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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.08.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-08-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030828021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903082802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903082802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-08
- Tag1903-08-28
- Monat1903-08
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Korr." vor einiger Zeit mitteilte, in BuudeSratSkreisen nehme man an, eS werbe in „absehbarer Zeit zu eiuer Aussprache der einzelstaatlichen Finanzminister über die Frage der Finanzreform" kommen, letzte sich wie durch einen Druck auf die elektrische Leitung der gesamte offiziös« Demeatier-Apparat, von den „Berliner Politischen Nachrichten" bis zur „Süddeutschen Reichskorrespondenz", in Bewegung, um jene Mitteilung als auf Ers indung beruhend zu bezeichnen. Jetzt verbreiten, wie schon gestern an anderer Stelle mitgeteilt, dieselben „Berl. Polit. Nachr." die damals die Meldung des nationalliberalen Organs als Erfindung bezeichneten, dir Nachricht, daß die Finanzminister verschiedener Einzelstaaten Ende September oder Anfang Oktober in Berlin zu einer Konferenz zusammentreten würden. Also die nämliche „bestunterrichtete" Stelle, die vor zwei Monaten behauptete, von einer Zusammenkunft der Finanzminister der Einzelstaateu könnte in absehbarer Zeit keine Rede sein, gibt jetzt zu, daß diese Konferenz demnächst in Berlin statt finden werde. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Daß die Berliner Offiziösen ihre anfänglichen Dementis auf eigene Faust und aus reiner Widerspruchslust hätten ergehen laffen, ist doch wohl nicht anzunehmen. Jedenfalls hat viel mehr Wahrscheinlichkeit die Annahme für sich, daß damals dieselbe hochmögende Stelle in Berlin, der die Verschleppung der so dringend nötigen Reichsfinanzresorm hauptsächlich zur Last fällt, von einer Konferenz der einzel-staat lichen Finanzminister nichts wissen wollte und der von anderer Seile angeregten Konferenz den Knüppel eines offiziösen Dementis zwischen die Stuhlbeine warf. Jsl es so, so kann man es nur freudig begrüßen, daß der Ein- schüchterungsversuch nichts geholfen hat und daß diejenigenEinzel- staaten, die an ihrer Finanzlage die Notwendigkeit einer schleunigen Inangriffnahme einer Reichssinanzreform schmerz lich verspüren, an ihrem Konferenzprojekie feilgehalten haben. Und wenn ihnen jetzt von den Inspiratoren der „Berl. Pol. N." ein Programm für ihre Konferenz durch die Behauptung aufgedrängt werden soll, den Gegenstand der Elörierung werde die Frage der Balanzierung des ReichShaus- haltSetalS bilden, da darüber, daß das gegenwärtige Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten aus die Dauer nicht bestehen kann, keine Meinungsverschiedenheiten herrschten' so kann man nur wünschen und hoffen, daß die Kon* cnz- mitglieder sich höflichst sür die Aufzwingung eines solchen EinschränkuligsprogrammS bedanken werden. Ueber die Frage der Balanzierung des nächsten RcichsbaushaliselatS wird im Bundesrate genug geredet werden können; dazu bedarf eS einer besonderen Fmanzministerkonserenz nicht. Was den Herren besonders am Herzen liegen muß, ist die Frage, wie denn eigent lich daS finanzielle Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaaten geordnet werden soll und wie lange schlimmsten Falles die Neuordnung noch aufgeschoben werden darf, ohne das Finanz wesen einzelner Staaten völlig zu ruinieren. Wir nehmen an, daß auch das Königreich Sachsen bei der Konferenz ver treten fein wird, und daß dieses allen Anlaß hat, sich nicht nur über die Balanzierung des nächsten ReichshauöhaltSetaiS zu unterhalten, liegt sür jeden Kenner des Standes der sächsischen Finanzen auf der flachen Hand. Die Entscheidung