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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.05.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-05-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980505016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898050501
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898050501
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
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Für das Anwachsen der Verbrecherwelt macht der Ver fasser, vr. Heinrich Seyfarth, das enorme Wachsthum der Großstädte verantwortlich. Berlin ist in fünf Jahren um 300 000 Einwohner gewachsen, nimmt also jährlich um so viel Menschen zu, als Städte wie Lübeck oder Frankfurt a. O. überhaupt Einwohner haben. Es giebt Fabrikvororte Dresdens, die jährlich um 98 A, Einwohner wachsen. Bedenkt man, daß unter den Zuziehendcn die größte Mehrzahl der Arbeiterclasse angehört, die zum Theil nur durch die Genüsse und Ver gnügungen der Großstadt angelockt wird, so wird man es begreiflich finden, daß auch die Verbrechen in solchen Orten sich mehren. Der Strafanstaltsdirector Roßmy hat festgestellt, daß von 6508 Verurtheilten, die vom Juni 1887 bis 1896 in dem seiner Leitung unterstellten Männergefängniß Hoheneck i. Sachsen zur Strafverbüßung ein geliefert wurden, 926 Knechte waren. Das Leben auf dem Lande war ihnen zu eintönig geworden und so hatten sie sich nach großen Städten gewandt, um die hier gebotenen Freuden in vollen Zügen zu genießen. Wo viele Menschen dicht gedrängt bei einander wohnen, da wird naturgemäß die Rechtsordnung immer mehr und öfter verletzt werden, als in Gegenden mit niedriger Bevölkerungs ziffer. Gleichwohl ist es das Motiv der Noth noch am seltensten, das die Menschen in die Gefängnisse führt. Auch das Motiv der Rache ist nicht allzu häufig, am meisten treiben die ganz individuellen Motive der Arbeitsscheu, Habsucht, Rohheit, Ver gnügungssucht, Verführung und lagt brtt not least die Trunk sucht die Menschen zum Verbrechen. Ihr aber wird in den Großstäden, wie Jedermann weiß, in besonderem Grade durch die vielen günstigen Gelegenheiten Vorschub geleistet. Durch statistische Ermittelungen, meint Seyfarth, ist nach gewiesen, daß beinahe 70 aller Verbrechen durch Alkoholgenuß bedingt sind, und im Einzelnen hat sich ergeben, daß von Mord- thaten 46 von Todtschlägen 63 von Raub 68 A>, von Körperverletzung und Sittlichkeitsverbrechen je 74 auf Folgen von Trunksucht zurückzuführen sind. Eine statistische Unter suchung hat ferner festgcstellt, daß der Alkoholgenuß jährlich 32 000 deutsche Menschen ins Arbeitshaus bringt. Infolge übermäßigen Branntweintrinkens enden jährlich 1600 als Selbst mörder, 30 000 als Wahnsinnige und 150 000 betreten den Ver *) Leipzig, Verlag von Fr. Richter. brecherweg. Im Jahre 1891 wurden in Deutschland allein in folge von Branntlvrintrinkens 122 Menschen wegen Mordes und Todtschlags, 225 wegen Brandstiftung, 3000 wegen Sittlichkeits verbrechen und 40 000 wegen Körperverletzung bestraft. So verschiedenartig wie die Verbrechen und ihre Motive, so verschieden sind auch die Charaktere der Gefangenen und die Art, wie sie ihre Strafe tragen. Daher ist auch die Wahl der Strafmittel eine überaus schwere, da sie die Individualität des Verbrechers berücksichtigen muß. Darin wird Jeder dem Ver fasser beistimmen, daß die Strafe nicht nur der Sicherung der Rechtsordnung dienen, sondern