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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.10.1895
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1895-10-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18951029025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1895102902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1895102902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1895
- Monat1895-10
- Tag1895-10-29
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Wenn azif gesetz lichem Wege dem gewissenlosen Treiben der Auswanderungs agenten entgegengetreten werden soll, so ist das sicherlich ein löbliches Bestreben, aber auf diesem Wege allein wird sich das Ziel, wie eine Zuschrift an die „Nat.-Lib. Corr." mit Recht ausführt, nicht erreichen lassen. Denn es ist psychologisch nur zu erklärlich, daß sowohl Derjenige, der Neigung hat, das Baterland zu verlassen, wie auch der eben in dem Bestimmungslande ankommende Auswanderer den Wunsch hat, den Rath landeskundiger Leute einzuholen. So wird es den Agenten immer gelingen, sich an die Auswanderer heranzudrängen, wenn nicht Vorkehrungen getroffen werden, daß die Auswanderer auf anderem Wege Auskunft und Rath erhalten können. Will man daher den Auswanderern nützlich sein, so müssen von Staatswegen im Inlande Aus kunfteien errichtet, in den HauptauswanderungSländern aber zuverlässige, im Staatsdienst stehende Agenten angestellt werden, die den Ankömmlingen thunlichst über die Schwierigkeiten der ersten Zeit hinweghelfen. Diese Agenten wären den Cvnsulaten zu unterstellen. Ihre Aufgabe würde eine doppelte sein: sie hätten erstens ihr Augenmerk darauf zu richten, in welchen Gegenden und für welche Berufsstände die Ein wanderung wünschrnswerth wäre; damit hätten sie zugleich daS Material für die im deutschen Reiche zu errichtenden Auskunfteien zu liefern. Sie hätten zweitens den ankommcnden Ein wanderern Rath zu ertheilen und sie dadurch vor der Ueber- vortheilung durch gewissenlose Elemente zu schützen. Die Auskunfteien wären am besten mit den Landrathsämtern zu verbinden. Sie hätten auf Grund des von den Agenten einer Centralstelle zu übermittelnden, von dieser zu sichten den und den LandrathSämtern zuzuweisenden Materials den Auswanderungslustigen Rath zu ertheilen, wo sie am ehesten Aussicht haben, in Ausübung des von ihnen erlernten Berufes sich eine erträgliche Existenz zu be gründen. Es ist nun allerdings zuzugeben, daß die zu diesem Zwecke von dem Reiche aufzubringenden Kosten nicht unerheblich wären; sie würden aber reichlich durch die Vortheile ausgewogen werden. Durch eine feste Organisation deS Auswanderungswesens würde eS vor allen Dingen mög lich gemacht werden, die Auswanderung nach bestimmten geeignet erscheinenden Gegenden zu lenken. Dadurch könnte sich daS deutsche Element in gewissen Gegenden sammeln und sich ungleich fester aneinanderschließen, als bisher. Es würde auch aus begründeter Dankbarkeit seinen Bedarf an europäischen Gegenständen in ausgedehnterem Maße, als jetzt geschieht, im alten Vaterlande decken. Ein weiterer Vortheil würde darin bestehen, daß, wenn erst in fernen Ländern ein fester Zusammenhang zwischen den Deutschen besteht, und wenn landeskundige Männer vorhanden sind, die berufs mäßig sich der deutschen Landsleute annehmen, im deutschen Kaufmannsstande mehr Neigung als bisher herrschen wird, sich zeitweilig in überseeischen Ländern aufzuhalten. In den Berichten des Handelsarchivs wird öfter darüber Klage geführt, daß die deutsche Industrie es versäumt, tüchtige und gebildete Männer ins Ausland zu entsenden, um an Ort und Stelle zu studiren, welche Bedürfnisse der Bevölkerung durch den deutschen Import gedeckt werden können, und wie dieser Import einzurichten ist. Denn eS kommt natürlich nicht