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Oberneukirch Von E. Nierich - Nenkirch Am 1. Juli fand die Eingemeindung des Ortes Ober neukirch zu Neukirch Lausitz statt, und da in unserem dicht besiedelten Sachsen Neugründungen von Gemeinden wohl kaum oder höchst selten erfolgen, so verliert die Lausitz wie der eines der uralten Bauerndörfer. Da in vielen alten Urkunden Dörfer erwähnt werden, die jetzt keine Landkarte mehr verzeichnet, so nannte man solche verschwundene Dör fer „Wüstungen" und setzte ihren Untergang auf das Schuldkonto des Hussiten- oder des Dreißigjährigen Krie ges. Diese Annahme ist aber in sehr vielen Fällen irrig; denn die Ortschaften bestehen in Wirklichkeit noch, sind aber nur von größeren Nachbargemeinden oder Städten ver schlungen worden und dadurch ihres Namens verlustig ge gangen. Die Flurnamenforschung hat hier viel zur Auf klärung beigetragen. Die Goschwitzstraße mitten in Bautzen erinnert noch an das gleichnamige Dorf, das einst vor den Mauern der Stadt lag, und der Poppitz im Innern von Dresden ist der alte Dorfplatz des Dorfes Poppitz. Das sind nur zwei Beispiele von vielen. Auch der Name Ober neukirch gehört nun der Vergangenheit an. Als vor 2000 Jahren an den Fluhläufen in der Ebene sich schon Dorfgemeinschaften unbekannter germanischer Stämme befanden, war das Land diesseits des Gebirgs zuges, der sich vom Klosterberge über Picho nach dem Mönchswald erstreckt, fast unbewohnt. Der vom Batten berg kommende Bach lief durch ein waldiges Tal, das un durchdringlicher Bruchwald erfüllte. Erst die um das Jahr 500 in das von den Germanenstämmen verlassene Land ein dringenden Sorben folgten auch dem Laufe der Bäche und gründeten in dem sumpfigen Bruchwalde das Dorf „Wja- sonza" d. h. Ulmendorf, nach der hier häufig vorkommenden Ulme benannt. Um 900 drang die Kunde vom Christen tums auch zu den heidnischen Bewohnern Wjasonzas, und bald wurde der Ort von den von Westen vordringenden Deutschen zur Parochie der im Jahre 1076 gegründeten Kirche von Göda gezogen, bei welcher es mehrere Jahr hunderte blieb. Die von Westen um 1100 nachdringenden Deutschen und vor allem fränkischen Kolonisten gründeten unterhalb des wendischen Dorfes Wjasonza das deutsche Dorf Neukirch. Somit ist das jetzt dem Namen nach ver schwindende Oberneukirch das ältere, das Mutterdorf des letzt zusammenhängenden Straßendorfes Neukirch. Zwar weist keine Urkunde uns das nach, aber aus vielen Um wänden ist dies deutlich zu erkennen. So lief schon im 13. Jahrhundert die meißnisch-böhmische Landesgrenze durch en Ort, so daß das bisherige Oberneukirch sWjasonza) der Meißnische Teil, die deutsche Neugründnng aber der Lau- sitzische Teil war. Ein Stolpener Amtserbbuch vom Jahre !559 berichtet von Oberneukirch: „haben keine Hufen-Zahl", woraus deutlich ersichtlich ist, daß es die wendische Grün dung ist; denn wendische Dörfer waren nicht »ach Hufen vermessen. Dieses Amtserbbuch sagt weiter: „Seyndt iezo gegen Neukirchen geschlagen, zuvorn aber haben sie gegen Göda gepfarret." Das ist wohl der schlagendste Beweis für das größere Atter des kleineren Oberdorfes; denn wie käme eine Einpfarrnng nach dem entlegenen Göda zu stande, wenn die Kirche von Neukirch schon gestanden hätte? Auch auf der ältesten Karte unsrer Gegend, die 1686 von em Freiberger Markscheider Matthias Oeder angelegt urde, ist Oberneukirch eingetragen als „Naukirch Ampt -vedaw". Auch die Zugehörigkeit zu dem Gööaer Land gericht datiert aus der Zeit des ältesten Dorfes. Es war Sitte, daß alle diesem Gerichte zuerteilten Dörfer die Lasten irgendeines Prozesses, auch wenn sie gar nicht daran beteiligt waren, trugen. So mußte Neukirch 1767 zu den Unkosten mit beitragen, die entstanden bei der Hinrichtung eines Anton Heiler aus Böhmen, sowie acht Mann Wache bei der Execution des armen Sünders stellen. Aber eigen tümlich berührt es uns jetzt, wenn wir lesen, daß 1778, also elf Jahre darnach, ebenfalls Unkosten entstehen, „weil der vom Galgen abgefallene Cörper Anthon genannt be erdigt worben ist". 