auch einen Läuterungsproceß für den Verbrecher bilden soll. Es muß ihr auch ein pädagogischer Zweck innewohnen, wenn sie ihren Beruf erfüllen soll. Besserung und Abschreckung müssen Hand in Hand gehen. Der Verfasser meint nun, daß der jetzt übliche Strafvollzug, der auf Besserung abzielt, bei erstmaligen Verbrechern völlig berechtigt sei, dagegen bei rückfälligen Gewohnheitsverbrechern und solchen, die das Anstaltsleben gern haben, niemals zu dem erhofften Ziele führe, wie die Ueberfüllung aller Zuchthäuser mit Rückfälligen zur Evidenz beweise. Es kann in der That nicht geleugnet werden, daß bei vielen entlassenen Verbrechern ein „Heimweh nach dem Zuchthause" entsteht, das sie als eine angenehme Ver sorgungsanstalt betrachten. Seyfarth will deshalb, wie Mittel- städt in seinem vielbesprochenen Buche „Gegen die Freiheits strafen", die langjährigen Freiheitsstrafen beseitigt und die „Abschreckung" in den Strafanstalten mehr betont wissen. Er weist darauf hin, daß die langen Freiheitsstrafen oben drein Körper und Geist der Delinquenten systematisch ruiniren. Es ist statistisch nachgewiesen, daß ungefähr 5 <A> der Detinirten erkrankten, während selbst bei der anstrengendsten freien Arbeit, als welche in der Regel die Knappschaftsarbeit betrachtet wird, der Procentsatz der Erkrankungen nur 2ß beträgt. Im Zuchthaus Waldheim ist festgestellt worden, daß im Zeitraum von 15 Jahren nur 16 von allen den Gefangenen, die völlig intact ein geliefert waren, ganz gesund geblieben sind und daß mit der Länge der Haft die Krankheitsdisposition stetig zunimmt.. Aber auch Schlaffheit und Gleichgiltigkeit erzeugt eine lange Freiheits strafe. Das sittliche Wiederaufleben des Gefangenen wird da durch illusorisch gemacht. Der Mensch vegetirt nur noch und wenn er endlich wieder in die Freiheit gestoßen wird, dann ist er wie ein flügellahmer Vogel . . . eine Last für sich und die Welt! Von den Vorschlägen, welche Mittelstadt zum Ersatz der langen Freiheitsstrafen macht, Prügel, Hunger, Geldbuße und Deportation, greift Seyfarth nur die letztere in einer längeren Ausführung auf. Wir stehen der Deportation der Verbrecher nach unseren überseeischen Colonien nicht sympathisch gegenüber. Die Sache ist jedoch wichtig genug, um bei neuen Kundgebungen auch neuerdings erwogen zu werden. Wir schicken dabei voraus, daß auch Seyfarth unsere Bedenken gegen die Deportation nicht hat entkräften können. Seyfarth denkt, wie vor ihm schon Andere, an eine De portation nach Südwestafrika, dessen Klima zwar ein sehr ge sundes, dessen Boden aber unfruchtbar sei, weil großer Wasser mangel herrsche und keiner der vom Gebirge herabströmenden Flüsse die Trockenzeit überdauere. Wenn es gelänge, sagt Sey farth, durch ein gut angelegtes Berieselungssystem die Frucht barkeit des Bodens zu erhöhen, so wäre hier eine Möglichkeit geschaffen, für den Strom der deutschen Auswanderung ein Ziel zu bieten, deutschen Unternehmungsgeist, deutsches Capital und deutschen Gewerbefleiß dem Mutterlande zu erhalten und allen den Schäden, welche aus der Uebervölkerung unseres Vaterlandes erwachsen, erfolgreich entgegcnzutreten. Denn es ist keine Frage, daß eine solche Uebervölkerung vorhanden ist. Der Geburts überschuß beträgt im deutschen Reiche jährlich 600 000 Köpfe und wir geben durchschnittlich in zehn Jahren eine Million Menschen durch Auswanderung ab, und diese Million Deutsch« ist dem deutschen Volksthum