22 DAS MODERNE PLAKAT Soll das Bild seinen Zweck erfüllen, so muss der Künstler dem dar zustellenden Gegenstände besondere Beachtung schenken, und hier eröffnet sich einem Manne mit Phantasie ein weites Feld der Bethätigung. Meine Hauptsorge sind immer die Haltung, der Ausdruck, die Geste der Hauptfigur. Sobald ich mir darüber im klaren bin, werfe ich meine Idee mit ein paar Strichen so rasch als möglich aufs Papier, ohne mich in Details zu verlieren. Ich trachte meine Figur recht lebendig zu machen. Das ganze Bild arrangiere ich in einer Weise, dass es die Hauptbewegung heraushebt, betont und deutet. Um Laurent Tail- hade’s berühmten Ausspruch zu paraphrasieren: »II faut que le geste soit beau.« Eine einzelne Figur ist am wirkungsvollsten. Der Plakatkünstler muss ein Psychologe sein, eine tüchtige Schule durchgemacht und sich mit den logischen und optischen Gesetzen seiner Kunst wohl vertraut gemacht haben. Er muss etwas erfinden, das selbst den Durchschnittsmenschen anhält und anregt, wenn er vom Pflaster oder vom Wagen aus das Bild der Strasse an seinen Augen vorbeieilen lässt; und dazu, glaube ich, ist nichts so sehr geeignet, wie ein ein faches, liebliches und doch packendes Bild in lebhaften und doch harmonischen F arben.« — Seitdem Cheret in grossen Figuren arbeitet, kann man in seiner Kunst, wenn er auch selbst hiervon nichts erwähnt hat, zwei verschiedene Manieren beobachten, zu denen die Keime allerdings schon in seinen frühen Arbeiten erkennbar sind. Die eine zeigt eine vorwiegende Verwendung der dunkleren Farben Grün und Schwarz und ist immer da angewandt, wo Cheret versucht, dramatisch bewegte Scenen aus dem Leben wahrheitsgetreu wiederzugeben; die andere weit häufiger von ihm angewandte Manier verrät eine ungleich grössere Farbenfreude unter Verwendung von hellem Rot, tiefem Blau und leuchtendem Gelb, neuerdings auch von einem lichten Grün. In dieser zweiten Art fühlt Cheret sich in seinem Element, und er hat sich immer mehr von jener zu dieser hingewandt; er zeichnet in diesen Farben fast ausschliesslich weibliche Figuren auf den Stein und zwar zumeist Damen der Halbwelt: Grisetten, Kokotten, Tänzerinnen, Sängerinnen der Cafes chantants; alle erfüllt von der prickelndsten Lebenslust, meistens auch tanzend oder wenigstens schwebend. Die Welt dieser Figuren zeigt eine ewige Karnevalsfreude, ihre Bewegungen sind voll von Grazie, Chic und Eleganz, ihre leichte Bekleidung scheint eher dazu gemacht, den Körper zu enthüllen, als ihn zu schützen. In solchen Darstellungen erblickt Cheret nach seiner eigenen Aussage eines der wesentlichsten Anziehungsmittel des