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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 26.06.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-06-26
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191006261
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100626
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100626
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- Saxonica
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- Ausgabe
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1910
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BezugK-Prett Ntr Leipzig aud «orirt» durch »User, träger und Spediieur« Sinai täglich in» Hau« gebrachr: S0 monati., L.7v vierteilidri Bei unlern Filialen u. An» uahmeftellen avgedolt! 78 2Z monall„ L.L8 nierteliLhrU Durch di» V,k: innerhuld DeuUchlanb» und der deutichen Kolonien viericliädri lt.SS monatl. lLV auilchi. Postbestellgeld. Ferner in Belgien, Dänemark, den Donauliaalcn, Italien, Lureindurg, »ilederiande. ittor- wegen Oesterreich. Ungarn, Rußland, Schweden. Schwei, u. Spanien In allen übrigen Staaten nur direkt durch di« Helchtsrssiell« oe» Blatte« erhältlich. Da» Leipzige, Togedlat« erlche»,' 4 mal täglich, Soun- » Aeierlagt nur morgen». Adonne o»nl«Annaume Auguttu-platz 8, bei unseren Drägern Filialen. Spediteuren und Annahmestellen, könne Postämter» uud Briefträgern chln,el»»rka»f»pr»l4 der Morgen» «uSgab« 1v der «deudaargade 8 Redaktion und Geschäftästeller IohanniSgasse 8. gerulvrecher, 14892. 14898, 14894. MWgtrTlUMM Handelszeitung. Amtsblatt des Nates und des Nalizeiamtes der Ztadl Leipzig. Luzeigeu-PreNr W» -Uferat» au« Leipzig und Umgeäunq dl« gespaltene bk) nun breit» Petitzeil, L 2z, dl» 74 »un breiie Reklame,eile 1 dun au»wärt« 3V 2^ Reklamen 1.20 Juferate dun Brbdrdrn t» amtlichen Dell dl« 74 nun brrit» Prtitzeil» «ij 2^ «efchäftSanzeigen mit Pi«»vorfchriften und tu der Licni»n»aab« im Preise erhöht. Rabatt uach Daris. Beilaaegebähr ü P. laufend exkl. Postgebühr. Festerteilt« Austräa» Wunen nicht zurüik- geurge» werden. Für da« Keschern en an bestimmrrn Lage» und Plätze» wird keim Garanti» übernommen. «neigen-Annahme, Augustaäplatz 8, bei sämtlichen Filialen n. allen «nnoncen- iLkpeditionen de» In- und Autlande». Paupk-Siliai« Berlin: Tarl Dunkler, Herzog!. Vahr. Hosbnch» Handlung, Lützowstraße IO. (Telephon VI, Rr. 4093). Haupt-Filiale Dresden: Seestraße 4,1 (Telephon 4621). Nr. 174. Sonntag, üea 2S. stuni iSI0. 104. Jahrgang. Das Wichtiglte. - Der Kompetenzkonfliktsgerichts- h o f entschied in der Hellfeld-Affäre, daß der Rechtsweg für unzulässig zu erachten ist. (S. Dischs. R.) * Die Petersburger Polizei glaubt einen neuen Anschlag gegen das Leben des Zaren entdeckt zu haben. (S. Ausl.) * Oberleutnant Hofrichter wurde infam kassiert und zu 20 Zähren verschärftem Kerker verurteilt. * Geh. Oberregierungsrat Dr. Dungs vom Reichsjustizamt verunglückte tödlich bei einem Absturz in den Alpen. (S. Tageschr.) * Aus Nordamerika werden 36 Todes fälle infolge von Hitzschlag gemeldet. * Der Friedberger Bankräuber Wingeß wurde auch von der Leipziger Polizei gesucht, weil er einem Architekten 8000 unterschlagen hatte. (S. d. bcs. Art.) Lamentation. Die „Nordd. Allg. Ztg." schreibt an der Spitze ihrer Wochenrückblicke: „Lon der fortschrittlichen Parteileitung ist aus schliesslich an die linksliberale Presse die Parole zur schärfsten