nur darauf an, zu wissen, welcher Artikel nach einem Lande importirt werden kann, sondern in welcher Herrichtung er am besten dem Geschmack der Bevölkerung entspricht. So könnte also die Regelung des Auswanderungswesens direct und indirect der deutschen Industrie zu Gute kommen. Von der sittlichen und politischen Bedeutung einer Organisiruna unserer Auswanderung soll hier nicht gesprochen werden. Nur das Eine noch: man mißt das Erschlaffen des patriotischen und politischen Geistes dem Mangel an großen Zielen bei. Hier ist ein großes Ziel: Hunderttausenden von deutschen Auswanderern den Zusammen hang mit dem alten Vaterlande zu wahren und den deutschen Einfluß zu stärken — mehr zu stärken, als man es im Augenblick zu übersehen vermag. Große Ziele werden aber nie mit kleinen Mitteln erreicht. In ver bayerischen Abgeordnetenkammer bat gestern der socialdemokratische Abg. Grillenberger, der die Regie rung wegen ihrer Stellung zur Umsturzvorlage lebhaft angriff und unter heftigen Ausfällen die Haltung der Bundes staaten im BundeSrathe gegenüber der Präsidialmacht scharf kritisirte, eine interessante Auslassung deS Ministers v. Crailsheim provocirt. Herr Grillenberger fühlte sich nämlich gemüßigt, zu behaupten, statt im Kaiser den Vor sitzenden deS Bundesraths zu. sehen, gewinne man mehr und mehr den Eindruck, daß er als omnipotenter Monarch handle. Vom Präsidenten bedeutet, daß die Hcreinzichung deS Kaisers in die Debatte unzulässig sei, fuhr Herr Grillenberger gleich wohl fort: „Es handelt sich bei dein gegenwärtigen Zustand darum, daß sich die Verhältnisse immer mehr auf den imperialistischen Cäsa« rismus zujpitzen. Dem muß entgegengesteuert werden. Das darf man wohl sagen, ohne eine königliche oder kaiserliche Person zu nennen, — das verwehrt der Herr Präsident ja —, daß gewisse Worte, die in den letzten Monaten gefallen sind über die An wendung von Waffengewalt gegen Glieder des Volkes u. dergl., eine Zurückweisung verdienen. Ich glaube, daß wir uns ein Ver« dienst mit Anschneidnng dieser Frage erwerben. Das ist besser, als wenn man sich sclavisch kuschend darüber hinwegsetzt." Wegen dieser Aeußernng zur Ordnung gerufen, erging sich Grillenberger in einer Kritik der „überflüssigen" bayeri schen Gesandschaften, worauf Herr v. Crailsheim zu einer Entgegnung sich erhob, deren wichtigster Thcil nach den „Münchn. N. Nachr." folgendermaßen lautete: „Die monarchistische Spitze, in welche das Reich ausläuft, ist den Socialdemokraten freilich ein Dorn im Auge; daß ihnen jedes Hervortreten dieser Spitze unangenehm ist, ist begreiflich. Ich aber kann nur mit tiefstem Danke constatiren, daß es dem unmittel baren Eingreifen der höchsten Spitze im deutschen Reiche schon mehrmals zu danken war, daß Fragen, die auch für Bayern von einschneidendster Wichtigkeit waren, in einem den bayerischen Wünschen günstigen Sinne gelöst worden sind. Von einer Beeinträchtigung der Stellung Bayerns durch die Hand habung der Präsidialbefugniß könnte nur dann die Rede sein, wenn behauptet werden könnte, daß dadurch die Stellung des Bundes- raths beeinträchtigt würde. Es ist diese Behauptung nicht aufgestellt, und noch weniger bewiesen worden. Ich muß daher die Behaup tungen des Herrn Abg. Grillenberger zurückweisen. Ich kann nur mit tiefstem Bedauern wahrnehmen, daß es überhaupt möglich ist, solche Aeußerungen in einem Landtage eines Staates des deutschen Reiches ausznsprechen, und ich darf wohl der Uebereinstimmung mit der großen Mehrheit dieses Hauses sicher sein, wenn ich sage, daß diese Aeußerungen den Gefühlen des bayerischen Volkes nicht ent sprechen. Es wurde von Seite des Herrn Abg. Grillenberger als beklagenswerthe Thatsache hervorgehoben, daß Bayern sich im Bundes rath so selten in Opposition befinde. Derselbe Vorwurf könnte gegen