des Reichs-Militärgerichts im Falle Hüßner und der „Vorwärts." Im Oberlandeögerichts-Bezirke Naumburg sollte einmal ein Graf examiniert werden, dessen aristokratische Sicherheit nur von seiner Unwissenheit übertroffen wurde. Um ihm nun wenigstens eine Frage zu stellen, die er würde richtig beantworten müssen, fragte ihn der Vorsitzende der Prüfungskommission, wie Gesetze zustande kämen. Worauf der G>as, sein Monocle ins Auge klemmend, lächelnd sagte: „Jesetze? Na, janz einfach — jibt der Kaiser." Ebenso „janz einfach" sind häufig die juristischen Auffassungen deS „ Vorwärts ". Der gewöhnliche Sterbliche sollte glauben, daß der „Vorwärts" von seinem Standpunkte aus mit der Entscheidung des Reichs-Militärgerichts, durch die das wegen seiner Milbe allgemein gerügte Urteil deS Kieler Oberlandes gel ichtS aufgehoben wird, sehr zufrieden sein müßte. Aber nein, der „Vorwärts" ist entrüstet darüber, daß Hüßner nicht sofort wegen Totschlags bestraft worden ist. Er sagt: „Man entkleide den Fall sür einen Augen blick der militärischen Uniformen: Ein Mann habe auf der Straße mit einem harmlosen Betrunkenen einen Streit vom Zaune gebrochen und seinem Gegner sodann einen Dolch in den Rücken gestoßen, sodaß er vorn mit der Spitz- herauskam. Zweifellos liegt hier eine vor sätzliche Tötung, ausgefübrl ohne Ueberlegung, also Tot schlag im Sinne des Gesetzes vor. Zieht man aber den beiden, dem Täter und dem Opfer, Uniformen an, und zwar dem Täler eine bessere Uniform an als dem Opfer, so wird der sonnenklare Fall zweifellos zu einer höchst verwickelten juristischen Streitfrage." Der „Vorwärts" irrt gewaltig, Wenner meint, daß im bürgerlichen Strafverfahren ein dem Hüß- nerschen Falle ähnlicher „zweifellos" „sonnenklar" läge. In derartigen Fällen ist cs eine sebr schwer festzustellende Tal frage, ob tz 2l2 oder 226 des R.-Str.-G-B. in Anwendung zu kommen Hal. Unbedingt sestgestellt ist die Vorsätzlich keit nur in Bezug auf die Körperverletzung, denn Hüßner wollte een fliehenden Soldaten durch einen Schlag mit dem Dolche fluchtuusähin, machen. D>s Vorsätzlich keit der Tötung aber könnte nur als sestgestellt angeiehen werden, wenn H ßncr entweder eingestünde, daß er beim Stoße den Vorsatz der Tötung gehabt hätte, ober wenn Zeugen bekunven könnten, daß er etwa gesagt hätte, „ich bringe den Kerl jetzt um", oder wenn aus irgend welchen andern Umständen der Wille der Tötung durch den Stoß sich ermiiteln ließe. Gewiß wird nach der Entscheidung des Reichs-Militärgerichts die Frage des Totschlags bei der er neuten Verhandlung sorgfältig nachgeprüjt werden müssen, aber wenn das Gericht nicht zu der Ueberzeugung der Vor sätzlichkeit des Totschlags kommt, so kann der H 2l2 des R.-Str.-G.-B. auch nicht in Anwendung kommen. Hut ab oder — Ohrfeigen! Die „Wiener Morgenzeituug" berichtet: „Der 31jährige Polier Faggin aus Udine befand sich kürzlich in Salzburg am Resibenzplatze, als gerade die Prozession der Wall fahrer aus Mariazell ankam. Er geriet hierbei ins Ge dränge und war nicht im stände, fortzukommen, als er mit einem Male von einem Unbekannten geohrfeigt wurde, weil er den Hut nicht abgenommen hatte. Wie sich später berausstellte, war der Unbekannte ein Prozessions führer, dessen Identität nicht mehr festgestellt werden konnte. Ein Wachmann eilte zur Stelle und verhaftete Faggin wegen NichtabnehmenS des HuteS vor der Prozession, indes der Ohrfeigenspender weiterbetete. Die Staatsanwalt schaft erhob nun gegen Faggin die Anklage wegen Vergehens der Neligionsstörung. Der Angeklagte brachte vor, er habe bei Beginn der Prozession sein Haupt entblößt und nicht gedacht, er müsse den Hut während deS ganzen Zuges in der Hand halten, zumal da eS regnete; auch habe er der Prozession gar keine Beachtung geschenkt und in seiner geschäftlichen Eile alles aufgeboten, auS dem Menschen knäuel