und rücksichtslosesten Opposition ausgegeben worden. Ein großer Teil der Presse hat jetzt einen Artikel der Natl. Korr." zu den Veränderungen im preußischen Staatsministerium als Signal zum Ein rücken in die fortschrittliche Front betrachtet und ein lebhaftes Feuer auf den Reichskanzler eröffnet. Von einen. Mann, der die Zeiten politisch miterlebt hat, in der Männer, wie Bennigsen und Kardorff wirkten und Eugen Richter seine sozialdemokratischen Zu kunftsbilder schrieb, rührt folgende Zuschrift her: „Die mittelparteilichen Elemente sind in der Ge fahr, zwischen den drei Mahlsteinen Agrarier, Zen trum und Sozialdemokratie zerrieben zu werden. Trotzdem kaum irgendwo ein Zeichen, daß sich die nach Zabl und Vergangenheit wichtigste und zur Führung dabei berufene Mittelpartei dem Drange der Dinge kräftig entgegcnstemmen will! Es wird vielmehr immer deutlicher, daß die Stützen, die den Zug nach lints aufhalten wollen, eine nach der andern nieder brechen. Ileberall knallen in der Presse die Dynamit patronen, die dem Liberalismus den Weg freimachen Men, in Wirklichkeit aber der Sozialdemokratie die Hindernisse aus dem Wege räumen, und niemand er hebt seine Stimme gegen diese Zerstörungswut. Der Liberalismus ist am Regicrunc^sfieber akut erkrankt und wird vermutlich seinen «schaden erst besehen, wenn er sich als Rekonvaleszent im Reichstage in den barmherzigen Händen von 120 sozialdemokratischen Aerzten wiederfindet. Ich suche nach einem den liberalen Parteien ge meinsamen positiven Gedanken. Sogar in der preußi schen Wahlrejorm gehen die Auffassungen zwischen Freisinnigen und Nationalliberalen unversöhnlich auseinander. Dort Forderung des Reichstagswahl rechts, hier Ablehnung seiner Uebertragung auf Preußen. Aber auch bei keiner der liberalen Par teien tritt ein greifbares sachliches Ziel hervor. Dieser Mangel kann nie durch die heftigste Agitation für einen radikalen Großblock ausgeglichen werden, in die doch die nalionalliberale Partei nur eintreten könnte unter Verzicht auf alles das, was ihr bisher festen Halt und Ansehen verlieh. Am Ende mag es auch noch Anhänger der Tradition aus der alten Fort schrittspartei unter Richter geben, d-ie darauf hielt, ihren Charakter als bürgerliche und monarchische Partei scharf gegenüber der Sozialdemokratie zu wahren. Bei der Agitation, die jetzt im Liberalismus ein gerissen ist, geht diejenige Liberalität in die Brüche, die man in den Gesinnungen und dem lebendigen Gemüt zu suchen hat, die Liberalität, auf die gerade unser Bürgertum stolz und die von dem Liberalismus, wie er sich jetzt betätigt, himmelweit verschieden ist. Es ist doch schmerzlich, wenn ein Blatt, wie die „Voss. Ztg. einen Akt der Pietät des Kanzlers gegen über einem verstorbenen Zentrumsabgeordneten als Freundschaftsdienst gegen die Partei des Toten hin stellt. obendrein wenige Tage, nachdem Albert Träger ein Glückwunschtelegramm des Reichskanzlers er halten hat. Daß in dem Tnzyklikakonflikt ein ge meinsames evangelisches Interesse, nicht eine Partei sache zu verteidigen war, ist ein längst überwundener Standpunkt. Unter vier Augen gibt man zu, daß der Konflikt in einer befriedigenden Weise zum Austrag gebracht worden ist, öffentlich wagt man es aber nicht zu sagen, weil man damit zugleich dem Kanzler ein Lob erteilen müßte. Das darf nicht sein. Es kommt darauf an, ihn nach Kräften zu diskreditieren, um nur ja kein Vertrauen