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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.01.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-01-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18950117027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895011702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895011702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-01
- Tag1895-01-17
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Der Bundes- ratb traf seine Entschließungen ziemlich spät und zwar durch ein Compromiß, indem er der früheren Auffassung zu wider erklärte, der Redemptoristen - Orden sei mit dem Jesuitenorden nicht verwandt und deshalb seien die Be stimmungen des Jesuitenordens fernerhin auf die Congregation der Redemptoristen nicht anzuwenden. Daß mit diesem sehr bedenklichen Entgegenkommen Vas Centrum nicht befriedigt werden würde, war um so leichter vorauszusehen, je leichter sich Nachweisen läßt, daß zwischen Redemptoristen und Jesuiten die engste Verwandtschaft besteht, und je näher es den Jesuiten- freunden lag, die Aufrechteriiaitung der gegen die Jesuiten gerichteten Bestimmungen des Gesetzes als im Widerspruche zu der Wiederzulassung der Redemptoristen stehend zu bezeichnen. Dieser Widerspruch ist natürlich gestern von dem Antragsteller Grafe» Hompesch nachdrücklich betont worden und hat den verbündeten Regierungen gezeigt, daß sie mit jenem in der Aera Caprivi getroffenen Compromiß eine schiefe Ebene betreten baden. Je deutlicher dies aber dem Bundesrathe gemacht wird, um so entschiedener weigert er sich hoffentlich, sich durch einen erneuten Reichstagsbeschiuß noch weiter auf der schiefen Ebene drängen zu lassen. Daß das Centrum es wagen werde, gegen die Umsturzvorlage zu stimmen, wenn ihm die Jesuiten nicht zurückgegeben werden, ist nicht anzunebmen, denn es ist nichts leichter als der Nach weis, daß die Behauptung, die frommen Väter seien unent behrliche Werkzeuge im Kampfe gegen den Umsturz, völlig haltlos ist. Der frühere Jesuit Graf Paul von Hoens- broech hat erst kürzlich in einer Schrift über Ultramon tanismus und Socialdemokratie gezeigt, wie in dem kleri kalen Musterstaate Belgien der UltramontanismuS mit seinem Klerus und seinen Orden den Staat und die Gesellschaft vor dem Umstürze zu bewahren vermag! Er sagt u. A.: Belgien hat seit Jahrhunderten unter durch und durch katho lischem und ultramontanein Einfluß gestanden. Das Land hat heute bei über 6 Millionen Einwohnern nur 15 000 Protestanten und 3000 Juden — alles übrige sind Katholiken. Das ist con- fessionelle Einheit. Die katholische Kirche hat im Leb«« Belgiens vor und nach der Errichtung des belgischen Staates de» weitgehendsten Einfluß besessen, die größten Triumphe gefeiert und sich wiederholt ihrer Stellung gerühmt. Sie hat mit geringen Aus- nahmen das Erziehungsweien des Landes geleitet, insbesondere die Volksjchulbitdung; sie besitzt 1800 Klöster mit über 30 000 Ordenspcrsonen als Bewohnern — aus fünf Gemeinden kommen immer drei Klöster. Es giebt in Belgien Verhältnis), inäßig wenige Familien, die nicht durch ein Glied im Pfarrhanse, Seminar oder Kloster vertreten sind. Tie Klöster sind zugleich Erziehungshäuser, namentlich die weiblichen. Gegen 6000 Kirchen und Capellen mit regelmäßigem Pfarrgoltesdienst existiren, ohne