Über das Dissonanzverständnis Bachs 53 Sequenz gegeben, d. h. Formen der Dominanten bestimmen den Terz- bzw. Quartschritt der Oberstimme. Bach hat einen Weg beschritten, dessen letzte Konsequenzen aber erst das 19. Jahrhundert zu verwirklichen ver mochte: das Gleichgewicht von Tonika und Dominante erscheint bedroht, indem an seine Stelle das dominantische Lösungsbedürfnis als Eigenwert getreten ist. Der transzendierende Charakter der Musik Bachs ist mit dar aus zu erklären, daß sich schon in ihr der Akzent von der Tonika zur Domi nante hin verschiebt. Aus der vorbachschen Musik wäre aber auch Bruhns mit dem e-Moll-Präludium (GA. II, 2) zu erwähnen. In Takt 129 wird vier mal der verminderte Septakkord auf Ais als Vorhalt zu dem Quartsext akkord der Tonika angeschlagen. Dieser Abschnitt (Takt 126-131) ist klanglich wohl mit dem Organo-pleno des Hauptwerkes darzustellen. Die norddeutsche Barockorgel, deren reichbesetztes Pedal auch in die tiefsten Lagen hinabreicht, ist der Baßbezogenheit und pastosen Flächigkeit dieses Stils ebenbürtig. Bei Buxtehude ist von dieser Technik im ^-Moll-Präludium (GA. I, 6) eine beachtenswerte Probe zu finden. Es handelt sich um die Überleitung zwischen den ersten beiden fugierten Abschnitten (Takt 45 bis 46). Neben der Rückung D-Dis und A-Gis ist die Zwischendominante Fis-Dur hervorzuheben, die durch chromatische Veränderung der Sub- 1 dominante, des Quintsextakkordes der zweiten Stufe entstanden ist. Die klangliche Delikatesse dieser Stelle wird dadurch erhöht, daß Buxtehude den Sopran und Alt mit den hinübergebundenen Tönen fis' und e' nicht als [ Liegestimmen behandelt, sondern neu anschlägt und hierdurch die Span nung zwischen den dissonierenden Intervallen der neuen Dominante be- i wußt auskostet. Anders gesagt: Eine vielleicht noch linear konzipierte Stimmführung wird vertikal umgedeutet, die „Sinndissonanz“ erhält den I Wert einer „Reizdissonanz“. In gleicher Weise komponiert Bach im £-Moll- I Präludium (Wohltemperiertes Klavier I) den dissonierenden Spannungsgrad b aus, indem er die ruhenden Töne maßvoll an der Bewegung der Wechsel- n noten und Durchgänge teilhaben läßt. Wie sensibel wirkt die Reibung 3 B-A-C in Takt eins durch den neu angeschlagenen Orgelpunkt B; vgl. aber auch Takt 16 und 22, wo der Vorhalt (bzw. Orgelpunkt) F zu den T Tönen Es, Ges und Ges nochmals erklingt. Im „Et incarnatus est“ aus der A Ä-Moll-Messe werden durch die ständige Viertelbewegung des orgelpunkt- t£ artig geführten Basses die dissonierenden Vorhalte in ihrer Ausdruckskraft li intensiviert. Zumal bei dem Affekt des Schmerzes ist es für Bach bezeich- >n nend, die pochende Bewegung nicht im strengen Sinn in der thematischen A Arbeit aufgehen zu lassen, sondern jene mehr als Grundierung der Kom- >q position zu geben, wie in dem „Crucifixus“ der />Moll-Messe und der A Arie „Erbarme dich mein Gott“ aus der Matthäuspassion. Wie unver- Ig gleichlich aber vermag auch die Romantik in ihrer Klaviermusik durch einen 12I kreisenden Bewegungsablauf den Eindruck des Ruhelosen, ja, man möchte •kf fast sagen Gequälten zu erwecken. Es sei hier nur der erste Satz der Sonate [O Op. 27,1 von Beethoven, das r-Moll- und Ges-Dur-Impromptu von Schu ld bert erwähnt.