Zur zeitgenössischen Verbreitung von Bachs Vokalwerken in Mitteldeutschland Von Michael Maul (Leipzig) Unser Bild von Bachs „Stellung in der musikalischen Welt“ seiner Zeit wurde wesentlich von den einschlägigen Ausführungen Philipp Spittas geprägt. Demnach war es vor allem „Bachs eminente Orgelvirtuosität“, die damals „die Welt zur Bewunderung niederzwang.“ 1 Entsprechend glaubte Spitta. daß die Verbreitung von Bachs Musik im Grunde auf die Musik für Tasteninstrumente beschränkt w ar. Ausschlaggebend für Spittas Bewertung war wohl die geringe Zahl der für ihn greifbaren Belege für eine Rezeption von Bachs Kantaten schaffen außerhalb von dessen Wirkungsstätten, die sich für ihn auf Johann Matthesons bekannte Kritik an BWV 21 2 und Johann Christian Voigts grobe Inhaltsangabe über die „3. Paquete“ umfassende Notensammlung eines „Adjuvanten" mit Werken von „Telemann. Stölzel. Bach. Kegel und andern mehr“ (1742) 3 beschränkten. Das Bild des nur als Tastenvirtuose und -komponist wahrgenommenen Bach wurde wenige Jahrzehnte später durch die 1913 vorgestellten Briefkonzepte Johann Elias Bachs 4 5 und das 1934 bekannt gewordenene Schreiben Bachs an den Schweidnitzer Kantor Christoph Gottlob Wecker 1 zwar erschüttert, da diese Dokumente erkennen ließen, daß Bach seine Vokalwerke durchaus interessierten Kollegen in Ronne burg, Schweidnitz und Weißenfels - und wohl stets zu Aufführungszwecken - auslieh. Gleichwohl hatte das Bild eines nur für die Leipziger Hauptkirchen komponierenden Thomaskantors, dessen Werke im wesentlichen auch nur dort erklangen, weiterhin Bestand; zumindest gab es keinen ernsthaften Widerspruch. Auch die im Zuge der Erkundung der Bach-Überlieferung in Mitteldeutschland sich ergebenden Neuerkenntnisse zu den Schreibern einiger früher Kantatenabschriften - etwa die Erkenntnis, daß auch Johann Gottfried Walthers und Johann Tobias Krebs d. Ä. mindestens in einem Fall (BWV 54) 6 Vokalwerke kopierten - führten nicht zu einem allgemeinen Umdenken; eher 1 Spitta II, S. 714. 2 Siehe Dok II, Nr. 200. 3 Siehe Dok II, Nr. 514; entgegen der Darstellung Spittas enthielten die fiktiven ..Pa quete“ übrigens keine „Kirchencantaten", sondern Konzerte, die für Aufführung in einem Collegium musicum gedacht waren. 4 Siehe LBzBF 3. 5 DokI, Nr. 20. 6 Schreiberbefund nach BC A 51.