die Klosterkirchen. Dieser quantitativ und qualitativ unermeßliche Einfluß strömt seit vielen Generationen auf das belgische Volk ein; nie hat ein nichtkatholisches Bekenntniß hemmend eingewirkt und das Land ist überwiegend von klerikalen Ministerien und katholischen Herrschern oder deren Stellvertretern regiert worden. Wer das Volk unterrichtet, dem gehört das Volk. Nun, bis 1879 sind alle Gemeindeschulen der Aussicht der Bischöfe unterstellt ge wesen. Wie aber sieht es mit der Socialdemokratie in Belgien ans? Die letzten Wahlen haben es gezeigt; fast ein Fünftel aller Stimmen sind für die Socialisten abgegeben worden, und man muß bedenken, daß auf der nichtsocialistischen Seite sich der- hättnißmäßig sehr viel mehr Pluralstimmen befinden, als unter den Arbeitern — bekanntlich werden in Belgien die Stimmen de» Besitzenden und Gebildeten zwei- bis dreifach gezählt. Die Ultra- montanen Helsen sich mit der Ausrede, daß der Zuwachs der socialistijchen Stimmen nicht auf ihre, sondern auf Rech- nunq der liberalen Partei erfolgt sei. Das ist theilweise richtig, aber die Behauptung, der Klerikalismus sei das sicherste Gegen mittel gegen Socialismus, Irreligiosität und Verwilderung, wird dadurch nicht weniger als absurd erwiesen. Wo kommen denn die Liberalen her, wenn die katholische Kirche der unfehlbare Arzt ist? Diese kann das Volk weder vor dem „atheisti schen Liberalismus" und noch viel weniger vor der Socialdemokratie bewahren. Im Jahre 1886 wurde eine allgemeine Rundfrage an Personen der verschiedensten Stände über die Verhältnisse der Arbeiterbevölkerung veranstaltet. Drei Viertel der Antworten erklärten, der religiöse Sinn unter den Arbeitern habe „ab- genommen", „ganz aufgehört", „der Katholicismus verschwinde mehr und mehr" und so fort. Lüttich mit 35 Klöstern und 38 Kirchen antwortet trostlos, Brüssel berichtet: „Neun Zehntel der Kinder sind illegitim. Die Unmoralität ist abscheulich." Und das Alles, obwohl die belgischen Sociaidemokraten, soweit sie überhaupt eine Schule besucht haben, aus der katholischen ultramontanen Volksschule hervorgegangen sind und im Lande jährlich weit über eine halbe Million Predigten und Katechesen gehalten werden. „Das Land, das man mit Recht das Land der Klöster und des Klerus nennen kann, ist zum Eldorado des Umsturzes geworden." Eine hier erscheinende Zeitung meint, der Reichstag habe durch Ablehnung der Besprechung der Interpellation des Abg. Di. Hasse über den Schutz der Deutschen im Auslände be kundet, daß er die Interpellation durch die Antwort des Staatö- secretairs von Marschaü für widerlegt erachte. Nach den uns vorliegenden Nachrichten ist für den Interpellanten und seine Freunde der Verzicht auf die vorher geplante Besprechung der Interpellation im Wesentlichen dadurch bedingt gewesen, daß die Zwischenrufe des Abgeordneten vr. Alexander Meyer und anderer Mitglieder de, linken Seite des Hauses die Ab sicht erkennen ließen, bei der Besprechung der Interpellation den Curs des Grafen Caprivi auf Kosten des alten CurseS des Fürsten Bismarck zu verherrlichen. Die Ausführung dieser Absicht sollte durch den Verzicht auf die Besprechung vereitelt werden. Wenn der Abgeordnete vr. Hasse die Ge legenheit seiner Interpellation benutzt hat, dem Für sten BiSmarck warme Worte des Dankes und der Verehrung zu widmen, so