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Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt : 04.11.1900
- Erscheinungsdatum
- 1900-11-04
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1841109282-190011045
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1841109282-19001104
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1841109282-19001104
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- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungHohenstein-Ernstthaler Tageblatt
- Jahr1900
- Monat1900-11
- Tag1900-11-04
- Monat1900-11
- Jahr1900
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- Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt : 04.11.1900
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UGtiil-EMWtr TigMt. Amtsblatt. Nr. 256. Sonntag, den 4. November 1900. 1. Beilage Politische Wochenschau. Aus dem Gebiet der inneren Politik wird es bei uns allgemach recht lebendig und die Vorboten der ReichStags-Session, von deren Beginn unS jetzt nur noch zehn Tage trennen, machen sich bereits bemerkbar. In der vergangenen Woche stand die politische Erör terung noch immer im Zeichen des Falles PosadowSky- Woedtke-Bueck. Der Versuch des Leipziger social demokratischen Blattes, zu dem ersten Zwölstausendmark- Fall noch einen zweiten zu construiren, ist mißglückt, aber der Thatbestand des ersten Falles konnte von keiner Seite bestritten werden. Selbst diejenigen, welche geneigt sind, das Verhalten deS Reichsamts des Innern zu entschuldigen und zu vertheidigen, haben doch zumeist wenigstens eingestehen müssen, daß hier ein „bedauer licher Mißgriff" vorliege. Wie die Angelegenheit sich weiter entwickeln nnd ob sie nach der einen oder anderen Richtung hin politische Folgen zeitigen wird, bleibt abzuwarttu, das aber steht fest, daß die Regierung im Reichstage keinen leichten Stand haben wird, die An griffe, welche dort gegen das Reichsamt des Innern mit Sicherheit zu erwarten sind, abzuwehren. Dagegen haben die Beniühnngin der Regierung in Sachen der chinesischen Frage wenigstens mit einer halbwegs geklärten Suualion vor den Re.chsiag treten zu kvn''en, in letzter Zeil eia' w.'enlliche Forderung erfahren. Das deutsch-englische Abkommen, welches zuerst von etlichen Polii kirn, welche duilscher zu sein glauben als Andere, heilige Anfeindungen zu erdulden hatte, hat sich in der Thal als das erwiesen, was eS sein solbe, als »in CriNalliianonspunkt für die Einigung der an der chinesischen Frage beiheiligten Mä^te. Da? deutsch-englüct e Abkommen hat einen unstreitigen Erfolg erzielt und der neue Reichskanzler kann sich rühmen, sich mit einem we'entlichen Erfolg ans dem Gebiet der auswäuigen Politik in sein Anil eingesührl zu haben. Wie erinneruch enthilt das deuisch inglische Ab kommen vier Punkie. Arlike! l proclamin die Politik der offenen Thür fü: China und Artikel 2 enthalt die Verpflichtung, den Terruonalbestand des chinesischen Reiches unvermindert zu ei halten. Tie Artikel A und 4 haben nur eine secundare Bedeutung. Artikel 3 enthüll den Vorbehalt etwaiger Schritte zur Sicherung der eigenen Interessen, falls eine andere Macht terri- toriale Vvrtheile in China anstrebt, und Artikel 4 ent hält die Aufforderung an die anderen Mächte, diesem Abkommen beizutreten. Dnser letzteren Aufforderung sind alle Mächte bezüglich der Artikel l und 2 gefolgt und damit Hal der Eoenlual-Artikel .8 jede praktische Bedeutung verloren. Dieser Erfolg ist um so hoher anzuschlagen, als mehrfach von weiten Frankreichs und Rußlands und auch der Vereinigten