verloren, weil sie in fremden Völkern aufgeht und namentlich in den Vereinigten Staaten eine dauernde Heimath findet. Diesen Strom der Aus wanderung gilt es nach Südwestafrika zu leiten, und daher muß dieses Land vorher durch Culturarbeiten für Ansiedelungen ge eignet gemacht werden. Das soll durch Pie Zwangsarbeit der De- portirten geschehen. Für diese Idee sind schon früher der Contreadmiral Werner, der Universitätsprofessor I)r. Frank in Gießen und vor Allem Prof. Or. Bruck in Breslau eingetreten. Bruck hat ja gleich einen vollständigen Gesetzentwurf publicirt. Die Deportations strafe soll darnach verhängt werden können in Fällen, in denen das Strafgesetzbuch Zuchthausstrafe androht, bei wiederholter Verurtheilung zu Gefängnißstrafe wegen schwerer Körper verletzung, Diebstahls, Unterschlagung, Betrugs, Erpressung und Hehlerei, sowie bei wiederholter Verurtheilung wegen Arbeits scheu, Landstreicherei und Bettelns. Die Deportationsstrafe soll durch das Reich vollstreckt werden, und sich auf Personen unter 16 Jahren und über 60 Jahre nicht beziehen. Die deportirten Sträflinge sollen auf Reichsstraffarmen untergebracht werden. Nach drei Jahren sollen sie entlassen werden und sich selbst auf einem von freien Ansiedlern getrennten Gebiet ansiedeln dürfen. Auch weibliche Verbrecher sollen deportirt werden. Die Ehe zwischen ihnen und männlichen Deportirten soll zugelassen werden. Seyfarth meint, daß bei einer solchen Deportation endlich die ungezählten Millionen, die das Reich zur Zeit in einem ver geblichen Kampfe gegen das Verbrecherthum auf die Errichtung neuer, bez. auf die Umbauung alter Strafanstalten ausgiebt, zum größten Nutzen des deutschen Vaterlandes zur Erschließung seiner capitalsbedürftigen Colonien verwendet werden könnten. Dem ist aber doch entgegenzuhalten, daß unsere Colonien nie emporblühen werden, wenn sie zu Deportationsplätzen gemacht werden. Sie werden im Gegentheil durch die von den Depor tirten obstammende degenerirte Rasse selbst degenerirt werden. Frankreich und England haben mit ihren Deportationen ent schiedene Mißerfolge gehabt. Die blühenden Colonien in Neu- Süd-Wales und Vandiemensland sind durch die Deportationen vollständig demoralisirt worden. Die Deportationen Rußlands nach Sibirien aber sind längst ein Schandfleck für die Civilisa- tion in Rußland geworden. Und welchen Eindruck soll der Verkehr mit den Deportirten auf die Eingeborenen machen? An eine gänzliche Jsolirung ist doch nur auf dem Papier zu denken. Mit Recht wird von den Missionaren hervorgehoben, daß es unverantwortlich wäre, die Eingeborenen, die man civilisiren und zum Christenthum bekehren will, durch Ueberfluthung von bestraften und verdorbenen Elementen zu vergiften. So verdienstlich also auch die Untersuchungen Seyfarth's sind, so sehr auch wir davon überzeugt sind, daß eine Reform des Strafvollzuges am Platze ist, um den Kampf gegen das Ver brecherthum erfolgreicher führen zu können, — in der Deportation können wir das Heil nicht erblicken! Der Delegirtentag der nationalliberaleu Partei hat wohl bei allen Theilnehmern ausnahmlos da» Gefühl hinterlassen, daß er die auf ibn gesetzten Erwartungen in vollem Maße erfüllt habe. Aus» Neue bat er Zeugniß vor dem Lande abgelegt, daß die Partei entschlossen und stark genug ist, ihren nationalen und liberalen Ausgaben sich mit Erfolg zu widmen und im wirthschaftlichen Streit, unter Beisetteschiebung aller extremen