hat er vielleicht damit das von ihm in der Wahlbewegung gegebene Versprechen einlösen wollen, bei erster sich darbietenden Gelegenheit für den von ihm verehrten Altreichskanzler eine Lanze zu brechen. Jeden- falls sind die Ausführungen des Herrn vr. Haffe von Denen um Richter und Rickert so verstanden und demgemäß schmerz lich empfunden worden. Was die Antwort des Herrn Staals- secretairs von Marschall anbelangt, so hatte dieser ent schieden einen glücklichen Tag. Mil dem reichen Actenmaterial des Auswärtigen Amtes ausgestattet, konnte er natürlich gegen das im privaten Wege gesammelte Material manches Neue beibringen. Es war aber nickt zu billigen, daß er die von dem Abg. vr. Hasse bei Beurtbeilung der Einzelfälle gemachten einschränkenden Bemerkungen nicht berücksichtigte und so that, als habe sich sein Gegner alle Klagen der Beschwerdeführer und alle Ausführungen ver Presse bedingungslos zu eigen gemacht. Wer die Rede des Herrn v. Marschall würdigen will, muß den Wortlaut der Rede des Abg. Hasse daneben Hallen. Uebrigenö hat der Staatssecretair seinerseits eine ganze Reibe von Ein räum ungen gemacht, die mit den Auslassungen und Ableugnungen der osficiellen und ofsiciösen Presse der letzten Monate im Widerspruch sieben. Vor Allem aber hat er den Gesandten Peyer vollständig fallen lassen. Dem Vernehmen nach wird Herr Peyer durch seinen Aen den auch vom Abgeordneten Haffe As A« ^ ^ früheren Gesandten Deutschlands ,n Central Amer ^„„st von Bergen, ersetzt werden. Auch andere sur o.e gemachte Zusicherungen gingen wett über ahnl.che^^ b^. gegenüber halte sich Herr I)r Hasse mtt aller Vorstckl ge äußert. Es ist nichts natürlicher, als daß diev^unbe ein selbstbewußten Nationalpolitik bet ihren Bewilligungen sir M-Z-zw-ck- sich u. Ä. -.durch >-5» w--d WZ B -, w -» ° un « u»d L-rwe-Ihung °m, d-r d -siar-'M-» erwartet werben darf. In Summa: Die peuai on Hasse hat nach beiden Seiten hin die Sachlage d^.^t ?uf beiden Seiten -in im Wesentlichen befriedigendes Ergebniß gehabt. Was hat den Präsidenten der französischen Ne publik, Casimir-Perier, zu dem überraschenden, em pol, isches Cbaos sondergleichen entfesselnden Schritte der Dem, bewoacn? Diese Frage beickaftigt heute die gesammte Hresie der civilisirten Welt, und nach den bis letzt vorliegenden Drahtmeldungen gebt das Unheil im Allgemeinen, abgesehen von divergirenden Ansichten nn Einzelnen, dahin, 8- im letzten Grunde wir schon gestern andeuteten Ca i mr Perier sich deshalb der höchsten Wurde der Republik wieder entkleidet habe, weil »hm die Entwickelung der Parteiverhältnisse Frankreichs an einem Puncte an- aelanat zu sein scheint, wo die alte gemäßigt republikanische Mehrheit der Kammer »nd des Senates im Begriff ist. zu zerfallen und d,e Führung defint.v an den revolutionairen Radikalismus und anarchistischen SocialiSmus abzutreten, vor dessen mit großer Actionskrafl fort und fort inscenirten Anstürmen sie allmählich bis zur Fahnenflucht erlahmt ist. Als Dupuy, der vom Radikalismus gestürzte Kammerpräsident, am Dienstag vor den Präsidenten der Republik mit dem auf Grund der Praxis eines Vrerteliahr- hundertS selbstverständlichen Vorschläge trat, ein Cabinet aus der obsiegenden Partei, d. b. ein radikales Cablnet Brisson oder was schließlich dasselbe ist, ein Concentratwns- Ministerium Bourgeois zu bilden, zog