aufkommen zu lassen mit Rücksicht auf die Wahlen. Dernburg hat, wie fest steht, freiwillig und einem lange gefaßten Entschluß folgend, seinen Posten verlassen, aber man macht aus ihm einen Märtyrer der liberalen Sache, den Herr von Dethmann nicht länger in der Regierung dulden wollte. Herr von Moltke, dessen Berufung nach Ber lin seinerzeit, wenn ich mich recht entsinne, in einem Berliner Blatte als Schlag ins Gesicht des Libera lismus bezeichnet wurde, wird nach und nach zu einem Opfer seiner liberalen Gesinnungen umgetauft. Daß Herr von Dallwitz in Anhalt mit den Liberalen ein gutes Auskommen gefunden hat, wird selbstverständ lich ignoriert, dagegen seine entfernte Verwandtschaft mit der Frau des Führers des schwarz-blauen Blocks vieldeutig unterstrichen. Herr von Schorlemer, der sich um die Durchsetzung nationalliberaler Wünsche bei der Wahlreform bemüht hat, wird nicht als eine er freuliche Erscheinung bei der Zentralregierung be grüßt, sondern man beklagt, daß das Rheinland von einem zentrumsfeindlichen Oberpräsidenten be freit ist. So geht es durch die liberale Presse, und man weiß nicht, was noch werden soll. Es ist, als ob man die Fähigkeit verloren hat, Sachliches sachlich und die Wahrheit um ihrer selbst willen zu sagen, weil man alles darauf ansieht, wie es gegen die abtrünnigen Genoßen des alten Blocks ausqenutzt werden kann." Die „Nordd. Allg. Ztg." fügt hinzu: Wir fügen dieser Zuschrift nur den einen Wunsch hinzu, daß sich schließlich doch der Wert der sachlichen Politik gegen über der Tendenzmacherei durchsetzen werde. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" hat diesen Erguß eines Mannes, der noch Bennigsen und Kardorff und Richter hat wirken sehen, nicht ohne Absicht und Imprimatur an die Spitze ihres be kanntermaßen stets offiziösen Wochenrllckblicks ge stellt. Sie läßt in ihrem Zusatz ja auch keinen Zweifel, daß sie diese Darstellung der Verhältnisse auf der politischen Linken billigt, so daß man die Zu schrift behandeln kann, als sei sie eigenes Fabrikat der „Norddeutschen" oder ihrer Auftraggeber. Leider sind die Andeutungen über den Ursprung der Zu schrift so vag, daß sich über die politische Parteirich tung des Schreibers nichts mit Bestimmtheit heraus lesen läßt. Es soll aber wohl der Eindruck erweckt werden, als ob der Autor selbst nicht ganz frei von liberalen Velleitäten sei, sich also etwa zwischen Nationalliberalen und Freikonseroativen wohl fühle. Die Zuschrift könnte von Herrn v. Zedlitz, dem end lich im letzten Stadium des Kampfes um die preußische Wahlreform abgeschüttelten Vermittlungs politiker. herrühren. Der ganze Erguß und damit die Auffassung im Regierungslager ist wehmütig vorwurfsvolle Lamentation und paßt also trefflich zu dem hippokratischen Leidenszug, den das politische Antlitz des verantwortlichen Führers der Geschäfte trägt. Lamentieren ist nie eine gute Vorbedeutung für Arbeit irgendwelcher Art, und erst recht nicht für politische Arbeit gewesen. Sie ist es auch in diesem Falle nicht. Möglich daß die hier skizzierte Stim mung im Lager der Regierenden echt ist. Gründe dafür sind billig wie Brombeeren. Nur scheint es, daß die Wehmut noch nicht jenen wünschenswerten Grad erreicht hat, der zur Einkehr und Erkenntnis zwingt. Noch fehlen in diesem psychologischen Krankheitsbilde die Selbstvorwürfe, die zur Reue und schließlichen Gesundung hinüberführen. Es ist die alte Erfahrung