Tendenzen, die Gegensätze auszugleichen und berechtigte gewerbliche Interessen zu pflegen. Weiter hat der Parteitag bekundet, daß die Lücken nicht offen bleiben, wenn von den bisherigen Borkämpfern deS liberalen Bürgerthum» nun die Ersten im Hinblick auf ibre bobcn Tage sich von dem Kampfplatz« zurückziehen, auf dem sie fünfzig Jahre in Ehren gestanden. Sodann bat der Tag, der jo rege aus allen Theilen des Reiches beschickt war, wie kein zweiter, und auf welchem unter vem Druck gemeinsamer UeberzeuHung auch das persönliche Zusammengehörigkeitsgefühl so lebendig Ausdruck gefunden, der nationalliberaleu Partei die Gewähr gegeben, daß treue Erben der Ueberzeugungstreue und des Pflichtgefühls der scheidenden Führer bereit sind, in die Bresche zu treten. DaS ist daS Facit deS Delegirtentages, das mebr als 300 Delegirte, unter ihnen die meisten Mitglieder der national liberalen Fractionen des Reichstags und der Einzellandtage, sowie viele der neu ausgestellten ReichStagscandidaten, heim wärts nehmen. Wie nüchtern und objectiv es daS Gesammt- ergebniß der beiden Tage wiedergicbt, wird sich aus dem stenographischen Berichte noch genauer ergeben, der in kürzester Frist der Oeffentlichkeit übergeben wird und auf den wir um so mehr verweisen, als eine summarische Berichterstattung nur in geringem Maße der sich drängenden Fülle der Ein- Feuilletsn. Der Dichter des Schlachtfeldes. Zum hundertsten Geburtstage Tchcrenbcrg S am 5. Mai 18W Von Hermann Pilz. Theodor Fontane hat in einem interessanten Buche Uber das literarische Berlin von 1840 bis 1860 einen Dichter in den Mittelpunct des literarischen Lebens in der damaligen preußischen Residenz gestellt, der, nach jahrelangem dichterischen Wirten in der Stille, plötzlich von der Kritik auf den Schild gehoben und feierlich als ein Genie von Gottes Gnaden proclamirt wurde. Es war dies Christian Friedrich Scherenberg, der Dichter des „Waterloo", der am 5. Mai 1798 in Stettin geboren wurde und sich, „der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe", dekn Kauf mannsberuf gewidmet hatte. Scherenberg hat, seinen eigenen Mittheilungen zufolge, seine ersten Gedichte als Kaufmanns lehrling auf DUtenpapier verbrochen. Als einmal eine solche llnglüclsdüte versehentlich mit in die Kundschaft kam, wurden die lyrischen Sünden des poetischen Handlungslehrlings entdeckt, und obwohl es ganz annehmbare Verse gewesen sein sollen, die dem prosaischen DUtenpapier anvertraut worden waren, wurde er ernstlich gewarnt, sich hinfllro nicht mit Jamben und Trochäen, sondern lediglich mit Heringen, Rosinen und anderen „gangbareren Artikeln" zu befassen. Aber er blieb in der Stille der Muse treu. Da seine Eltern gänzlich unbemittelt waren, mußte er in seinem eigenen Erwerb die Mittel zu seiner geistigen Fort bildung finden, und mit Standhaftigkeit trug er alle Ent behrungen und Kümmernisse des Lebens, um sich nach Geschäfts schluß in den Wissenschaften fortbilden zu können. So war er Autodidact, wie so mancher andere deutsche Dichter, der noth- gedrungcn dem Merkur opfern mußte. Scherenberg's Lebens schicksale besserten sich, als er von Stettin nach Berlin als Handlungsdiener übergesiedclt war. Er sand hier anregenderen Verkehr, und wenn er die Woche über im Laden für den Absatz materieller Güter Sorge getragen hatte, so widmete er den Sonntag dafür ganz seinen poetischen Arbeiten. In Jour nalen und Almanachen erschienen lyrische und epische