sämmtliche Bundesregierungen erhoben werden. Denn erfreu licher Weise herrscht im Bundesrath große Einmüthigkeit, er freulicher Weise sage ich. Denn in der Thal ist es eine erfreuliche Erscheinung, daß der Bundesrath nicht das Bild der Zerrissenheit bildet, wie viele parlamentarische Versammlungen. Die Reichs leitung ist auch aus das Eifrigste bemüht, diese Einigkeit aufrecht zu erhalten. Jeder Vorlage an den Bundesrath geht eine umfassende Prüfung der Bedürsnißfrage voraus. Und wichtigere Vorlagen gehen erst dann an den Bundes rath, wenn vorher die Reichsleitung sich mit den anderen Bundesstaaten ins Einvernehmen gesetzt hat. Man ist daher bei wichtigen Vorlagen schon vorher so ziemlich einig. Es kommt deshalb selten vor, daß Meinungsverschieden heiten entstehen. Es handelt sich im Bundesrath eben um solche Vorlagen, bei denen man im Princip meistens einig ist, und daß dabei die bayerische Regierung wesentlich betheiligt ist, davon kann man die Spuren allenthalben wahrnehmcn." Herr v. Crailsheim bestätigte durch diese Worte voll kommen das, was wir selbst bei verschiedenen Gelegenheiten, besonders den Gerüchten gegenüber, daß infolge der Sedan rede des Kaisers eine neue Umsturzvorlage im ReichS- justizamt ausgearbeitet werde, anSgeführt haben. Es ist weder staatsrechtlich erlaubt, noch eingerissene Praxis, auf persönliche Wünsche und Ansichten deS Kaisers hin in den NeichSämtern GesctzeSvorlagen auöarbciten zu lassen und mit ihnen die Einzelstaaten zu überraschen. Seine Wünsche und Ansichten pflegt der Kaiser aus Rücksicht auf seine hohen Verbündeten auch nicht zu äußern, wenn er ihrer Zustimmung nicht sicher ist. Seine Aussprüche sind also — von der subjektiven Form abgesehen — als Kund gebungen wenigstens der Mehrheit der deutschen Fürsten an zusehen. So war eS mit seinen Reden, die der Ausarbeitung der Umsturzvorlage vorausgingen. Sie beseitigten im preußischen Ministerium die Differenzen wegen einer solchen Vorlage und führten rasch zur Ausarbeitung eines Entwurfs, über dessen Grnndzüge die Mehrzahl der verbündeten Re gierungen bereits einig war. So ist auch seine Sedanrede, auf die Herr Grillenberger anspielte, aufzusassen. Sie ist, wenn auch vielleicht nicht der Form, so doch dem Inhalte nach, eine völlig im Sinne der verbündeten deutschen Fürsten ausgesprochene dringliche Mahnung an alle staatserhaltenden Elemente, durch Einigkeit im Kampfe gegen die Umsturzpartei das Aeußerste zu vermeiden, das am Ende nicht auSbleiben könnte, wenn jene Elemente sich selbst durch gegenseitige Bekämpfung aufgebcn. Ob dieses letzte „unmittelbare Eingreifen der höchsten Spitze im deutschen Reiche" diesmal zu einer auch den bayerischen Wünschen ent sprechenden Folge führen werde, das hängt wesentlich von den bürgerlichen Parteien und ihren Vertretern im Reichs tage ab. Zeigen diese Vertreter, baß sie die Bekämpfung der Umsturzbewegung als ihr gemeinsames Ziel betrachten, so wird Bayern, dessen Strafgesetzbuch von 1861, wie Herr v. Crailsheim im weiteren Laufe seiner Rede betonte, viel schärfere Bestimmungen als die sog. Umsturzvorlage ein hielt, einer entsprechenden neuen Vorlage ebensowenig Opposition entgegensetzen, wie die Mehrzahl der Bundes staaten, deren Ansichten und Wünsche in der Sedanrede des Kaisers zum Ausdruck gelangt sind. ES war vorausgesehen und ist vorausgesagt worden, daß das französischc Cabinet Ribot den von der Opposition angekünoigten Jnterpellationssturm nicht überdauern werde, und so ist es auch gekommen. Noch hatte es glücklich die Interpellation über den Streik in Carmaux überstanden und ein Vertrauensvotum mit nach Hause genommen, aber die Majorität für dasselbe betrug nur 75 Stimmen, und wenn man bedenkt, daß 83 Abgeordnete sich der Abstimmung enthalten hatten, also den Regixrungsstimmen nicht