Slaaten von Amerika Schwierigkeiten ciwaltcl wurden. Aber Ruß land und Frankreich haben jenem deutsch englischen Programm nicht gut widersprechen können, ohne ihrem eigenen Programm ins Gesicht zu schlagen. Und waS die Vereinigten Staaten von Amerika betrifft, so hat man dort längst erkannt, daß in der chinesischen Frage jede Sonderactwn ebenso gefährlich und schädlich wäre, als der einige Zeit lang ins Auge gefaßt Verzicht ans jegliche Action. In den Vereinigten Staaten von Amerika sind zur Zeit überhaupt alle politischen Interessen zurück- getreten vor dem Kampf um die Präsidentschastswahlen, deren Beginn unmittelbar bevorsteht. Aus diesem Kampf sind zur Zeit sowohl die chinesische wie die anderen internationalen Fragen auSgeschieden und die Demokraten beschränken sich auf die Parole: „Für das Silber und gegen den Imperialismus!", die Repu- blikaner auf die Parole: „Gegen das Silber und für den Imperialismus!" WaS die Aussichten der Wahl betrifft, so behaupten beide Parteien, sowohl die Republikaner, deren Kandidat Mac Kinley ist, als auch die Demokraten, deren Kandidat Bryan ist, daß ihnen der Sieg sicher sei, aber nach den Stimmungsbcrichten auS Washington scheinen die Aussichten der Republi- kaner die größeren zu sein. Aber wie auch die Wahl aussällt, die einstmals von den Buren gehegte Hoffnung, daß sie von Amerika irgend welche Schritte zur Hilfe leistung zu erwarten hätten, hat sich längst als eitel er wiesen. Freilich nicht minder aussichtslos scheint der letzte Versuch zu sein, den Präsident Krüger unter- nimmt, um die eine oder andere der europäischen Mächte zu einer Intervention zu veranlassen und aus diese Weise wenigstens die völlige Vernichtung der Burenstaaten abzuwenden. Im übrigen haben die Engländer daS Fell deS Bären ze:theilt, bevor eS erlegt ist. Auf dem südafrikanischen Kriegsschauplatz geht der Guerillakrieg roch :mmer seinen Gang und die Hoffnungen der Engländer, diesen Krieg in ab sehbarer Zeit zu beendigen, haben sich erheblich hc.ac- gestimmt. Wenn übrigens Herr Chamberlain eehossl hat, aus Grund der höchst zweifelhaften südafrikanischen Erfolge zu einem höheren Gipfel der Macht empor- zuklettern, so hat er sich geschnitten. Lord Sali-bnin hat sich entschlossen, für: erste an der Spitze des Kabinels zu verharren, und wenn er auch aus die Leitung der äußeren Politik verzichten will, so geschieht dies nicht zu Gunsten des Herrn Chamberlain, denn man hat in England doch ein Haar darin gesunden, dit'em zweiselhasten Herrn die Leitung der Beziehungen ru den anderen Mächten anzuvertrauen. Trostlos sehen die Verhältnisse in Spanien aus. Die ungeheure wirtschaftliche Kalamität ist der Boden, aus dem die Carlisienbewegung neue nnd reiche Nahrung gesunden hat. Die erst kürzlich beigelegtc Kabinett- krisi- erscheint bedeutungslos gegenüber der chronischen winschastlichen und politischen Krisis, welche das Land unaufhaltsam dem Niedergang entgegensührt. Los von Nom vor 270 Jahren! crm aciauchNichc-) TtukdiMl l.ic I>>. Boichvn. Psaner zu Pinsia. Der Tag der 95 Thesen, der Al. Octobcr, liegt eben hinter unS, noch stehen wir unter dem Eindrücke deS Festtages, und dem 10. November gehen wir entgegen, dem Geburtstage unseres theuren l)r. Martin Luther, den Gott sich zum Rüst,zeuge sür hin großes Werk erkor, die Resormation. Mit ihr sollen und wolle» sich in diesen Tagen nnsere Gedanken be- schästigen. Was ist aber da wohl natürlicher, als daß wir unS frage»: Wie hat denn in unserer Gegend die evangelische Bewegung los von Rom und wieder zu IesuS Christus