herauszukonimen. Der als Zeuge vernommene Wachmann hält eS sür möglich, daß der Angeklagte ganz vertieft gewesen sei, allein „öffentliches AergerniS" sei entstanden, denn sonst hätte der Pro;essionSführer den An geklagten ja nicht geohrfeigt. Der Verteidiger trat dieser Argumentation entgegen, da das unanständige Betragen deS ohrfeigenden ProzessionSführerS an dem AergerniS schuld sei; wenn Faggin übrigens den Hut auch gar nicht abgenommen hätte, wäre er straflos, da die Staatsgrundgesetze diese Unterlassung schützen. Der Gerichtshof sprach den Ange klagten mit der Begründung frei, es sei nicht erwiesen, daß er den Hut vorsätzlich auf dem Kopse behielt." Also: wenn Faggin den Hut erwiesenermaßen vorsätzlich auf dem Kopfe behalten hätte, wäre er wegen Religionsstörung ver urteilt worden — trotz Staatsgrundgesetz. Und daS nennt man in Oesterreich Religionsfreiheit! Die Lage aus dem Balkan. Während es in den letzten beiden Wochen geschienen hatte, als ob der lange angehäufle Zündstoff in Makedonien in der Hauptsache erfolglos verpufft und die revolutionäre Bewegung wieder einmal im Erlahmen begriffen sei, sind neuerdings Ereigmffe eingetreten, welche das Gegenteil mit grausiger Deutlichkeit beweisen und geeignet sind, die Lage bedenklich zuzuspitzen. Kaum hat die bulgarische Mordwaffe zwei Vertreter Rußlands niedergestreckt, so ist Amerika an die Reihe gekommen, wegen der Ermordung eines seiner Konsularbeamten in Mit leidenschaft gezogen zu werden. Wie wir schon telegraphisch mitteilten, ist der amerikanische Vizekonsul in Beirut am Sonntag ermordet worden. Die Vereinigten Staaten fordern natürlich strengste Bestrafung der Schuldigen und sie werden sich schwerlrch die Zurückhaltung auferlegen, zu der Rußland aus bekannten Gründen sich immer noch bequemt. Schon jetzt wird gemeldet: * Lysterbay, 27. August. Präsident Roosevelt hat auf die Nachricht hin, daß in Beirut der amerikanische Vizekonsul ermordet wurde. Befehl gegeben, daß das europäische Ge schwader der Vereinigten Staaten sich unverzüglich nach Beirut begeben soll. Erfolgt nicht sofort volle Genugtuung, so dürste das Geschwader nicht zögern, in Aktion zu treten. — Ebenso schwer aber wie die Beiruter Bluttat fällt daS entsetzliche Attentat auf de« Konventionalzug bei Kuleli BurgaS iu die Wagschale, über da» «u» «och folgendes Nähere berichtet wird: * Konstantinopel, 27. August. Durch deu Zuschlag, der gegen den Sonveutiooalzug bei Kuleli Burgas verübt wurde, wurden drei Wagen zertrümmert. Uuter den sech getöteten Personen befinden sich der Kücheuchef uud zwei türkische Frauen. Ein Individuum wurde bereit» verhaftet. * Paris, 27. August. Siu der „Agence HavaS" aus Konstautinopel zugegangeneS Telegramm besagt, daß der An schlag auf den Konventioualzug von Bulgare» verübt fei. — Auch die türkische Botschaft teilt ein Telegramm aus Konstantinopel mit, nach welchem daS Verbrechen einem bul garischen Comitö zogeschrirbeu wird. * Konstantinopel, 27. August. (Meuer Korr.-Bureao.) DaS Attentat auf den Konventionalzug ist verübt wordeu, al ber Zug in Kuleli BurgaS hielt. Uuter dm Verwundeten trugen fünf schwere Verletzungen davon. Die Post, die Ver wundeten und ein Teil der Reisenden werdeu mit dem statt am Vormittag erst am Nachmittag 4 Uhr hier etutrrsfeudru Orientexpreßzuge erwartet. Die übrigen Reisenden kommen mit dem gewöhnlichen, deu Dienst zwischeu Adrtauopel uud Konstantinopel versehenden Zug» hier art. * Konstantinopel, 27. August. Gestrru abeud hattm bei der Ankunst deS Orientexpreßzuge- mit dm bei dem Au schlag auf den Konventionalzug Verwundete» auf dem BahnhofeSirkedschi Jskelejsi virleMohammedaoer sich versammelt. Ein Zwischenfall ist nicht vorgekommm. Der Konventionalzug, der seinen Namen von der zwischen den Durchgangsstaaten abgeschloffenen Eisenbahnkooventio« hat, ist der täglich einmal hin und zurück