er sofort die letzte Colisequenz der Entwickelung, die auf einen der radikalen Partei angebörenden Präsidenten der Republik hmtreibt, und demissionirte. Ob es notbwendig war, diese letzte Conse- auenz zu ziehen, mag bezweifelt werden, jedenfalls lebrt bas Triumpbgeschrei der radikalen und socialistischen Presse und die Thatsache, daß Brisson neben Waldeck-Rousseau in erster Linie als Präsidentschaftskandidat gilt und in der Depu- tirtenkammer nicht blos, sondern auch im Senat vorzügliche Chancen bat, daß das von Casimir-Perier gezogene uacit kein willkürliches ist und daß die Entscheidung für Frankreich tbatsächlich auf des Messers Schneide steht. Die Situation ist heute viel ernster, als im Juni v. I. nach der Ermordung Carnot'S. Nur ein Entweder- Over scheint es noch zu geben: entweder die eontruclietio in ackjecto einer radical-revolutionairen Präsident schaft oder ein Präsident, der die ihm verfassungsmäßig zu stehende und noch zu erweiternde Gewalt thatsäch- lich ausübt, was wieder den Ausbruch der Revolution bedeutet, wenn der aemäßiate Republikanismus ni^'» auf seine historische Ausgabe besinnt, die fundamentale Stütze des Staatsoberhauptes zu sein. An einen solchen Um- ckwung der Gesinnung aber glaubt Casimir-Perier an- cheinend nicht mehr, sonst hätte er nicht demissionirtf; denn wenn einer, so war er der Mann dazu, nicht flos zu repräsentiren, sondern auch zu regieren. Die Verfassung gab ihm dazu veschiedene Mittel an die Hand — um nur einige zu nennen das Recht des Veto gegen Gesetze, um deren nochmalige Berathung zu veranlassen, Ernennung der Minister, Berufung und Vertagung des Parlaments, Auflösung der Deputirtenkammer mit Zu- timmung des Senats n. s. w. — aber einmal schienen sie ihm, und zwar mit Recht, nicht genügend um die Stellung des Präsi denten gegen den Ansturm der subversiven Elemente völlig zu festigen, und dann — was konnten ihm alle Rechte nützen, wenn er nicht einer Partei sicher war, die ihm die Aus übung derselben garantirte! Nicht gekränkter Ehrgeiz, nickt persönlicher Ekel vor den schmutzigen Händen, die ihn und seine ganze Familie fortwährend antasteten, ja selbst den Ruf seiner Vorfahren besudelten, war es in erster Linie, was Casimir-Perier zur Demission veranlaßte, sondern die Verzweiflung an der weiteren Lebensfähigkeit der bisberign Regierungspartei. Ihr hat er in seinem Demissionsschreiben an Senat und Kammer ein geradezu vernichtendes Spiegelbild vorgehalten; kein Wunder, wenn ihre Organe ihm mit kläglicher Einmüthigkeit feige „Desertion" vorwerfen, wenn sie beleidigt tbun und ihn, dem sie vor einem halben Jahre die Präsident schaft förmlich aufzwangen, jetzt als den Schwäch ling, in dem sie sich getäuscht, fallen lassen. Kein Mensch in Paris redet beute mehr von einer Wiederwahl Perier'S; darin liegt ein schlimmes Proanostikon für die Zukunft Frankreichs, das abermals sich selbst täuscht, das bei einer Entscheidung von unabsehbarer Tragweite sich abermals nicht zur Selbsterkenntnis aufzuraffen vermag, das politisch und moralisch bankerott ist. Ob Casimir-Perier aus seine Wiederwahl, auf ein überwältigendes Ver trauensvotum gerechnet hat? Wir glauben nicht, denn er hat sich zweifellos gesagt, daß der Druck, den er auf diese Weise geübt und der möglicherweise zu seiner Wieder berufung geführt häkle, keine drei