hin ihren Einzug gehalten? Wie hat sich in unserer engeren Hcimaih die Resormation durchgesetzt, und welcherlei Veränderungen ries sie denn hervor? Giebt eS denn überhaupt Quellen, aus deren wir Kunde über die Vergangenheit vor A70 Jahren schöpfen können? Sind noch Berichte vor handen, die uns in jene Zeit versetzen? Gewiß ist lies der Fall. Noch werden im Königlichen Haupt staatsarchive zu Drei den inmitten von alten Kirch- rechnungen zwei Briese der katholischen Pfarrer von Neukirchen nnd Wüstenbrand aafbewahr», welche 15,Al der damalige Abt deS Chemnitzer Bergklosters an den gestrengen Herzog Georg den Bärtige» vo» Sachsen, den hartnäckigen Gegner der Reformation, einfandte. Der Bries, worin dieser Prälat, Namens Hilarius Rehselder von Rehburg, sich „sammt den armen zwei Dorfpriester dem gnädigen Schutze Seiner fürstlichen Gnaden ganz unterthäniglich befohlen haben will", ist von Chemnitz aus geschrieben und trägt daS Datum des 27. Juni genannten IahreS. Für den Geschichtskundigen sind das also Aktenstücke ersten Range-, weil sie der Feder von Zeitgenossen der Reformatio», also Augen- und Odrenzeugen, ent stammen. Bevor wir sie jedoch benutzen, müssen wir uns klar werden über l. Tie politisch«« und kirchlichen Verhältnisse anserer Gegend um l52tt. Hier lief zunächst die Grenze zwilchen den beiden BiSthümern Meißen und Naumburg; zu letzterem rechnet ein Verzeichnis; aus dem Ende des 15. Jahr hunderts die Kirchspiele Lobsdors iLodewigdors,, Berns- dors, Gersdorl, Lugau lLugk), QelSmtz und Beutha <Beuteni. Dem ersteren hingegen weist ein anderes Verzeichniß, welches 1495, abgeschriebeii, aber bereits 1A46 zum ersten Male ausgesetzt wurde, solgende Pfarreien an der Grenze in dieser Gegend zu: Qde,winkel, Qberlungwitz, wozu auch Hohenstein, von Ernstihal zu schweigen, gehörte, Wüstenbrand, Erlbach nlid Stollberg. Die beide» Verzeichnisse, auch Matrikeln genannt, versetze» unS demgemäß hinein in die kirchlichen Zilstände kurz vor dem Beginne deS ResormalionSjahrhundtrts. Die BiSthümer, über welche sie uns Auskunft ertheilen, zerfielen natürlich wieder in Unterabtheilungen, hier unter der Bezeichnung Archidiakonate üblich, deren Inhaber als Stellvertreter der Bischöfe deren geistliche Gewalt in ihren Sprengeln au-übten. Zwei derselben stießen läng- der gegebenen Scheidelinie zusammen, die von der Zwickauer Mulde oberhalb Waldenburgs südwestlich auf die Lungwitz zulief und nach deren Ulberschreitung bei Hermsdors eine mehr südliche Richtung einschlug: von der Naum burger Seite das Archidiakonat „jensrit der Mulde", dessen Amtssitz sich wahrscheinlich in Lichtenstein be- fand, und von der Meißener das Archidiakonat Chem- nitz, mit dessen Verwaltung die Aedle des dorngen BenediktinerklosterS seil dem Anfang de- 14. Jahr hunderts betraut waren. De» Namen der Abler um 15>A0 lernten wir schon kennen: Hilarius, er war also dec Vorgesetzte der Meißener Planer und halte vier geistliche Bezirke, auch Dechaneien, unter sich, die »ach ihre» Vororten Wolkenstein, Chemnitz, S ollberg und Waldenburg hießen. UnS intereffiren nur die veideii letztere», südlich von Qberlungwitz lind Ursprung be rührten sie sich, und von de» tuns Meißner Parochien, die wir kurz vorher aufsuhnen, bildeten die erste» drei »ul noch andere», darunter Langen churc-don, Limbach und Callenberg, den Waldenburger, die ctzici zwei nebst Neukirchen und cbenialls all! anderen den Stollberger Distrikt der Chemnitzer Kiichenprv.ini. Ganz ander» gestaltete sichdie politische VlNbciUuu der Gegend. Unter der Oberhoheit