wieder einmal zu buchen, daß die schwachen Naturen die Schuld immer bei den anderen suchen. Und diese anderen sind die bösen, bösen Liberalen aller Schattierungen, die so schreck lich undankbar sind, die strafende Vaterhand der so wohlmeinenden Regierung nicht küssen zu wollen. Es ist bezeichnend für die Stimmung im offiziellen Berlin, daß nicht ein Wort des Vorwurfs gegen die Rechte und das Zentrum ausgesprochen wird. Dabei hat das Zentrum in diesen Tagen das Menschenmög liche geleistet, um den Erfolg der preußischen Aktion beim Vatikan zu diskreditieren. Es hat Hohn und Spott über die Negierung in Kübeln ausgeschüttet, hat die vatikanische Diplomatie als geriebenste Roß- täuscherin glorifiziert und die preußische Regierung als den über den Löffel barbierten Tölpel hin gestellt. Mit Behagen hat die Zentrumspressc er zählt, daß die Kurie etwas konzediert habe, was sach lich nichtig und außerdem schon vorher angeordnet war, nämlich den Nichtabdruck der Enzyklika in den kirchlichen Blättern. Es hat auch fein säuberlich interpretiert, wie der Oberhirte sein „Mißbehagen über die in Deutschland entstandene Agitation" gegen die Enzyklika ausgedrückt, wie man das in Berlin in „Bedauern über die Erregung" (mit dem Nachdruck auf „Bedauern") übersetzt habe, und wie man dann noch den tiefgefühlten Dank in Rom hat aussprechen lassen. Dieses so überaus nationale und regierungsfreundliche Verhalten des Zentrums findet kein Wort der Verurteilung. Aber die Libe ralen! Sie sollen an dem Schmerz der Regierung schuld sein, und sie sind es tatsächlich auch, denn warum beugen sie sich nicht unter das Zoch, das ihnen die Regierung im Auftrage der Konservativen und des Zentrums so liebreich errichtet hat, auf daß sie durch Demut und Gehorsam zur staatsmännischen Einsicht geführt werden. Man verstehe, die „Nord deutsche Allgemeine Zeitung" bestreitet dem Libe ralismus nicht die Existenzberechtigung, nein, sie hält ihn für gut und nützlich und preist den liberalen Bllrgerstolz. Nur merke wohl, was sie unter Libe ralismus versteht. Sie meint den Liberalismus, der die Parteifahne stets im Kampf um die Prinzipien hoch in den Lüsten flattern läßt und sie jedesmal in Rücksicht auf die Regierenden einsteckt, wenn irgend welche konkreten Dinge zur Entscheidung kommen. Herr o. Kardorff, der verstorbene freikonservativc Führer geht uns nichts an. Schon in der Zitierung dieses Mannes liegt das bemerkenswerte Einge ständnis, daß der verehrliche Schreiber der Lamen tationen von den Vorgängen im liberalen Lager keine Ahnung hat. Herr v. Kardorff bedeutet dem heuti gen Liberalismus aber auch rein nichts, und wenn er ihm in früheren Zeiten etwas bedeutet hat, so faßr das heutige Geschlecht das als eine Verirrung auf. Anders steht es mit Bennigsen. Ihn, den vor nehmen nationalen und freiheitlichen Mann in dieser Stunde zu zitieren, war kein übler Gedanke. Mit Vergnügen rekonstruiert sich der Liberalismus das Bild dieses Tapferen und weiß im Moment, wohin die Hand dieses Rufers im Streit gezeigt hätte. Nie und nimmer hätte Herr v. Bennigsen sich unter das Zentrumsjoch gebeugt, nie und nimmer hätte er die nationale Sünde gutgeheißen, den Polenkampf in den Ostmarken dem verbündeten Zentrum zu Liebe sacht abflauen zu laßen. Sein nationales Gewißen war viel zu empfindlich, als daß er es mit kleinlichen Forderungen des Tages, daß er es mit persönlichen Sorgen um