Gedichte aus seiner Feder, die später auch gesammelt herausgegeben wurden. („Vermischte Gedichte", Berlin 1845.) Den Gedichten haftet etwas Eckiges und Schwerfälliges in der Sprache an, aber es prägte sich in ihnen schon die Originalität aus, welche den großen Schlachtengemälden des Dichters später schnell An erkennung verschaffen sollte. Eine wohlthuende Frische zeichnet den Lyriker Scherenberg aus. Die Stimmung ist stets wahr und natürlich. Der Inhalt erhebt sich meist weit über die Form. Den Ton volksthümlicher Poesie trifft er so glücklich, weil er selbst nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt ist, und allen ungesunden Ideen den Eingang in seine Geisteswelt versperrt. In dieser Beziehung verdient „Der güldne Ring" hervorgehoben zu werden, eine reizende, humoristische und doch so ernste Lob preisung des deutschen Handwerks. Handwerksgesellen kommen an eine Herberge. Jeder will zuerst Einlaß haben. Der Her bergsvater fordert sie auf, Einer nach dem Anderen, je nach dem Range deS Handwerk», da» sie vertreten, hereinzuspazieren. Nun will erst recht ein Jeder der Erste sein. Ter Schuster spricht: „Wenn ich nicht wär'. Wo kämen Stiefeln zum Wandern her?" „Vom Leder", siel der Gerber «in. „Nein, von der Haut", schlug Metzger drein. „Was Stiesel, backe ich kein Brod, So seid Ihr auch in Stiefeln todt." „Und mahl' ich nicht, so bäckst Du Stroh, Tann, mein' ich, wär' es auch noch so." „Und schmied' ich keinen Pslug, So mahlt der Mittler Wind, dann find wir just so klug,« „Klug hin, klug her —, der Maurer mutz voraus, Wo wär' die Herberg' hier, bau' ich kein Haus.« „Pah! Ohne Schlüssel bau' ich erst' und letztes Haus!" Fuhr, wie sein Hobelspan der Schreiner raus. „Und, Bruder, hast Dein letztes fertig Du, Tann komm' ich, Nagelschmied, und schließe zu." Allein, ganz fix, nähnadelsein, Bügelt der Schneider hinterdrein: „Ist, Leut' begraben eine Kunst? Nein, Leute machen, das ist eine." „Du machst doch keine, kleiner Schneider?" „Nein, ich nicht, aber mein« Kleider!" So streiten sie fort. Schließlich aber legt sich der Herbergs vater ins Mittel, hebt Thür sammt Angel aus und läßt sie zugleich herein: „So wahr mein Haus hier steht in Gottes Hand, Und ist zum güldnen Ringe zubenannt, So sollet Ihr herein mitsammen wandern, Habt Ihr doch Werth erst einer durch den andern. Denn alle Gilden sind ein güldner Kranz, Drin jedes Blatt hat seinen Werth und Glanz. Jedwedes Reis, wo es auch Platz genommen, Zum güldnen Ringe ist es gleich willkommen, Drum kommt nur alle Mann zugleich herein, Soll keiner erster oder letzter sein!» Trotzdem haben sich nur wenige Gedichte Scherenberg's in der Erinnerung deS Volkes erhalten. Dahin gehören z. B. „Der Feind": „Der Adler lauscht auf seinem Horst; Der Keiler rauscht ,ur Kesselforst, DaS KStzletn klinkt am Ast sich fest; Der Wolf, er hinkt zum Felsennest: Tas Damwild streicht zum Dickicht ein: Der Fuchs still schleicht zum Bau hinein; Aufstutzt, hin flitzt das scheue Reh; Die Lössel spitzt der Has' im Klee; Tie Ente duckt im düster» Rohr: Tas Fischlein guckt nicht mehr hervor; Und Alle? schweigt im Hinterhalt: Ter Menschsich zeigt, geht durch den Wald!» Die kurzathmigen Verse charakterisier» hier trefflich di« Situation. Von den verschiedenen Seebildern und Fischer liedern, die er in den wenigen, ihm beschiedenen Mußestunden am rauschenden Strande der Ostsee dichtete, sei nur eins hier noch angeführt, um zu