Die Bedeutung des Genfer Psalters für die niederländische Musik im 17. Jahrhundert Rudolf Rasch ie europäische Musikgeschichte hat gewissen musikalischen Repertoires viel zu verdan ken, welche ganz und gar nicht als Musikwerke im heutigen Sinne des Wortes konzi piert worden waren. Man denke insbesondere an die großen liturgischen Gesangsrepertoires wie die Gregorianik, den evangelischen Kirchenchoral, oder — im Bereich des Calvinismus — den Genfer Psalter. Diese Repertoires entstanden in erster Linie zu einem liturgischen Zweck, zur Ausschmückung des Gottesdienstes und zur Vertiefung des religiösen Erlebens der Gläubigen. Ihre Ausführung ist nicht primär ein musikalischer, sondern ein kultischer Akt. Dessen ungeachtet haben sie die Entwicklung der Musikgeschichte weitgehend und tief grei fend beeinflusst. Der gregorianische Choral ist zweifelsohne das älteste und umfangreichste dieser Repertoires. Er w r ar von großem, vielleicht sogar von entscheidendem Einfluss auf den Entwicklungsgang der Musik und der Musiktheorie in Mittelalter und Renaissance. Die pro testantischen Repertoires entstanden hingegen erst im 16. Jahrhundert. Durch ihren eigenen liturgischen Stempel in einer Zeit extremer theologischer Gegensätze war ihr Einfluss auf die Musikgeschichte weniger groß als im Falle der Gregorianik, doch haben auch sie in den Kul turen, wo sie jeweils zu Hause waren, das Musikleben nachhaltig beeinflusst. Dieser Beitrag wird sich auf eines der genannten Kirchengesang-Repertoires, den Genfer Psalter beschränken. Ich werde versuchen, seinen Einfluss in einem der Gebiete zu beschrei ben, wo er der offizielle Kirchengesang war: die Republik der Vereinigten Niederlande. Das 17. Jahrhundert soll im Zentrum der Überlegungen stehen, aber es wird sich nicht vermeiden lassen, mitunter auch Beispiele aus dem späten 16. Jahrhundert oder dem frühen 18. Jahr hundert anzuführen. Der Genfer Psalter in der Republik der Vereinigten Niederlande In der niederländischen Republik war der Genfer Psalter das am häufigsten gesungene und gehörte musikalische Repertoire. In der calvinistischen Liturgie stellte der Genfer Psalter den einzigen zulässigen Kirchengesang dar, weil die Psalmen die einzigen (oder so gut wie die ein zigen) Bibeltexte waren, die als Gesang interpretiert werden durften. Weil der Bibeltext nicht geeignet ist, von der ganzen Gemeinde gesungen zu werden, war in Frankreich schon im 16. Jahrhundert ein Liedpsalter zustande gekommen, das heißt, eine metrisch-strophische Bear beitung der ursprünglichen Psalmtexte, die in der Volkssprache gesungen werden konnte, mit eigens hierfür geschriebenen oder bearbeiteten Melodien. Die Texte hatten die Dichter Cle ment Marot und Theodore de Beze geliefert, die Melodien Jean Louys und andere Musiker. Dieses Psalmbuch war seit der Mitte des 16. Jahrhunderts im Gebrauch der französischspra chigen reformierten Kirchen, einschließlich Calvins Heimatstadt Genf, woher die Benennung „Genfer Psalter“ rührt.