deS Herzog- von Sachsen, deS Vertreters der albcnini'ch.ni Linie, damalc Georgs des Bärtigen, standcii als weltliche Grund herrn der Abt von Chemnitz und der Lchnslrager dec Herrschaft Stollberg, die durch den Vertrag von Eg«r im April 1459 als erbliches pflichten! vses böhmische- Leyen an die Wettiner übergegangen war. Jere» gehorchte» Wüstenbrand, Leukersdorf, Neukirchen und seine vier noch heute ihm eingepsarrten Dörser, diesem Stollberg mit seinen Orten im Norden und Sücen sowie Bninlos und Erlbach. Aus dem Schlosse zu Hohcneck saß in jenen Tagen Friedrich von Schöndeig alS herzoglicher Vasall, während A-mu- von der Oelsnitz als solcher überLugau gebot. Dem albertmnchen Gebiete lagen die Schöndurgischen Besitzungen benach bart, deren Grenzorte Oberlungwitz und GerSdor waren. Sie waren seit 1A61 böhmische Reichr-After- Lehen, weil damals die Herren von Schönburg unter böhmische Oberhoheit sich begaben, als sich die Landes- Hoheit der Meißener Markgrafen au» d-m Hause Wettin infolge der Verschwägerung mit Kaiser Ludewig dem Baier zunehmend hob. Deßbalb waren sie von SachsenS Regenten gänzlich unabhängig, uiid so konnte es geschehen, al» gegenüber Luthern und seinem Werke Ernst von Schönburg eine durchaus feindselige Stellung einnahm, datz alle Versuche von sächsisch kurfürstlicher uns herzoglicher Seite in den Jahren 1528 und 15A9, der Reformation Geltung zu ver schaffe», vergeblich bliebe». Nur in der Grafschaft Hartenstein gewann sie schon 15A9 und nicht erst 15,42 Eingang, weil dieselbe ein sächsisches Reich-- After-Lehen war. Eingespiengt zwischen die Schön- burgischen und herzoglich-sächsischen Territorien, lagen die Dörser Abtei-Lungwitz, Ursprung, Kirchberg, SeiserS- dors und Psaffenhai»; sie waren deni Abte deS Zisterzienserklosters vo» Grünhein als weltlichem Grundherr», der sie als e:n sogenannte- Tasclgut be saß, zuständig, desgleichen Octtrutz. Derselbe aber, schon persönlich dem Evangelium nicht abgeneigt, war kurfürstlich - sächsischer V-siall. Im Kurfürstenthum aber war ja 15,AO bereus die Reformatio» emgcsuhrt worden, und so konnte e- nicht auSbliiben, daß in dieser Enklave unter kurfürstlichem Emt'lusse, hinter welchem der Amtmann Johann de- Beständigen im nahen Zwickau stand, der evangelischen Bewegung der Bode» bereitet wurde. Er bedurfte nur eines Anstöße» und die Sache kam ui Fluß; da- geschah auch, die Predigt des Evangelium- erscholl und gewann die Herzen. Das Alte stürzte und Neue- entstand. l Fortsetzung folgt.) Sächsisches. — Errichtung einer rchülerbibliothet an der 2. Vezirtaschule (Reuftadt). Mit Recht legt man der Verbreitung guter Volksbücher eine immer größere Bedeutung bei. Ueberall entstehen Volkrbibliothekeii. die Bucher unentgeltlich an jedermann au-gebeu. Dadu ch wird auch der Arbeiter in die glückliche Lage versetz», die etwaigen Lücken in seiner geistige» Ausbildung auSzusüllen und sich nach de- Tage» Muhen mit geistiger Kost zu erauicken. — -Inch der Unterricht bedarf dringend einer Ergänzung. Tie Schule fördert wohl da- Denken und stärkt da- G-dachtmß, aber die Au-dildung der selbstschaffenden Phantasie kann infolge der bunten Masse deS Wissen-- 'losfcS nicht genügen^ berücksichtigt werden. Der Un- trnch: bietet dem Kinde stündlich NeucS; dadurch werten die früher gemachten Wahrnehmungen und Voistcllungen verdunkelt. DaS Kind kommt selten zur E nkihr in sich selbst, denn die Losung heißt: Nur vorwärts! Die Rahe, die zum Ausbau de» inneren Men chen unbedingt nothig ist, gewählt in vorzüglicher Weise die Puvallcciure. Hal da- Kind