296 Kleine Beiträge wohl aber durch zahlreiche wörtliche Anklänge aufeinander bezogen. Ganz offensichtlich hat der unbekannte Textdichter die Liedstrophe als Ausgangs punkt für seine Dichtung genommen. Alfred Dürr vermutet, daß die Melodie ursprünglich nicht vom Sopran (zusammen mit der Oboe) sondern nur von einem Instrument vorgetragen worden sein könnte, 16 womit sich der Satz bruchlos in Bachs Weimarer Choraltropierungen einfügen würde. Sollte dies zutreffen, dann hätte Bach die Melodie (analog BWV 80a und 161) später textiert, als er den Satz in den heutigen Kontext stellte. Anders als in BWV 245/11 + lassen sowohl der Text als auch die musikalische Gestaltung eine rein instrumentale Ausführung des Cantus firmus zu. Die drei oben ge nannten Texte mit Choraltropierungen aus Bachs erstem Leipziger Jahrgang (1723/24) folgen dem Textmodell von BWV 18, indem sie Choralzeilen mit einem freien Rezitativtext verbinden. Dies geschieht jedoch nur locker auf semantischer Ebene, nicht durch Reim oder durch eine engere Verknüpfung. Eine enge Verschachtelung von Choraltextzeilen und freier Dichtung finden wir erst in Bachs zweitem Leipziger Jahrgang, dem Jahrgang der Choral kantaten. Hier ist es keineswegs ungewöhnlich, daß der Choraltext eng in das poetische Geflecht der madrigalischen Dichtung eingefügt ist. Von der Warte des Textes aus betrachtet spricht also einiges dafür, daß der Text von BWV 245/11 + im Rahmen (oder zum Abschluß) des Choralkantatenjahrgangs entstanden ist. Damit ist noch nichts über den Textdichter ausgesagt, der ent weder mit jenem des Jahrgangs identisch sein kann, oder aber dessen Technik auch nur imitiert haben könnte. IV. Auch die musikalische Gestaltung des Choraltropus in 245/11 + fügt sich gut in Bachs kompositorische Entwicklung innerhalb des Choralkantatenjahrgangs ein. Aus Bachs Weimarer Zeit kennen wir ariose Choraltropierungen, also Sätze, in denen ein freier poetischer Text mit einem Choralzitat verbunden ist. Signifikanterweise wird der Choral in sämtlichen Beispielen von einem In strument gespielt, jedoch niemals gesungen. Erst in späteren Leipziger Fas sungen hat Bach in mindestens zwei Fällen (BWV 80 und 161) den Choral einer Singstimme zugewiesen. Das früheste Beispiel für einen Choraltropus nach seinem Wechsel nach Wei mar ist die Arie „Sei getreu“ aus „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ BWV 12. Zu einem Duett, gebildet aus Continuo und Tenor, tritt ab T. 10 die Choralme lodie, gespielt von der Trompete. Die Baßstimme basiert auf einem simplen Terzsprungmotiv, das der Tenor zunächst übernimmt, das sich dann jedoch frei 16 Dürr K. S. 331, vgl. auch NBA 1/10 Krit. Bericht, S. 167.