1771 mußte Oberneukirch zu einem ähn lichen Zwecke Mannschaften dahin stellen; denn es sollte „den 28. Januars der Vater, Mutter und Bruder Mörder Jacob Ritter aus Coblentz von Leben zum Tode gebracht werden, es soll selbiger auf einer Kuh-Haut bis zum Ge richt geschleift werden, als dann auf einen Chavot mit 2 glünenten Zangen gerißen und gerädert und aufs Rad geflochten werden." 1774 müssen noch 6 Wagen und 6 Hand arbeiter zum Wegebau nach Göda gesandt werden, selbst verständlich auf Kosten der Neukircher Gemeinde. Ent rüstung liegt in den Worten, mit denen der Dorfrichter berichtet, daß die Herrschaft von Wahren 152 Thlr. 19 gr. Unkosten von „der Landschaft" verlangt wegen des Ge treidediebstahles eines Gööaer Einwohners in Semmichau. Dagegen legen 1796 die sonst geduldigen lausitzer Dorf bewohner Protest ein. Schon seit alter Zeit, der Ursprung ist bisher nicht zu ermitteln gewesen, bestand dieses alte Dorf aus zwei ge trennten Gerichtsbeztrken. Eine mehr sagenhafte Erzählung will wissen, daß zwei Brüder sich in den Besitz des Dorfes dergestalt teilten, daß die Grenze einmal die Grundstücke links, dann die rechts der Straße berührte, wodurch ver zwickte Besitzverhältnisse entstanden, die tatsächlich bis zu der 1923 erfolgten Zusammenlegung beider Gemeinden zu einer bestanden. Das eine Gerichtsgebict gehörte zum Reib- nitz-Hermsdvrfschen Mundgute, das andere war das der Amtssassen des Schössers zu Stolpen. Diese Verhältnisse erlitten im Jahre 1664 insofern eine Änderung, als auf Ansuchen des Kurfürstl. Sächs. Obersteuerbuchhalter An dreas Beyer, des Besitzers der Herrschaft Steinigtwolms dorf, diese Stolpenscheu Untertanen, und zwar 5 Halb hüfner, 2 Gärtner, 10 Häusler und das Rittergut der Ge richtsbarkeit Steinigtwolmsdorf überlassen wurden. Einem späteren Besitzer, dem Hofkommissar Gottfr. Will;. Gastest, wurde jenes Lehen in „pures Allod" verwandelt. In einer Rechtsstreitsache zwischen beiden Gemeinden aus dem Jahre 1782 tauchen daher die Namen Neukirch, „Beyerischen-", „Gastellischen-" und da der Richter zu dieser Zeit Schmalz hieß, sogar „Schmalzischen-Anteils" auf, gemeint ist aber immer der Steinigtwolmsdorfer Anteil. Die Hermsdorf- schen Untertanen aber hatten 1657 das Gut gekauft und begaben sich als „Freyerraufte Gemeinde" 1660 in den Schutz des Amtes Stolpen, daher Neukirch Amts-Anteil genannt. Diese Teilung scheint aber durchaus nicht immer die friedlichen Beziehungen beider Gemeinden gefördert zu habeu; denn als 1782 die Stolpischc Gemeinde auf der Ge- meindeaue, die „der Wesenizbach durchschneidet und die voll Wüstung und Gesträuch ist, darin sich Diebe aufhalten könnten", ein Armen- und Feuergerätehaus errichten will, hat die „Gastellische Gemeinde" die erste Mauer wieder wegreißen lassen. Es entspann sich nun ein langer Prozeß über das Eigentumsrecht an der Gemeindeaue. Während die Steinigtwolmsdorfer Gemeinde diese ganz für sich be ansprucht, führt die Amtsgemeinde als Grund des gemein samen Besitzes an, daß abwechselnd Häuser darauf von bei den Gemeinden gebaut worden seien. „Es steht ein alter Pranger auf der Gemeine, allein niemand weiß, wer die sen Pranger erbauet, er wird vermutlich von beyden Ge meinen bewilliget sein und wird die ehemalige Herrschaft von Reibnitz, welche unsere Gemeinde besessen, vielleicht auch zur Bestrafung ihrer Unterthanen diesen Pranger ge braucht haben." Das Urteil sprach die Aue dem Steinigt wolmsdorfer Anteil zu, aber dem Stolpischen das Recht zum Bau des Hauses. Am 24. Septbr. 1783 erfolgte daher die Hebung desselben, und das Armenhaus steht heute noch an dem Platze, während das Spritzenhaus gegenüber neu errichtet worden ist. Daß Gerichtsurteile damals durch