22 Friedrich Smend ritornell und ebenso die Partie der Singstimme setzt mit einer Vorhalts dissonanz ein. Ich notiere den Anfang des Satzes: „Falsche Welt« beginnt der Text der Passionsarie. Die Kühnheit dieses Satzanfanges wird bei der Annahme, daß das Stück auf den Passionstext geschaffen wurde, verständlicher. Und doch kommt die stilgeschichtliche Bedeutung der Arie dem Hörer des 20. Jahrhunderts kaum zum Bewußtsein. Wilhelm Rust sagte 1862 davon: „Der Anfang der Kantate ,Widerstehe doch der Sünde' muß als ein musikalisch historisches Ereignis bezeichnet werden. Noch bis in unser Jahrhundert hinein hatte jedes regelmäßige Musikstück, den Theses der Theoretiker zufolge, mit dem Tonischen Dreiklang der Haupttonart zu beginnen. Gewöhnlich schreibt man Beethoven die Neuerung zu, jene allgemeine Regel für besondere Fälle aufgehoben zu haben. Aber schon Bach er laubte sich diese Freiheit“ (BG. 12, 2, S. VII). Man darf bezweifeln, ob Bach sich diese unerhörte Kühnheit, deren er sich voll bewußt war, in der kurzen, nur aus zwei Arien und einem Rezitativ bestehenden Kan tate nahm, einem Werk, dem nicht nur der sonst übliche Schlußchoral fehlt, sondern dem auch keinerlei kirchliche Bestimmung beigegeben ist, so daß es in Breitkopfs Verzeichnis von Michaelis 1761 nicht unter den „Kirchenmusiken“, sondern unter den „Geistlichen kleinen Kantaten und Arien“ erscheint. Mußte es nicht, so fragen wir, ein einzigartiger Anlaß sein, der Bach zu diesem Schritt bewog? Und ein solcher An stoß liegt in der Markus-Passion vor. Hier schließt sich die Arie „ Falsche Welt“ an den Bericht vom Kuß desjudas in Gethsemane an. In diesem