Kammersitzungen würde vorgehalten haben. Ob Casimir-Perier weiter schaut, ob er die letzte Consequenz des modernen Republikanismus, die Anarchie, abwarten will, um dann als der Retter Frankreichs zu erscheinen oder sich rufen zu lassen? Es fehlt ihm dazu weder an Ehrgeiz, noch an Vaterlands liebe. Dann aber käme er sicher nicht als Präsident der Republik zurück. Zwar läßt er in seiner Botschaft keinen Zweifel darüber, daß er eine von den Mitteln der Aktion und der Controle nickt entblößte Präsidentschaft er strebt, aber eine solche ist denn doch etwas ganz anderes als das, was der Franzose seit den Tagen der letzten Revolution unter der Präsidentschaft der Republik versteht. Noch eine andere Frage drängt sich auf: Kann nicht jetzt schon jeder Augenblick die Kaiastropbe bringen, ist Frankreich nicht heute schon reif für den Staatsstreich? Es war schon lange reif, aber — es ist kein Boulanger da! General Mercier läßt Stimmung für sick machen, aber Niemand nimmt ihn ernst, der Herzog von Orleans steht in Dover auf dem qui vive, um die Er eignisse in Frankreich abznwarten, aber er wird sicherlich so lange warten, bis es zu spät für ihn ist. Der Diktator fehlt, aber er kann sebr bald kommen, wenn es nicht ge lingt, den Strom der Alles bedrohenden social-anarchistischen Bewegung znrückzudämmen. Wir glauben an dieses Wunder ebensowenig wie Casimir-Perier. FeuiUetsir. Graf Jarl. 14> Roman von Hermann Helberg. Nachdruck verboten. lFortsehung.) Er hätte gewünscht, sie hätte diese Zusammenkunft nicht von ihm verlangt. Aber ihr ihre Bitte abzuschlagen, lag weder in seiner Art, sich Menschen zu entziehen, wenn sie seiner bedurften, noch in seiner Kraft. Einen Einblick in ihr Inneres zu gewinnen» reizte ihn auch. — Einmal kam ihm der Gedanke an sein neues Dasein und Leben. Er erinnerte sich der Bedenken, die Gunda von Kalte und seine Schwester geltend gemacht batten. Aber dann lachte er doch wieder mit seinem erhabenen Lächeln. Mit Teffa'S Schicksal batte es ja nichts zu thun, und mit der Gestaltung der Verhält nisse im Campe'scken Hause fast nichts. Fast nichts! Aber doch etwas! — Er sann von Neuem nach. Endlich suckte er sein Lager auf. — Die Sonne war eben aufgegangen. Die letzten flamingo- rothen Farben, durch die sie seit Stunden ihr Kommen an gekündigt hatte, waren am Horizont verschwunden, und nun weckte sie wie mit einem Zauberschlag das Lebendige und verlieh auch den todten oder scheinbar todten Dingen ein pulsirendes Dasein. Ein srisch-sanster Morgenwind half's fördern. In den Blättern begann'S zu zittern und wispern. Drunten raschelte ein Gethier. Die Quellen zeigten ihr silbernes Angesicht. Auf dem Smaragd der Wiesen funkelten die Thantropfe», in den Gebüsche» der Wälle zirpten die ersten Vögel. Die Luft war voll Lerchenschlag und Sonnen schein, und ein breiter Glanz lag bereits über den Feldern und half dem dort vertheilten quarzigen Gestein seine glitzern den Flächen zeigen. Oberhalb des Waldes, am Ausgang des Pfades, der vom See durch die Buchen führte, befand sich rin Hügel, auf dem mächtige Bäume standen, Wahrzeichen für die Gegend, Wahr zeichen der Grafschaft Horst. Hier saß um diese früheste Stunde ein Weib und starrte in die Gegend. Zuletzt stand es auf, streckte die Arme ver langend aus und blieb so stehen in Verzückung und Schmerz zugleich. „Alles