ein Buch, so denkt es ein und dasselbe wohl hundert mal, und stet» kommt noch etwas Neue- dazu. E» vergleicht die Hand, luden Personen mit ihm bekannten Personen. ES übertragt fremde Gegenden auf die heimathlichen Fluren. Es fühlt und empfindet fremdes Leid und fremde Freude. Da- ist ein Verarbeiten zu Fleisch und Blut. DaS Kind har die Bürgschaft für die Sicherung der Vorstellungen. Zugleich wird durch da- Lesen der Gedanken- und Erfahrung-kreiS de» Kinde- erweitert. Da- Kind wird veltiaut mit den Schönheiten der Natur und lernt die Freuden und Gin Testament. Novelle von iämma Merk. (Nachdruck verlöten.) Otto Döringer hatte zu früher Stunde in frohester Laune die kleine Stadt verlassen, in der er die Nacht zugebracht. Pfeilschnell flog er aus seinem Rad da hin auf der wohlgepfllgten Straße, von kühler Ost luft umfächel», in einem wonnigen Gefühl der Frei heit und Ungebundenheit. Wer ihm an diesem Morgen gesagt hätte, wie Lieser Tag noch enden sollte! Mit seinem leichten Gepäck und seinem auf- geschnallten Lodenmantel war er planlos von München weggefahren, hinaus in die schöne klare Herbstland- schäft. Er wollte sich einfach von der Laune des Augenblicks führen lassen; radeln, so lange es ihn, Spaß machte, sich dann im Wald auSstrecken und in Len blauen Himmel Hinaufschauen. Er wollte in Faulheit und Einsamkeit schwelgen und sich in stillen Dörfchen herumtrciben, ganz als Naturkind leben, für LaS es keine gelehrten Bücher gab, kein römisches Recht und kein neues bürgerliches Gesetzbuch und — keine Akten! Wenn man mit sechsundzwanzig Jahren wochenlang sozusagen als Gefangener im Regierung!- Gebäude gesessen hatte, um seinen StaatS-KonkurS zu machen, und seinen armen Kopf abquälen mußte mit all den spitzfindigen Fragen über verworrene Rechts fälle, dann durfte man sich wohl dieses Ausspannen, dieses Aufatmen vergönnen. Die Landschaft war ja nicht großartig und ab wechslungsreich. Aber ihm gefiel dieses verlassene flache Land mit den bräunlichen Moorwiesen, zwischen denen ab und zu eine kleine Seefläche auftauchte, mit der fernen, nur in zartem Dust angedeuteten Alpen kette. In sommerlicher Gluthitze wäre maii wohl rasch auS dieser schattenlose» Ebene geflohen. Aber nun in der milden Oktobcrsonne hatte dieser unab- sihbare Horizont, diese Lichtfülle, diese friedliche Stille einen ganz eigenartigen Reiz. Nach einer behaglichen Rast in einem kleinen Wirthsgärtchen, in dem er köstliche Forellen verspeist, war er ani Nachmittag immer weiter dahingeglitten zwischen Stoppelfeldern und Wiesen, auf denen Vieh weidete, an dunklen Wäldern und kleinen Weilern und Einödhöfen vor über, bis die immer tiefer sinkende Sonne ihm be deutete, daß er nun bald an ein Nachtquartier denken müsse, und er »ine Karte herauszog, um sich in dieser einförmigen fremden Gegend zurecht zu finden. Ec schüttelte dcn Kopf und pfiff etwas über- rascht vor sich hin. Wenn er vor einbrechender Dunkelheit noch Buchenhelm, die nächste größere Ort schaft erreichen wollte, so mußte er eifrig zutreten. Der Ostwind, der erst angenehm gefächelt hatte, blieS ihm nun immer heftiger entgegen/ Zu allem übrigen kamen kleine Terrain-Unebenheiten, die beim Rad fahren sehr hinderlich waren und die Straße wurde zusehends schlechter. Nachdem er eine Steigung überwunden, gingS ab wärts durch einen Hohlweg, wahrscheinlich waren esSand- fuhrwerke, die so tiefe Furchen cingearaben hatten, daß er mit einem ärgerlichen Ausruf sich auf» Nene ent- schließen mußte, abzuspringen und das Rad zu schieben. Aber was war das? WaS lag