zeigen, daß ihm auch die poetische Stimmungsmalerei vortrefflich gelang: „Abend zieht gemach heran, Dunkel wird e» in der Höh', AuS den Wellen leis und linde Wehn die stillen Abendwinde, Weht » herüber von txr Ee«: Fischer komm! Fischer komm! Die See ist fromm! Sterne zünden sacht sich an, Grüßen schweigend aus der Höh' Ihre tiefen feuchten Brüder Fragen still und hoch hernieder: Ist sie fromm, die See? Und die Tiefe spricht zur Höh': Sie ist fromm, die See! Und herüber nickt der Stern: Fischer komm! Die See ist fromm. Sterne, unser Gottvertrauen, Fischerlicht, auf das wir bauen, Wenn ihr es saget, sei's gewaget: Mann und Zeug, macht fertig euch, Fischer, in die See!" Aber Scherenberg's Bedeutung liegt auch nicht auf dem Gebiete der Lyrik. Als Lyriker wäre er kaum einer stillen Verborgenheit entrückt worden. Er hätte Verzicht leisten müssen auf den Ruhm, wenigstens in den Literaturgeschichten noch über seinen Tod hinaus ein bescheidenes Dasein zu fristen. Da flüsterte seiner scheuen Muse, wie Gottschall sagt, ein guter Genius den Namen „Waterloo" ins Ohr und sie erhob sich auf einmal zu bewundertem Fluge. Noch als Ladendiener schrieb Schcrenberg diese kriegerische Dichtung. Während er hinter dem Ladentisch stand, donnerten vor seinen Ohren die Kanonen und bewehrte Colonnen marschirten vor seinen Augen in das blutige Treffen. Des Dichters Lage war eine verzweifelte. Sein Geist wollte emporfliegen über das schale, öde Alltagstreiben, aber blei schwer hing an ihm die Sorge um das tägliche Brod. Trotzdem wurde er eine Zeit lang seinem Berufe untreu und wandte sich der Schauspielkunst zu. Er muß indessen wenig Glück auf der Bühne gehabt haben, denn seine Leistungen als Darsteller haben ihm keine Lorbeeren eingebracht. Da erschien endlich im Jahre 1845 sein Epos „Waterloo" und brachte einen völligen Um schwung in seine Verhältnisse. Die kernige, kraftvolle DIction dieser Dichtung sprach ungemein an in einer Zeit, wo die fürst liche Boudoirdichtung dominirte. Die lebendige Begeisterung, namentlich für Preußens Kriegsruhm, die aus dem ganzen Werke sprach, lenkte auch Friedrich Wilhelm's IV., des Roman tikers auf dem Throne, Blicke auf das Schlachtgemälde. Kraft und Schwung der rein epischen Darstellung, eine oft bizarre, aber immer wirkungsvolle Bildersprache, ein glühender Patriotismus, der sich nicht in Tiraden, sondern in ernsten, machtvollen Versen ausspricht und mehr noch durch die Darstellung der Thaten jener Zeit als durch Worte überzeugen will, verschafften dem Werke und seinem Schöpfer schnell den Lorbeer, der ihm bislang vorenthalten worden war. Das Gedicht ist in fünffüßigen, reimlosen Jamben geschrieben, aber diese Jamben werden, je nachdem es die Situation erfordert, durch Daktylen und Ana päste unterbrochen, so daß auch dem Metrum eine trügerische Lebendigkeit innewohnt. Wie man das langsame Aufmarschiren der Jnfanterieregimenter zu hören glaubt, so hört man auch das Stampfen der Rosse im Reiterkampfe vor sich. Die Schilderung des Lager- und Schlachtlebens ist gleich anziehend durch Frische, Lebendigkeit und Wahrheit. Dabei ist nichts Tendenziöses in dem Gedicht; der Dichter läßt die große Ver gangenheit in ihrer stillen Macht ohne alle Parteibestrebung rein objectiv auf das Gemüth wirken. Aber es fehlt auf dem großen Massentableau an einem oder einigen Helden, die sich aus dem Ganzen plastisch hervorheben, um die sich Alles gruppirt und dadurch