haben, zu viel wollen! O Gott, schaffe mir eine ruhige, reine Seele!" So betete sie hier zu dem Höchsten. Während sie das sprach, glaubte sie sich allein, und doch verfolgte sie Jemand mit seinen Blicken. Dasselbe, was sie aus dem Schlaf geweckt und ins Freie getrieben, daS batte auch Graf Adam in die Natur hinaus geführt. Seit einer kleinen Stunde war er bereits unterwegs, und als er nun in dieser Richtung ins Sckloß zurückkehren wollte, sah er, aus dem Walde tretend, die hohe Gestalt auf dem Hügel. Er erkannte Teffa, näherte sich behutsam dem Abhang, ohne daß sie ibn bemerkte, und vernabm ihre Worte. Aber er störte sie nicht. Ebenso unhörbar, wie er gekommen, trat er wieder ins Waldgehege und schritt langsam seinen, Ziele zu. „Alles haben, zu viel wollen! O Gott, schaffe mir eine ruhige reine Seele!" tönte in seinen Ohren. Wunberberrlich war sie ihm erschienen. Ein weißes Morgen kleid umhüllte ihre, unter einem offenen langen, bellen Mantel hervorschimmernden, junonischen Glieder. Das schwarze Haupt war entblößt, als ob sie der Kühlung bedürfe, und ibre Auge», dem Osten zugewendet, halten in einem seltsamen Feuer geglüht Zu eng die Welt! Eine heiße Seele unbefriedigt, obschon sie ihr Wort an einen Mann verpfändet hatte. — Nach zehn Ubr, zu der verabredeten Zeit, fand sich Graf Adam an dem See ein. Vordem batte er auf Meldung von Peter Hunck daS junge Paar begrüßt, sich abermals an "Nelly's Frische und Sckönbeit erfreut und Thomas Jung Anweisungen über seine Obliegenbeiten ertbeitt. Nachdem er dann auch noch Frau Mochow die Hand ge schüttelt und ihr Froblocken darüber gebört hatte, der kalt herzigen Stadt entronnen zu sein, war er langsam auf gebrochen. Testa saß an demselben Platz, an dem Graf Jarl sie beim ersten Male gefunden. Ihre Gesichtsfarbe batte etwas lleber- nächtigeS, die Augen saben düster, krank aus, und erst bei Graf Adam'S gütigen, leichtgegebenen Worten bellten sich ihre Gesichtszüge auf. „Vorerst eines! Damit ick es nicht vergesse und instruirt bin WaS haben Sie der besonnenen Frau Betly gesagt, wohin Sie sich begeben würden?" „Ich habe, um Allem au- dem Wege zu gehen, den See genannt. Hier konnten Sie mich zufällig getroffen haben", erklärte Tessa mit einem Anflug von Verlegenheit. „Und was meinte sie?" „Sie stimmte zu, ermahnte mich aber — es ist das vierte Mal in dieser Woche — an Eduard zu schreiben." „Unterließen Sie denn das?" Jarl sprach's ohne besonderen Grund, unwillkürlich drängte sich ibm die Frage infolge des Gesprächs auf. Tessa aber zauderte, dann sagte sie, mit einem eigenthüm- lichen kalt trotzigen Blick: »Ja!" Tessa!" siel Jarl, des letzten Satzes Eindruck übersehend, „Wir wollen einen anderen Plauderort aufsuchen. Heu können wir den uns neulich verwehrten Thurm besehen. I übernehme die Verantwortung. Sie dürfen sich —" schloß l zart — „ruhig unter meinen Schutz stellen —" „Ich wüßte keinen besseren!" gab sie stark betonend zurm Er sab sie an. Feuer sprangen in ibm auf. Sie hat etwas, das ihn fortriß. Aber er beberrsckte sich, kein Zucke der Muskeln verrieth ihn, — dann durschschritten sie wortlc das Gehölz. . Der Weg ging, nachdem sie das Revier verlassen, ein mtt Obstbäumen besetzte, blühende Chaussee entlang. Vo hier zweigte sich, nach einem Weiterschreiten von zehn Minute, ein Weg in einen anderen, auf der