zu gezählt werben konnten, so erschien die Behauptung des Ministers deS Innern, das Vertrauensvotum werde mindestens mit 100 Stimmen Mehrheit gefaßt werden, in einem etwas eigenthümlichen Lichte, der Sieg der Negierung außerordentlich mager und die Besorgnis; Wege» der folgenden Interpellationen nur zu begründet. Schon in der nächste:: Sitzung erreichten die Radikalen, worauf sie von Anfang an bingesleuert, der Socialist Rouanet inlerpellirte wegen der Südbahn-Anaclcgenheit, dieses „kleinen Panama", ' das er bereits im Mai zur Sprache gebracht hatte. Der „Figaro" hatte den Scandal wieder ins Rollen gebracht, indem er — was ja die Freunde deS verurthciltcn Senators Magnier schon in Aussicht gestellt hatten — die Name» von sieben Parlamentsmitgliedern veröffentlichte, die an den Südbahn-Svndikateii betheiligt waren, uäinlick, die Deputirten Jules Roche, Rouvier, Etienuc Francois, Deloncle, Louis Passy, Graf Lemercier und der Senator Bardour. Sie haben bei dem Geschäfte im Ganzen etwas mehr als 50 000 Franken verdient; gegen Alle war das gerichtliche Verfahren eröffnet gewesen, aber am 30. Mai ein gestellt worden. Jetzt nun verlange, da das Gericht sich als unzn - länglich erwiesen hatte, Rouanet und mit ihm wohl die öffentliche Meinung von der Regierung volle Aufklärung, da mit dieselbe den Verdacht zerstreue, der über mehreren Parla mentariern schwebte. Wie mitgetheilt, erklärte der Justiz- minister Trarieux, sämmtliche Schuldige seien gerichtlich ver folgt, es sei, außer den bekannten Senatoren und Deputirten, welche sich regelmäßig an den Emissionssyndicaten betheiligt hätten, kein Name eines Deputirten in den Acten gesunden worden. Diese allgemeine Erklärung genügte offenbar der Kammer nicht, sie nahm mrt großer Mehrheit die Tagesordnung Rouanet'S an, die Minister ver ließen den Sitzungssaal (siehe unten unter Paris) und begaben sich in daS ElysSe, um die Demission des Cabineis zu überreichen. Präsident Faure nahm die Demission a n. — Heute li^ien uns über den Verlauf der Krise nach folgende nähere Meldungen vor: ^ Paris, 28. October. Trarieux theilte in der Kammer infolge I des Zwischenrufs eines Socialislen mit, daß außer den bereits in den I Zeitungen genannten noch der Gouverneur des Crödit Feuilleton. Der Kampf ums Dasein. 1s Roman von A. von Gersdorff. Nachdruck verboten. ES war zur Dämmerzeit eines Octoberabends. Mit scharfem Pfeifen strich der Wind über die Ebene, zuweilen führten seine Stöße einige versprengte Regentropfen mit sich, so daß der einsame Wandersmann den breitkrempigen Hut tiefer in die Stirn zog und den Kragen seiner Lodenjoppe in die Höhe schlug. Er trug die Stiefel am Hakenstock über dem Rücken, seine nackten Füße schritten rüstig auf dem durchweichten Wege aus. Bor ihm lag der rothschimmernde Gasnebel der Riesenstadt, deren zahllose Feuerauaen aufzuschimmern begannen. Wie donnernde Brandung klang eS von ^ort an das Ohr des Schreitenden. Er schaute hinüber mit seltsam finsterem und doch neugierigem Auge und dann über dies öde, herbstliche Land mit dem grauen, trostlosen Dämmerschatten. „So, so", sagte er sich, „daS ist nun also die verrufenste Gegend um Berlin 'rum — und hier so 'rum schlägt man sich gern todt, um drei Mark oder so was. Na — d:e hält' ich allenfalls noch bei mir, aber scheine keinen Abnehmer zu finden — keine Katze, so weit man sehen kann. DaS da drüben wird ja wohl so eins von den berühmten Tanzlocalen sein — ist aber stockdunkel — kein Geschäft heute wohl. Na, mir auch recht. Ehe ich da 'ran komme, hatS noch Zeit und ich esse hier noch billiger zu Abend." E« lag da ein hochgeschichteter, sonderbarer Reisighaufen am Wege, wie er in manchen Gegenden an Stätten gefunden wird, wo freventlich Mensebenblut vergossen wurde und keine irdische Gerechtigkeit den Mörder zu