zwischen Wie« und Konstantinopel verkehrende Zug, der bi» Belgrad ein Schnellzug ist und von Belgrad an sich mit Aufenthalten auf nahezu allen Stationen bis Konstantinopel schleicht. Nicht zu verwechseln ist er mit dem wöchentlich zweimal ver kehrenden Orientexpreßzuge. Neben dem Orientexpreß ist der Konventionalzug die einzige direkte Eisenbahnverbindung nach und von Konstantinopel. Die Station Kuleli-BurgaS liegt zwischen Adrianopel und Konstantinopel, wo die Linie nach Dedeagatsch von der Hauptlinie abzweigt. Zu welchem Zwecke alle diese Attentate verübt werden, braucht kaum wiederholt zu werden: die revolutionären Comilss wollen das Ausland zur Intervention zwingen und hoffen, daß dann die Mächte ihre Sacke durchsetzen oder auch darüber in Differenzen geraten werden. In dem all gemeinen Durcheinander glauben sie dann ebenfalls auf ihre Rechnung zu kommen. Das Dynamit scheint jetzt überhaupt die erste Rolle spielen zu sollen, denn eS wird uuS weiter berichtet: ^V. Wien, 28. August. (Privattelegramm.) Der „Neuen Freien Presse" wird auS Belgrad gemeldet: Wie da» Blatt „Stampa" erfährt, worden anläßlich d«S Zusammmstoße- bei dem Dorfe Kervan Kei in Makedonien 250 Baschibozuk». die in einen Turm geflüchtet warm, vou deu Ausständischea mittel- Dynamit in die Luft gesprengt. Forrilletsn. i9s Renate von Grieben. Roman von Hermann Birkenfeld. Nacndruct verboten. Mit diesem umfangreichen Briefe geht Renate zu ihrer Freundin in das große, noch von Vaters Zeiten sehr einfach gehaltene Wohnzimmer des Zirpshagener Gutshofes. „Er ist für dich so gut wie für mich — ganz neutral", spricht sie mit halbem Lächeln. In Wahrheit hat sie es sehr dankbar empfunden, daß ihre eigenen Herzens erlebnisse mit keinem Wort berührt wurden. Grete läßt einen langen Kranz aus Taxus, Astern und Georginen, an dem sie eifrig wand, vom Schoße gleiten und steht auf. Willst du verweile meine Arbeit übernehmen? Der Kranz muß ja bis Mittag nach dem Schulhause, und ich habe mich für unseren Besuch noch ein bißchen menschlich zu machen", ruft sie lachend, und greift nach einer halben Flechte, deren Ende sich am Hinterkopf gelöst hatte. „Du siehst aus wie eine richtige Gutsfrau", spricht Renate, mit einem vollen Blick auf die kräftige Gestalt iu der blauen Latzschürze. „Noch dazu wie eine ganz lange", antwortet Grete, und faltet die Blätter des Briefes auseinander. Rasch gleiten die Koniferenbüschel und bunten Blumen durch Renatens Finger. Sie hat schon vorher an dem Kranze geholfen und war nur durch den Postboten in ihrer Arbeit unterbrochen worden. „Meinst du nicht, daß Hertha sich sehr zu ihrem Vor teil verändert?" fragt Grete, als sie mit der Lektüre zu Ende rvar. „Ohne Frage! Die Walbluft auf Oppen scheint da segensreich zu wirken." „Hm!" macht Grete nach einer Weile, die Lippen spitzend. „Dieser Herr Marxen — ein Bürgerlicher, und die stolze Hertha —" ,Mohin denkst du?" Grete tippt ihr mit dem Briefcouvert auf die Mangen. „Ich denke aus, was mir vor acht Wochen eine ttn- Möglichkeit erschienen wäre." „Du sprichst in Rätseln." „Tut nichts, mein Schatz; wollen uns nicht darum zanken. Ich bin eben heute ein bißchen aufgeräumt, weil gegen die Prophezeiung des Herrn von Herdt unser neues Schulhaus dennoch diesen Sommer unter Dach ge kommen ist." „Besorgnis des Herrn Landrates um deine Börse." Wieder lacht Grete. „Ich glaube, er ist eigentlich mit sich in fortwährendem Zweifel, welcher von uns er den Vorzug geben soll." „Das heißt, er weiß nicht genau, wer von uns am meisten besitzt. Pfui, dies gemeine Geld." „Dein alter Refrain!" protestiert Grete, ihr die Zweiglein für den Kranz zurechtstutzend. „Wie ich dies gemeine Geld der Allgemeinheit nutzbar mache, freut mich ganz riesig. Und du selbst mit deiner Stiftung zur dauernden Anstellung einer Wirtschaftslehrerin —" „Die zwölfhundert Mark jährlich