Ministerexistenzen zur Ruhe gebracht hätte. Gewiß, die Zeichen der Zeit sind trübe, und keinem liberalen Manne kann es heute froh ums Herz sein. Nur mit Bedauern sieht man, auf welchen Dornenweg das tatkräftige Volk gedrängt wird, welche staatlichen Werte gefährdet werden müßen, wenn dieser Weg weiter beschritten wird. Aber felsenfest ist die Ueberzeugung in allen liberalen Par teien heute, daß ein Paktieren mit den regierenden Parteien und der von ihr abhängigen Regierung nicht mehr möglich ist, daß der Liberalismus sich auf eigene Faust durchkämpfen muß. und daß die Ge fahren und Erschütterungen unvermeidlich sind, weil es der Regierung an Einsicht und Tatkraft gebricht, die allein aus dieser üblen Lage herausführen könnten. Wenn in dieser Situation die Regierung zu lamentieren anhebt, so soll dem Liberalismus das kein schlechtes Zeichen sein. Er weiß, wie innerlich haltlos, wie wirtschaflich widersinnig die Konstella tion ist, daß sich die Regierung eines Volkes von mehr als 60 Millionen auf eine konfessionelle und eine wirtschaftliche Minderheit stützt, während die große überwältigende Majorität der Bürger in die Oppo sition gedrängt wird. Daß einem Staatsmann in dieser Lage nicht wohl zumute ist, glauben wir gern, und die Lamentationen sind psychologisch als Erleich terungsmittel der Schwachen erklärlich. Seufzer politik! Meüderg-Lüülngen. Ein neues, ernstes Warnungszeichen für die Re gierung, deren Steuerpolitik eine schlimme Saat reifen ließ: Friedberg-Büdingen, der hessische Wahl kreis, den jahrelang Graf Oriola als liberal scheinender Bündler vertreten hat, ist am Stichwahl tage endgültig der Sozialdemokratie als Beute zu gefallen. Damit zieht dank der Politik des Beth- mannschen schwarz-blauen Blocks der 40. Anhänger einer Partei in den Wallotbau ein, die durch die Blockpolitik Bülows auf 43 Mandate zurückgedcängt worden war. Die rote Flut schwillt an, und alle argen Anzeichen deuten darauf hin, daß wir bei den nächsten Ersatzwahlen noch eine weitere Steigerung zu gewärtigen haben. Bald wird das halbe Hundert Genoßen wieder voll sein, wenn nicht gar über schritten werden, und die Herren um Heydebrand und Oertel können schmunzelnd solch zweifelhaften Gewinn auf ihrer Habenseite buchen. Die Konser vativen allein haben es durch ihre eigensüchtige Politik verschuldet^ daß jetzt beinahe auch der ruhigste Bürger zur Befriedigung seines Aergers zum roten Stimmzettel greift: und leider nur allzu recht hat die „Köln. Ztg.", die dieser Tage konstatierte: „Es geht eine politische Unruhe durch die öffentliche Meinung, und eine mißlaunige Verdrossenheit be herrscht das Bürgertum, wie wir es kaum je be obachtet haben." In der Hauptwahl waren für v. Helmolt (B. d. L.) 6305, für von Calker (Natl.) 4397 und für Vusolt (Soz.) 9551 Stimmen abgegeben worden. In der Stichwahl hat der Kandidat des Bundes der Land wirte 3018 Stimmen mehr erhalten, der Kandidat der Sozialdemokratie 1994: außerdem sind 600 Wäh ler mehr als am Hauptwahltage zur Urne gegangen. Es scheint, daß im wesentlichen die Parteiparolen der liberalen Parteien für die Stichwahl von den Wählern befolgt worden sind: die Nationalliberalen haben, schweren Herzens wohl, den Bündler, die Fortschrittlichen den Sozialdemokraten gekürt. Es ist auch möglich, daß mancher liberale Wähler, durch die maßlos niedrige Art der Agitation gewißer Einpeitscher des Bundes der Landwirte, angewidert