treffen vermochte. Der Mann betrachtete den Reisighaufen einen Augenblick und sah dann nach dem naben dichten Kiefernholz hinüber. Er nickte vor sich hin. Kann schon sein, daß hier 'mal Einer bat dran glauben müssen, dachte er, und suchte sich einen möglichst vor Wind und Regen geschützten Platz, wo er sich mit einem leichten Aechzen niederließ und zunächst den feuchten Lappen von seinem durchgelaufenen linken Fuße löste. Sein Hunger schien aber schärfer zu sein al« der Schmerz; er warf einige andere LeiuwaNdfeNea achtlos aus dem kleinen Ra»^» neben sich in da» nage, braune Weggra» und suchte in der Ledertasche nach seiner mitgebrachten Zehrung — eine zusammengeklappte grobe Brotschnitte warS mit einer Scheibe Käse dazwischen und ein Product jener berühmten Nabrungs- mittelverfälschung, daS man Blutwurst nennt, daS aber zum Haupttheil aus Knorpel und Sehnenstückchen besteht; die im Magen des hungrigen Proletariers hübsch lange vorhatten und durch ihre pikante Würze die Sehnsucht nach der Flasche erhöhen. Auch diese erschien natürlich aus den Tiefen der Tasche, erwies sich aber als eine harmlose Flasche Hellen Dünnbiers. Er begann zu essen und starrte dabei eine kurze Weile finster vor sich hin. Dann sah er plötzlich auf, wie gerufen, und fuhr mit einem kurzen SchreckenSlaut nach seinem Taschenmesser hinab, vaS von seinem Knie zu Boden geglitten war. Er war sonst ein unerschrockener, mächtig starker Kerl und es war mehr Ueberraschung über die Plötzlichkeit und Nähe der Erscheinung, die vor ihm stand, waö ihn zusammen fahren ließ. War doch wenige Minuten vorher weit und breit kein lebendes Wesen sichtbar geworden, und er hatte keinen Schritt vernommen, und jetzt stand da mit einem Male, wie aus der Erde gestiegen, gleich dem Leibhaftigen, das schlottrige, him mellange Mannsbild dicht bei dem Reisighaufen. Mager und dürr wie ein Stecken, mit wirren Haaren, die ihm unter einem, ehemals weiß gewesenen Filzhütchen bis fast auf den Kragen seines zugeknöpften schwarzen Gehrvcks fielen, einem spitzen, langen, bartlosen Kinn und ziemlich unheimlich glim mernden Aeuglein, die mit unverkennbarer Gier auf die be scheidene Mahlzeit deS Anderen blickten. AuS den zu kurzen Aermeln seines Rockeö kamen schmutzige Manschetten mit funkelnden Knöpfen zum Vorschein. Der lange, knorpelige Hals reckte sich, „schier ängstlich nach dem Strick verlangend", auS einem weit umgeschlagenen Hemd kragen, und an den Füßen hingen ihm rin Paar zerrissene gelblederne Schube. Die scharfen Augen deS Sitzenden batten dies Alles mit einem einzigen umfassenden Blick aufgesangen. Dann nahm er gelassen sein herabgesalleneS Käsebrot von der Erde auf, blieS leicht darüber hin und ließ dir Halste davon mit einem einzigen Biß zwischen seinen breiten Kinnladen verschwinden. Der Mensch — da» schien er ia zu sei« — hatte nichlS in den Spinnenfingern, wa« ein Zknüppel oder Messer sein konnte und ehe der so etwa» 'rau» kriegen mochte, yatt« er dem Skelet längst alle Knochen au» den Gelenke» geschüttelt, daß der sie sich nachher auf der Landstraße einzeln zusammen- suchcn konnte. „Guten Abend, Herr . . sagte der Kerl jetzt mit einer dünnen, belegten Stimme, wie Jemand, der bei einer Vor stellung sich auf den Namen deS Angeredeten nicht recht be sinnen kann. „Dank schön! Gleichfalls!" war die mit gesundem Baß in unverkennbarem Ostpreußisch gegebene Antwort. „Gestatten Sie, daß man neben Ihnen Platz nimmt?" setzte er hinzu und machte auf dem Reisighaufen Raum für sich. „Immerzu. Ich Hab' hier nicht gemiethet." „Darf man fragen, woher und wohin des WegeS?" „Ja — Männchen, fragen können Sie. Aber angehen thut Sie das nichts. Oder gehören Sie zur Polizei?" Das Skelet grinste. „Nicht mehr." „So. Also wohl eben 'rauSgclassen?" „Sie scheinen ein scherzhafter Kamerad, Herr —, aber ich bin sehr für Humor — er ist eine der besten GotteSgaben!" „Jawohl — wenn die Anderen nicht zu Hause sind", knurrte der Angeredete und wollte den Rest seiner Mahlzeit zusammenpacken, um sich a» der Bierflasche zu laben. DaS Skelet legte aber bastig seine kalten Knochenfinger auf die große, breite Hand seines Nachbarn. Sie wurde aber etwas unsanft abgeschüttelt. „Kerl — waS haben Sie für scheußliche Froschpfoten! Gehen Sie mir vom Leibe — so was kann ich nicht ver tragen!" „Ob — Pardon — ich wollte nur bemerken, daß Ihre kleine Relation recht appetitlich auSsieht — wirklich recht einladend!" Ein Paar braune autmüthige Augen hefteten sich jetzt in daS ausgehungerte Gesicht des Lodenden, und ein nicht unschönes Lächeln trennte die frischrothen Lippen, die ein kurzer brauner Vollbart umrahmte. „Na, hören Sie Männchen — jetzt scheinen Sie zur Sache zu kommen. Aus den Punct waren Sie doch von Anfang an auS. Na — daS ist nu nicht das Schlimmste, was Einer thun kann. Also, da nimmS und putze die Geschichte man auf. Unser Einer verhungert nicht, so lang' unser Herraott die Arbeit nicht abschafft und den Reichen in Pacht siebt." Damit stand er auf und reckte seine breite, markige Gestalt, nahm den Hut ab und ließ den reaensprübenden Wind sei« dichtes braune« Haar aufwühlen. „Sagen Sie 'mal, wa» in aller Welt sind Sie eigentlich?" fragte er dann und betrachtete forschend seinen seltsamen Gefährten, der wie ein halbver hungerter Hund die Wurst sammt der dicken, harten Schale verschlang. „Ah — ich, Pardon", kam eS fast unverständlich auS dem kauenden Munde —, „meine Name ist Fino — „WaS? Fido?!" lachte der brave Ostpreuße, „aus was für einer Hundesamilie stammen Sie denn? Windhund Wohl — was? Ha, ha, ha!" Herr Fino erhob sich jetzt etwas beleidigt, wie eS schien, langte mit der Rechten nach seinem Filz und mit der linken nach der Bierflasche, die der Andere eben an die Lippen führen wollte, und sagte feierlich: „Adalbert Fino, Opernsänger. Habe leider die Stimme verloren und suche jetzt passende Beschäftigung." „WaS Sie sagen! Opernsänger? Na, so WaS bab ich mir doch beinah gedacht. Kerls, Ihr seht Euch doch alle zusammen zum Verwechseln ähnlich, Haare bis in die Kniekehlen, alte Tanz schuhe an die krummen Beinhölzer, Brillanten und Rubinen in den schmutzigen Manschetten, ausgeschnitten bis auf den Magen und absolut »lischt drin!" Herr Fino zuckte die spitzen Schultern und führte den schmutzigen Rest eines seidenen Taschentuches an die Lippen, während er die leere Bierflasche mit einer leichten Ver beugung dem Eigenthümer zurückreichte. „Darf ich nun vielleicht fragen, mit wem ich die Ehre habe?" „Ich heiße Franz Wächter und bin reisender Oekonom und suche ebenfalls passende Beschäftigung. Aber nun sind Sie ja wohl mit den Materialien da fertig — falls Sic nickt daS Wurstpapier etwa noch zu sich nehmen wollten. Wir können dann ja Wohl diesen lieblichen Platz verlassen. ES hört auch gerade auf, sachte zu regnen." „Ia, sehr verehrter Herr Wächter, wir wollen gehen, und zwar recht schleunigst die Stadt und ein Nachtquartier zu er reichen suchen. Ich friere etwas — der Regen dringt durch, und ich muß gestehen, daß ich nicht ungern einen kräftigen Grog zn mir nehmen möchte. Der würde auch Ihnen gut tbun!" „Na, wissen Sie, Herr Fido — was den Grog und Schnaps u. s. w. anbetrifft — da ist die Liebe nur einseitig. Ich mag sie wohl, aber sie mögen mich nicht. Ich vertrage nichts." „Oh, nicht möglich! WaS kann denn einem Mann, wie Sie e» sind, ein Grog schaden?" fragte eifrig der Sänger a. D. „Mitunter recht viel. Mitunter schickt er Einen, der sein Au-kommen hatte, auf kostspielige Reisen, und mitunter hält er ihn fest, wo er nicht bleiben will. Ra — da» steht aus
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