich um das Socialistengesetz bandelte, im Reichs tag erklärt, wie er überhaupt zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts gekommen sei. Damals sagte er im Reichstag: „Ich habe daS allgemeine Wahlrecht angenommen mit einem gewissen Widerstreben als Frankfurter Tradition" (d. h. der Reicköverfastung von 1849), „und wir haben sie als auf dem Tische liegende Hinterlassenschaft mit vor gefunden." Zuvor aber schon batte Bismarck in einem Schreiben aus Kissingen vom 15. August 1878 an den Gebeimrath v. Tiedemann daS Verlangen gestellt, daß durch das Socialistengesetz „den gesetzlich als Socialisten erweislichen Staatsbürgern das Wahlrecht und die Wählbarkeit entzogen werde". Geht auS dem Vorstehenden klar hervor, daß Fürst Bismarck das allgemeine gleiche und directe Wahlrecht nickt als ein unübertreffliches Ideal ansah und das preußische Dreiclassensyftem mit indirekten Wablen nur aus Gründen verurtbeilte, die weder auf die jetzigen Verhältnisse über Haupt, nock auf die sächsischen insbesondere und auf die bei uns geplante Wablrcform paffen, so lieHt zu allem llebeffluß nock ein direktes Zeugniß auS jüngster Zeit vor, wie der Fürst über die beabsichtigte Aenderung des sächsischen Wahlgesetzes denkt. Der Fürst hat sich selber in einem Briefe vom 14. De- cember v. I. an Herrn vr. Reich ardt in Dresden darüber geäußert. Letzterer, der früher einmal von ihm in FriedrichSruh empfangen worden war, hatte ihm den Bericht seiner Zeitung, der „Dresdner Nachrichten", über die Sitzung der H. Kammer vom 10. December ein gesandt und dabei angefragt, ob der Fürst sich nichl öffentlich in der Sache äußern wolle. In dem Be richt ist ausdrücklich hervorgeboben worden, „daß der Wille der Kammermehrbeit in der Hauptsache dahin geht, für die sächsischen LandtagSwablen das in di recte Dreiclassenwablsystem einzuführen, wie eS in Preußen be steht, allerdings mit dem wesentlichen Unterschiede, daß besondere Garantien dafür geschaffen werden sollen, daß die bürokratischen Einflüsse nickt ein unverbältnißmäßigeS Uebergewicht erhalten können." Fürst Bismarck bat nun allerdings eine öffent liche Aeußerung abzelebnt, er bat aber ausdrücklich binzu- gefügt, daß er „Der sächsischen LanVeSverlrctung fär ihre entschlossene Haltung (itlück uuD guten (Srsolg wünsche SLpienti sat. Politische Tagesschau. * Leipzig, L. Februar. Die vorgestern im Reichstag von dem Abg. Nintelen im Namen des Centrums abgegebene Erklärung, seine Partei Fauttleton. verlassen und verkannt. Erzählung von Wladimir Korolenko. Uebers. v. Ad. Garbrll. Nachdruck verboten. D. S. G. „Wollen wir doch gehen, Pan Düima", sagte schüchtern Anna. „Ha', was ist dabei zu macken! In diesem Lande muß man sich, wie cs scheint, an Alles gewöhnen", sprach Düima, nahm seinen Sack ans die Schultern und stieg wülhend die Treppe hinauf. Ans dem ersten Absatz saß hinter einem Schalter ein gleichmüthiger Amerikaner, dem Bork eine Münze gab. Die Billete warf Bork in ein gläsernes Kästchen, sie stiegen noch höher, bis sie ans eine Platsorm gelangten. Unten gingen Leute, fuhren große Lastwagen, Pferdebahn wagen klingelnd dahin, oben am Himmel zogen weiße, belle Wolken, ganz wie in der Heimatb. „Diese Wolke wird nun über die Erde und daS Meer dahinfliegen, und in Losischza sehen, wie die Leute da aus ihren Feldern fahren und arbeiten", dachte Matwei. „Wird eS sich Jemand dort cinfallen lassen, daß zwei Losisckzaner in einer sreniden Stadt, wo sie eben, als ob sie nickt Christen wären, gehänselt wurden, nur gekommen sind, nm zum Gespött zu werden. — Und da stehen sie nun, nicht auf der Erve und nickt auf einem Berge, und wollen mit einer Maschine durch die Luft stiegen." Auch Anna hegte Befürchtungen. „Nun und wenn daS Alles nmstiirzt?" dachte sie. „Dann fliegen wir alle mit dieser Maschine nach unten auf daS steinerne