und empört, zum roten oder wenigstens zu einem unbedruckten weißen Wahlzettel gegriffen hat. Jedenfalls war das Endergebnis des Stich- wablkampfes vorauszusehen, und darum berührt das Toben der „Disch. Tgsztg." über die Tatsache, daß dieser Wahlkreis jetzt „schmählich" an die Sozial demokratie verloren gegangen ist, mindestens komisch. Würden sich die Herren Agrarier und ihre Ge sinnungsgenoßen einer größeren Selbsterkenntnis be fleißigen, so würden sie nicht den Liberalen, sondern sich selbst und ihrer Politik die Schuld beimeßen. Aber bei den Agrariern ist in dieser Beziehung alle Hoffnung vergebens. Zu erwarten bleibt daher nur, daß die Regierung endlich einmal aus den bitteren Lehren der Nachwahlen die richtigen Schlüße zieht und Einkehr hält. Oder bleibt auch diese Hoffnung ein frommer Wunsch? * Aus nationalliberalen Kreisen erhalten wir zur Ersatzwahl in Friedberg-Büdingen im allgemeinen folgende Zeilen, die unserer Auffassung durchaus entsprechen: „Die der rheinisch-westfälischen Großindustrie nahestehenden Kreise des westfälischen Nationallibe ralismus glauben das Ergebnis der Reichstagsersatz wahl in Friedberg-Büdingen wieder einmal als Be weis dafür anführen zu können, daß sich die Partei auf einer abschüssigen Bahn befinde, und daß das bei den letzten Wahlen verfolgte Prinzip, mit dem Links liberalismus zusammenzugehen, zu einer dauernden Schwächung der nationalliberalen Partei führen müsse. Es wird daher dringend der Anschluß nach rechts empfohlen. Der Sieg der Nationalliberalen in dem Wahlkreis Lyck-Oletzko wird von den „West fälischen Politischen Nachrichten", dem Organ der ge nannten Kreise, natürlich nicht erwähnt weil er in diese Gedankengänge nicht hineinpaßt. Dagegen wird gefragt, ob denn nicht die Spuren der letzten Nachwahlen in Verden-Hoya, Eisenach - Koburg, Neustadt-Landau und Mül heim-Ruhrort schreckten? Da diese Notiz von der konservativ gerichteten Preße natürlich be gierig ausgenommen wird, ist es vielleicht gut, daran zu erinnern, daß sie von einer völligen Unkenntnis der Verhältnisse zeugt. Zn Verden-Hoya und in Koburg »st nämlich der Kampf nicht mit dem Frei sinn, sondern gegen den Freisinn geführt worden. Zn dem ersten Kreis war der ganz agrarische Präsi dent der Zentralgenossenschaftskaße, Dr. Heiligen- städt, als nationalliberaler Kandidat aufgestellt worden und im zweiten Kreis Koburg wurde der ebenfalls rechtsstehende nationalliberale Kandidat Regierungsrat Quarck vom Bund der Landwirte schon im ersten Wahlgang unterstützt. Wenn also die Theorie der „Westfälischen Politischen Nachrichten" die richtige wäre, dann hätte man in diesen beiden Fällen auf einen Erfolg der nationalliberalen Partei rechnen müßen. Wenn dieser Erfolg nicht eintrat, fo geschah es eben hier wie in vielen anderen Kreisen deshalb, weil die tiefe und weitgehende Be unruhigung, die in den weitesten Volkskreisen über die Reichsftnanzreform eingetreten ist, zu einer Stär kung der radikalen Strömung im Bürgertum führte und damit natürlich auch der nationalliberalen Partei schadete. An dieser immer leidenschaftlicher sich geltend machenden Erbitterung weiter Volks kreise ist aber die nationalliberale Parteileitung nicht schuld, denn die von ihr erstrebte Lösung der Reichsfinanzreformfrage würde eine derartige Er regung nicht ausgelöst haben. Die Nationallibe ralen müßen eben jetzt die Früchte der unseligen Politik des schwarz-blauen