73 Vergegenwärtigt man sich heute die deutsche Reformbe wegung um 1910, sticht vor allem die Diskrepanz zwi schen den utopischen Entwür fen und der politischen Reali tät Deutschlands ins Auge. Eigentümlicherweise war sie nur wenigen Zeitgenossen bewußt. Ein Mäßigungs wunsch liegt über dem gan zen Gelände der Reformen, ein Harmonisierungsbedürf nis, das sich auch als unter schwellige Angstreaktion auf die aggressive kaiserliche Poli tik interpretieren läßt. Der Mechanismus ist bekannt. Das seit 1871 lawinenhaft anwachsende Potential des eben erst geeinten jungen deutschen Reichs drängte Richard Riemerschmid 1955 massiv in die europäische Szene. Dort waren die Pfründe aber verteilt, und so folgte der nachgeholten Entwicklung ein hastiges nationa les Selbstbewußtsein: »Deutschland, Deutschland über alles«. Wie anders als durch Potenz gebärden und Drohungen waren - in der Optik der neuen Machtmenschen - die alten Mächte Europas in dem nun beginnenden Rüstungswettlauf zu Zugeständnissen zu bewe gen. Deutschland forderte 1897 lautstark und zackig »Platz an der Sonne«, die Annexion von Elsaß-Lothringen und der Aufbau einer Schlachtflotte setzten den populären Spruch in riskante Taten um. Das Geflecht der Beistandspakte entstand; 1905 irritierte der rus sisch-japanische Krieg, 1912 der Balkankrieg die Zivilisation. So lag lange vor 1914 eine latente Destruktion in der Luft, der große europäische Krieg. Als er dann kam, war alles Reformerische sofort von den Schwellungen des Chauvinismus blockiert. Natürlich, der Nationalstolz nahm noch ganz andere Haltungen mit sich, den Friedenswillen der Sozial demokratie zum Beispiel, doch zeigte sich nun, eine Tendenz zum Nationalismus war vie len Reformen schon früher eingeschrieben. Sie entsprang dem allgemeinen »Mangel an organisch gewachsener Identität der »verspäteten Nation««, wie das Ralph Giordano für die späte Bismarck-Zeit plausibel konstatiert (noch heute die Wurzel der deutschen Misere?). 4 ’ Das reichte vom freundlichen Stolz eines Muthesius: »Deutschland ist das Land, auf dessen Arbeit es bei der Stilentwicklung der Zukunft ankommt« zu den schon