Pflaster. JesuS, Maria, heiliger Joseph, jede Seele lobt Gott den Herrn!" Düima stand daneben und kaute an seinem Schnurrbart. Auf den Schienen zeigte sich etwas KreiSartigeS, daS immer näher kam, zu wachsen begann, ein metallener Klang erscholl nnd vor der Platsorm vorbei raste ein ganzer Zug. Die Locomotive stieß einen schrillen Pfiff auS, blieb sieben, die Thiiren öffneten sich, nnd einige Dutzend Menschen eilten an unfern Losischzanern vorüber. Sie bestiegen ein Coups, setzten sich auf die leeren Plätze, und gleich darauf jagte der Zug mit vollem Danipf dahin, so daß die Fenster der Häuser vorbei huschten. Matwei schloß di« Augen. Anna bekreuzte sich unter ihrem Tuch und flüsterte Gebete. Düima sah uniher mit einem herausfordernden Blicke. Er glaubte, daß die Ameri kaner, die in dem Wagen saßen, auf ihre Mützen und Kittel blickten, und sie gar mit Bananen bewerfen könnten. Aber diese Amerikaner waren dem Anscheine nach ernste Menschen, denn Niemand glotzte sie an oder lächelte auch nur. Düima gefiel das, und allmählich beruhigte er sich. Da blieb auch schon der Zug stehen, unsere Losisckzaner verließen denselben heil und stiegen die Treppe hinunter aus die Straße. Die Herberge deS Mister Bork glich denen, wie sie die Losischzaner in der Heimatb kannten, nichl im Geringsten. Dort sind eS immer freundliche, nicht hohe Häuser, an deren weißen Wänden sich breite Pforten abbeben, die einen so an genehmen Anblick gewähren, daß selbst die Pferde ihre Richtung dabin nehmen. Hinter der Einfahrt breitet sich dann ein gepflasterter Hof, mit einem hohen Strohdock darüber, auS. Zwischen den Dachsparrenbalken fliegen Schwalben umber, und man vernimmt süßes Taubengirren. Ja der Nabe steht ein Brunnen mit einer Winde, Krippen mit einem hölzernen Gitter darüber, aus welchem die Pferde daS Heu hrrauSzieben, Hühner, Kühe, Ziegen, Gerüche vom Stall, Theer und duftigem Heu . . . Hier war es aber ganz anders. Es war einfach ein großes Zimmer mit Fenster, vor denen die Züge vorbeisausten, so daß die Scheiben mit Rauch beschlagen wurden. Nur darin glich vielleicht das Zimmer denen in der Heimatb, daß hier die Sauberkeit ebenfalls zu wünschen übrig ließ. Für Anna fand sich ein Bett in Bork's Privatwohnung, Düima und Matwei aber mußten sich selbstverständlich im gemeinsamen Logirzimmer einrichten. VIII. Die Losischzaner standen im Zimmer, nachdem sie ibr Bündel neben sich auf die Diele gestellt, und wußten nicht, was weiter geschehen solle. Der Wirth aber hatte Anna nach seinem Privatzimmer gebracht. Hier muß man bemerken, daß Matwei und Düima in ihrer Heimatb als solide Leute, die sich in der Welt zu bewegen wußten, galten. Es war ihnen schon oft vorgekommen, baß sie auf einem Jahrmarkt oder einer Fahrt nach einem Fleckem in einen „Krug'"") kamen, der überfüllt war, waS sie aber durchaus nie in Verwirrung brachte. Wußten sie Loch, waS *) Der in Rußland übliche deutsch« Ausdruck Herberge. sie in solchen Fällen zu thun hatten. Sie brachten das Pferd an einen geeigneten Platz, gaben ihm Heu und Hafer iu die Krippe, oder banken ihm den Futtersack um, hingen die Peitsche an ihren Gürtel, damit die Leute sehen konnten, daß sie nickt irgend welche Banditen oder Bettler, die vagabundirend in der Welt nmherstreichen, sondern echte Lanvwirtbe, mit eignem Pferd und Wagen seien. Dann traten sie gewöhnlich in das große Gastzimmer, setzten sich aus eine Bank und warteten, bis ein Platz an dem gemeinsamen Tische frei war. Mit einem Worte, sie gingen überall mit offenen Augen umher, kannten ihren eigenen Werth und den Anderer, betrugen sich freundlich gegen Ihresgleichen und ehrerbietig gegen Höbergestellte, und waren im großen Ganzen geachtet und gern gesehen. Jetzt aber waren sie geradezu wie Blinde. Weber zu Fuß noch zu Wagen waren sie hierbergekommen, sondern