Blocks mit erfahren, un beschadet darum, ob sie in einzelnen Kreisen mit der einen oder der andern bürgerlichen Richtung zu- fammengehen. Das sollten sich gerade die Artikel schreiber der „Westfälischen Politischen Nachrichten" und ihre gedankenlosen Nachbeter klarmachen, wenn sie die Nachwahlen in Verden-Hoya utid in Koburg auf das Konto einer angeblich zu weit links ge richteten Politik der nationalliberalen Parteileitung setzen wollen." Keiligrsthsis politischer Dichter. Luthers „Feste Burg" hat die Herzen der Prote stanten brünstiger entzündet als seine an den christ lichen Adel deutscher Nation gerichtete Streitschrift - natürlich fällt nach den Verhältnissen jener Zeit auch dieses Kampflied der kirchlichen Bewegung unter den Begriff der politischen Dichtung. Die Sänger unserer Freiheitskriege braucht man bloß zu erwähnen. Eben so den französischen BLranger, der „unter Sturmes- tosen 20 Jahre" sang. Darf man unsere deutsche Dichtung des Vormärz und des Märzen mit einer verächtlichen Kopf bewegung abtun? Doch nur, wenn dichterischer Un wert es rechtfertigte. In den Eedenkblättern zur Freiligrath-Feier werden seine politischen Gedichte totgeschwiegen. Das hat kaum politische Gründe. Freilich hat es eine Epoche gegeben, in der auch solche spielten. Auch des toten Freiligrath Schicksale sind historisch recht interessant. Des Dichters letzte Lebens jahre, die er wieder auf deutschem Boden verlebte, hatte die Abendsonne der Parteienversöhnnng nach den großen Kriegen verklärt. Kaum ein Jahrfünft war nach seinem Tode vergangen, da war cs nicht un gefährlich geworden, sich zu Freiligrath zu bekennen. Freilich finden sich bei ihm Stellen, die bis zum 9. März 1888 eine Verurteilung wegen Majestäts beleidigung möglich machten für den Unvorsichtigen, der sie in Vcrsammlungsreden oder Zeitungsartikeln zitiert hatte. Und in dem einen Jahre 1878 hatte sich bekanntlich die Zahl der Majestätsprozeße in Deutsch land verzehnfacht! Wer damals für Freiligrath schwärmte, wurde verdächtigt, solche Stellen zu meinen, mindestens aber mit dem bis zum Sozialis mus kraß radikalen Demokraten von 1848 zu sym pathisieren. Jene Periode ist wieder überwunden. Die herrschende Abneigung gegen den Dichter, der doch nicht in allen Gedichten Löwen auf Girafien durch halb Afrika reiten läßt, entspringt lite rarischen Gründen. Nicht, daß der Dichter noch nicht tot genug sei, daß er noch von einer poesielosen Re volutionspartei wegen ihrer eigenen Impotenz miß braucht werden könne. Unsere „Moderne" steht tm Durchschnitt politisch nicht viel weniger links als der Freiligrath von 1848. Aber sie ist Salondichtung ge worden, und im Salon klingt noch so echtes Pathos ge schmackwidrig. Und Pathos ist der Charakter der Freiligrathschen Dichtung. Es ist kennzeichnend, daß das Verdammungsurteil der Modernen nicht Freilig rath allein trifft, sondern ihre Abneigung das direkte Eingreifen der Dichtung in de« Tageskampf in der Form der vier Jahrzehnte vor der Reichsgründung ganz jm allgemeinen zu verwerfen scheint. Da müßen entweder jene Dichter minderwertig gewesen sein, oder es fehlt den Modernen an Schärfe des Augenmaßes, um zu erkennen, daß eben jene Form und nicht ihre den damaligen Bedürfnissen an gemeßen war. Um Freiligrath» Gedichte gerecht zu beurteilen, ist natürlich da» erste Erfordernis, sie zu lesen. Aber
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