tritt eine Zerfahrenheit der Composition ein, die dem Werke den Werth eines wirklichen Epos nimmt. Und doch bleibt sein poetischer Werth unbestritten. Die Feuerblitze des Genius flammen fort und fort auf und erleuchten auch diejenigen Scenen des Schlachtgefildes, welchen es an poetischem Interesse mangelt. Die Dichtung verdient heute noch nicht der Vergessen heit anheimzufallen. Die Anschaulichkeit des Kampfes in seinen verschiedensten Erscheinungen hat keiner der nachfolgenden Schlachtenmaler — wir erinnern nur an Wildenbruch — wieder erreicht. Sie hat nur ein ebenbürtiges Meisterstück in dem kurzen Schiller'schen Gedicht: „Die Schlacht". Nachdem Scherenberg der erste große Wurf gelungen, glaubte er seine hohe Sendung erkannt zu haben. Seine Muse blieb fortan Amazone. Er blieb der Dichter des Schlachtfeldes. Schon 1850 folgte die Dichtung „Ligny", sie war ein Abguß des Epos „Waterloo" und steht an dichterischem Werth bedeutend unter diesem. Einen imposanten Plan faßte der Dichter, indem er Friedrich den Großen zum Helden eines deutschen Epos machen wollte. Nur zwei Abteilungen desselben, „Leuthen" (1852) und „Hohen friedberg" (1868) sind zur Ausführung gekommen. In ihnen befinden sich ebenfalls einzelne packende Scenen, aber das Ganze ist doch zu chroniknhaft gehalten, um einen nachhaltigen Eindruck hervorzurufen. In ihnen offenbart sich aber Schcrenberg ganz als der Hort der altpreußischen conservativen Partei. Als gereifter Mann war er erst eigentlich in die Literatur eingetreten und hatte sich deshalb von allen Umsturzgedanken ferngeholtcn. Für die damalige Revolutionslyrik hatte er nur ein mitleidiges Lächeln. Die Jungdeutschen verstand er nicht. Er hatte ab geschlossene Anschauungen über Volk und Staat, war Preuße und Royalist aus vollster Ueberzeugung. Im Jahre 1855 schuf ihm sein König um deswillen auch eine sorgenfreie Stellung als Bibliothekar im preußischen Kriegsministerium. Aber trotz dem haftet auch seinen späteren Werken der Zug des Auto didaktischen an. Die fehlende tiefere Durchbildung, der Mangel an systematischem Studium verkümmerte auch die feine künst lerische Entfaltung seines hohen Talentes. Die beste Dichtung nach „Waterloo" ist „Abukir, die Schlacht am Nil", welche 1855 vollendet wurde. Auch hier überrascht oft eine energische bild liche Wendung, die metaphorisch besser schildert, als es eine langathmige Darstellung vermöchte. In Berlin gehörte Scherenberg zur Gesellschaft des „Tunnel", in welchem auch Theodor Fontane, Hugo von Blomberg und andere Literaten verkehrten, eine Gesellschaft von durchaus con serbativer Gesinnung, wie sie dem Wesen Scherenbcrg's entsprach. Scherenberg starb hochbetagt am 9. September 1881 auf dem Asyl Schweizerhof bei Zehlendorf. Er hat die glorreiche Wieder errichtung deutscher Kalserhcrrlichkeit noch erlebt, aber er besaß nicht mehr die dichterische Kraft, um seinem „Waterloo" ein „Sedan" an die Seite zu setzen, obwohl damit seine anti französischen, antinapoleonischen Schlachienepen erst den weltgeschichtlichen Abschluß gefunden hätten. Scherenberg's dichterisches Talent war auch einem anderen Glicde seiner Familie eigen, seinem Neffen Ernst Scherenberg, in Swinemünde auf Usedom geboren, auf den sich die patriotische Begeisterung des Oheims vererbte. Er sang die große Zeit, für die der Dichter deS „Waterloo" die Harfe nicht mehr rühren konnte.
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