durch die Lust. Mister Bork'S Quartier war einer Herberge ganz und gar unähnlich, und die Leute waren ihnen ihrem «Stande nach unbekannt. Ihnen zunächst lag auf einem Bette ein Herr mit den Beinen in die Höbe, eine ungeheuer große Zeitung lesend. Und da er im Munde eine lange Cigarre dielt, schlossen dir Losischzaner, daß eS ein amerikanischer Edelmann sein müsse und fürchteten, ihm irgendwie zu nahe zu kommen. Sie stellten fick nahe der Schwelle und hüstelten vor Verlegenheit. Wenn sie zu Hause gewesen wären, hätte sich Matwei sicher verbeugt nnd gesagt: „Ich bitte um Entschuldigung . . ." In diesem Augenblicke aber erschien Bork und führte die Losischzaner an ein Bett, daS nfbei, dem des Herrn stand. „Hier, dieses Bett ist für Euch und wird Euch beiden einen Dollar die Woche kosten." „Gott mit Dir, wenn eS nickt billiger sein kann", flüsterte Düima. „Ick wollte nur . . . Wird eS diesem Herrn nicht unangenehm sein . . . Immerhin sind wir einfache Leute..." „Darüber könnt Ihr Euch beruhigen", erwiderte Bork lachend, „alle sind wir gleich, die Gelv zahlen. Ick würde diesen vornehmen Mann sicherlich nicht beherbergen, wenn die Tammany-Hall*) nicht für ibn bezahlte. Wa« soll man *) Tammany-Hall, die älteste und seit Tweed berüchtigstc politische Organisation der Vereinigten Staaten, führt ihren Namen nach einem eignen großen Grbäude der 14. Straße von New-Park. Gegründet seit 1789 zu Wohlthätigkeitsrwcckeii. vereinigte die Ge>rll- schäft die konservativen Elemente von New-Port in sich. Dadurch politisch aus di« Leite der uriprlinglichiog. demokratisch.republitaniscken, später der demokratischen Part«! gebrockt, entwickelt« sie sich zu der machen. Ich hatte eine Fabrik, die zum Teufel geganaen ist und besitze nur noch dieses Quartier, für daS ich im Vorau« bezahlt habe, und so muß ich suchen, mich durchzuscklagen, so schlecht und recht wie eS geht", fügte er seufzend hinzu. „Wenn es so fft, dann ist es ja schön", sagte Düima, Muth fassend. „Matwei, lege Dein Bündel hierher, und in der Thar, ist unser Geld denn schlechter als anceres? Und zudem soll hier ja die Freiheit herrschen." Und er setzte sich dem Amerikaner mit gespreizten Beinen gegenüber. Dieser aber, al« er das Wort „Tammany-Hall" vernommen halte, nahm eine ankere Stellung ein, läckelre und beide glotzten sich an, indem jeder in seiner Stellung blieb „(jvock bzitzbegann zuerst der Amerikaner und schlug Düima auf« Knie. Düima versetzte ihm auch seinerseits einen Schlag unc erwiderte ohne nachzudenken: „Tammany-Hall", sagte wieder der Amerikaner und lächelte liebenswürdig: „rerv vel?". ,.Ver^ «eil", erwiderte auch Düima und nickte mit dein Kopse. „DaS heißt, eS ist sehr aut", fnbr er auf russisch fort. „Ader wer auch für Dich bezahlt, ob Tammany-Hall oder ein Anderer, ist nn« gleich." „NvI?-. Der Irländer nickte Düima wieder zu und schlug iln abermals auss Knie, was ihm dieser auch nickt schuldig blieb. Sie waren offenbar Freunde geworden. IX. M'twei war darüber geradezu verblüfft. „DaS der für eine Gottesgabe besitzt", schloß er, setzte sich aus da» Bett, ließ traurig tcn Kopf sinken und dachte: „Da sind wir auch schon in Amerika und waS werden wir nun anfangen?" ruhigsten und erfolgreichsten demokratischen Parteiorganisation und doininirte sogar in der Nationalpolitik. fast immer jedoch in unheilvoller Weife. Ihr Grundsatz ist „To tlio Victors dc'ovx ilic spoils' idem Lieger die Beute) geblstbru. Obwohl erbitterte Gegnerin von Eleveland, lonnte sie doch dessen Wahl zu:n Präsident«» n:chl hindern. Es gelang Tweed, sich über ejn üonnlv von 11M Perionen als taktiicker „Löss" zu stellen. Nur die irisch-amerikanischen Elemente, die weitaus korruptesten in Amerika, konnten »in solch«» aus Corruvtion basircndes ..Boßrbum" ermöglichen.
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