da hinter dem HeckenrosenstrauS mit den leuchtend rochen Hagebutten? Ein grauer Reifen, — ein Rad? Ja, wahr- hastig! — Ein Rad in kläglichster Verfassung — mit gebrochener Lenkstange. Nun eilte er, so rasch er mit der Maschine an der Hand »ur irgend konnte, den kleinen Hohlweg hinab. Ec stieß einen SchreckSenschcei auL: „Um Gottes- willen!" In dem au-getrockneten Graben, zwischen Breniesseln und Huflattichblättern lag eine reglose Gestalt. Ein Verunglückter! Ein Schwerverletzter! Und weit und breit keine Menschenseele — — Otto lehnte sein Rad an den Heckenrosenstrauch und sprang in großer Bestürzung aus den Mann zu, der ohnmächtig, über und über bestäubt, in die grün umwucherte Mulde hinabgesunken war. Als er ihm die Stirne emporhob, sah er, daß sich ein Blutstreifen über die Blätter hinzog. Jenseits deS Grabens war ein sanft ansteigender niedriger Hügel, kurzes GraS, zwischen dem Erila- büschel und Preißelberrftauden wuchsen. Tank seiner jugendlichen Kraft gelang eS Otto, den schweren Körper emporzuziehen und hier weicher und bequemer zu betten. Ein leises Stöhnen, eine zuckende Be- wegung hatten ihm verrathen, daß er noch lebte. Er war anscheinend ein Mann in den fünfziger Jahren, der den feineren Gesellschaftskreisen angehörtr; er hatte weiße, gepflegte Hände, sein staubiger Anzug war von gutem Stoff und Schnitt, wenn auch die Art, wie die Kravatte geknotet war, der ziemlich struppige graue Batt, das zu lange Haar, da- nun wirr an der Stirne klebte, eine gewisse Gleichgültigkeit gegen der artige Aeußerlichkeiten verriethen. Außer einer Ab- schürsung an der Hand, war keine Wunde bemerkbar, aus der daS Blut geflossen sein mochte. Da» aus- fallend bleiche, fast totenfahle Gesicht legte eher die Vermuthung nahe, daß der Mann, dem beim AbwärtS- fadren die Lenkstange gebrochen sein mochte, bei dem raschen unvermittelten Sturz eine innere Verletzung I erlitten hatte. An den Lippen hingen noch ein paar rvthe Tropfen. Hatte er am Ende einen Blutsturz * gehabt? Otto entd»ckte erschrocken ein noch im Graben liegende-, mit Blut benetztes Tuch. Der Verunglückte war also im ersten Moment noch bei Bewußtsein ge wesen, nur in einer liefen Erschöpfung dann zusammen- gesunken. Durfte er unter diesen Umständen von dem Cognak einflößen, den er bei sich hatte? Würden die scharfen Tropfen nicht einen Hustenreiz, am Ende einen neuen Bluterguß zur Folge haben? Er rieb ihm die Schläfen mit der belebenden Flüssigkeit und hielt ihm das mit Cognac beträufelte Tuch an die Nase. Wirklich öffneten sich auch einen Moment die Augen, — große glanzlose Augen, die schon den weiten, suchenden Blick des Sterbenden hatten. Aber gleich darauf sanken die Lider wieder herab. Otto erinnerte sich, daß er in der Nähe eine Quelle gesehen. Er eilte fon und füllte seinen Trinkbecher, netzte auch sein Tuch, um eS dem Ohnmächtigen auf die Stirne zu legen. Dabei schaute er rathloS in der fremden ein samen Gegend umher. Wa» sollte er nun beginnen? Die Sonne sank immer tiefer, bald mußte die früh« Hcrbstdämmerung hereinbrechen und er war allein mit einem Schwerkranken, dem dringende Hilfe noch that. Aber durfte er den armen Menschen denn da liegen lassen, jedem Strolch preiSgegeben, der etwa der Wege» kommen konnte ? Welch verzweifelte Trost losigkeit mußte sich seiner bemächtigen, wenn er erwachte, sich seiner Schwäche bewußt ward, und ringsum nur abendliche Schatten sah, nur ödes weites Wiesenland, in dem sein Hülfeschrei ungehött verhallte! (Fortsetzung folgt.)
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