entgegengesetzten Seil liegenden, in den sogenannten Thurmwald ab. Etwas Herrlicheres konnte man sick nicht denken, als dies« Gehölz, das neben prachtvollem älteren Baumbestand Ubera Lichtungen mit Neupslanzungen aufwies, und dadurch der ve schwencerisch glänzenden Sonne den Eintritt ermöglich! Bald sckritten sie auf besckatteten, fast dunklen Pfaden ba wandten sie sich e.nen näheren Weg nun Ziele wäblenv.'dur jung- Eichen Buche»- und Tannen-Anpstanzungen, die bi, !dum "" Wach das G-b-I, durchschn-idmd m " sommerte seitab zwischen dem La> macktiger Buchen, ein hoher Thurm bervvr. n - traten sie auf einen freien Platz, auf dessen Mil sich da« m rothem Feldgestein aufgefübrte, runde, mit viel vergttterten Fenstern versebene alte Gemäuer erhob n , unter neckische», Hinweis aus gcist, Zunächst befanden sie sich in einem runden Raume mit steifen Möbeln und Bildern. Dann stiegen sie eine Wendel treppe hinauf, besichtigten in den oberen Etagen altmodische Miniatursäle und ein Theezimmer, dessen Fußboden schach brettartig so gemalt war, daß die einem großen Wandspiegel zustrebenden schwarz-weißen Vierecke sich stetig verkleinerten. Tessa mußte durchs Schlüsselloch hineingucken und da schien es, als habe das Gemach eine ungcmessen tiefe Raum- ausdehiiung. Aber auch noch andere Spielereien und Nach ahmungen alter Zeit fanden sich vor. Auf dem Vorslur der dritten Etage zeigte Graf Jarl eine geheime Thür. Eine versteckte Treppe fübrle hinauf und hinab. Zuletzt stiegen sie oben auf die Plattform, wo sich ein un beschreiblich schöner Anblick bot. Zwei fcklanke Buchen streckten ihre Kronen so hoch empor, daß man ihre sanft schwankenden Wipfel zu faffen vermochte. Es knarrte in ihren stolzen, biegsamen Körpern, als ein flüchtiger West sie bewegte, llnv Schwindel wollte Tessa ergreifen, als sie, sich über die Brüstung lehnend, hinabschaute. So winzig erschien Jegliches drunten, aber so majestätisch strebten die vollbelaubten, älteren Riesen empor! Nun wandten sie den Blick über die Baumkronen hinweg in die Gegend. In prangend-sonniger Fülle lag die Welt. Eine reiche Land schaft mit herrlichen, smaragdnen Wiesen und dunklen Acker streifen, niedlichen Dörfern, spitzen, grauen Kirchthürmen, dicht belaubten Wäldern, Auen und kleinen, anmutdig durch das Grün sich windenden, metallschimmernden Flüssen. Und überall Landstraßen und Chausseen, bald bellleuchtend, als sei's Kreibegrund, bald dunklere Streifen, spielschachtelartig besetzt mit Tamienbäumchen oder geradlinig sich aufricktenben Pappeln. Unwillkürlich drängten sich über Teffa'S Lippen Laute des Entzückens, aber auch ein schmerzliches Gefühl stieg in ihr auf» dem sie Ausdruck verlieb. „Und das Alles zu missen, wird Ihnen nicht schwer, Herr Graf?" hob sie an und forschte in seinen lebhaften, fast schwärmerisch angehauchten Zügen. „Verknüpft sich nicht mit der Liebe zur Heimath auch die Liebe zum Besitz auf beimathlicher Erde? Ich denke mir, ick müßte weinen »»d könnte mich nie wieder trösten, wenn ich ein solches Juwel Herzchen sollte. Nicht wahr, Alles, was wir seben, gehört zu der Grafschaft? In der Thal ein fürst liches Land und Eigenthum. Jetzt erst begreife ich auch meiner Schwiegereltern ungebeuere Erregung. Sie können sich nicht beruhigen, daß es wirklich Wahrheit ist!"
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