machen mich nicht arm." „Aber du wirst dir die Ungnade des Herrn von Herdt zuziehen, wenn du fortfährst, deine Konsols zu ver geuden." „Warum nicht auch die des kleinen Herrn von Nah mann mit dem engen Halskragen?" „Und dem Krebskopf! Bliebe dir als einziger Freund nur der Amtsrat Fcldner auf Vrüntzow." „Der Brüntzower ist mir von deine» Nachbarn noch der liebste." „Hm! Jedenfalls sind auch mir unsere alten Herren lieber als die jungen. Doch sag' — ich meine, du hättest vorhin zwei Briefe bekommen?" Renate muß sich gerade auf den Korb mit den letzten Taxusresten bücken, und das Blut ist ihr davon ein wenig zu Kopf gestiegen, als sie entgegnet: „'Der zweite war von Fräulein Hengler aus Riedstädt." „Der Tante des Herrn Volkhard?" Diesmal antwortet Renate gar nicht; sie ist auch zu eifrig beschäftigt, das Schlußbüschel in das Kranzende zu winde«. „So!" spricht sie, nun ausstehend, und hält das Gewinde hoch, und Fräulein von Horsten ruft, statt noch einmal zu fragen: „Meine Zirpshagener werden Augen machen; aber ein klein bißchen wollte ich doch anch mit Hand anlcgen." Und mit kritisch zusammengckniffenen Augen prüft sie triumphierend das Erzeugnis dieser Tätigkeit. Die Einweihungvfcier des Schnlhauses ist programm mäßig verlaufen; mit einer schneidigen Rede des Land rates, in der er die Insassen von Dorf und Gutsbezirk zu eifriger Dankcsbetätigung der Patronatsherrin gegen über ermahnte, mit ein paar Magenüberladungen der Dorfkinder an lzcrrschaftlichem Kuchen und eines des gleichen beim Amtsrat Fcldner, dessen breites Gesicht auf der Heimfahrt ein bißchen weinselig zwischen den Hellen Herbstmänteln seiner beiden Töchter Gerta und Wil helmine durchlcnchtet — „wie 'ne Blutappelsin' zwischen ein paar Lilienstengcln", hatte der alte Statthalter Lüders nicht sehr treffend verglichen; denn die jungen Damen waren sür zwei Lilienstcngcl viel zu rundlich gediehen. Nun atmet die Gutsherrin in ihrem Speisezimmer, in das sie mit Renate und Fräulein Martens zurückgegangen ist, doch auf, wie befreit von einer großen Bürde, und hätte den Rat der umsichtigen Dora Martens, die Wieder herstellung gewohnter Ordnung getrost ihr zu überlassen, ohne Zaudern befolgt, wenn es nicht, ihrer Meinung nach wenigstens, gar zu vielerlei zu erledigen und zu helfen gäbe. „Aber du, Renate — dir merke ich's an, daß du abge spannt bist. Willst du nicht lieber schlafen gehen, das heißt, wenn Herr von Nahmann bei Tisch für dich ebenso ausreichend gesorgt hat, wie für sich selbst." Renate lacht. „Der Hunger schwand mir fast — vom bloßen Zu schauen." „Nun, Herz, die Art der Sättigung hält nicht^vor, und ich fürchte, du bist schachmatt." „Aber ich danke wirklich", protestiert Renate, und Grete von Horsten sieht sic ein paar Sekunden sinnend an. „Also nur Ruhe? Dann gute Nacht, mein Schatz!" Auf ihrem Zimmer vor dem Spiegel findet Renate selbst, daß sic matt aussieht, unzufrieden — mit sich selbst, wie sie sich heute den ganzen Tag seit Empfang des Briefes von Fräulein Hengler gefühlt hat. Die stillen und doch so arbeitsreichen Tage auf ZirpS- hagen haben so manches früher Erlebte in ihrer Erinne rung verblassen lassen; der anfängliche Schmerz nm die erste gewaltige Enttäuschung ihres Lebens, der Haß gegen den, der sic ihr bereitete, wie der Widerwille gegen den Mann, der so rücksichtslos gegen den Geliebten wie gegen sie selbst auftrat, ist objektiverer Ueberlegung gewichen, und wenn sic sich gewöhnt hat, sich selbst die Hauptschuld an aller erfahrenen Bitternis beizumefsen, so ist lzeute, durch den R ^iiäoier Brief, langsam ein nnbcsicgliches Empfinden über sie gekommen, daß sie Georg Vvlllzard schweres Unrecht getan und ihm Dank schulde statt Nicht achtung. Welches Urteil mochte er sich über sic gebildet haben! Nun hat Fräulein Hengler ihr mitgctctlt, daß sich ihrem Neffen Gelegenheit biete, sein Geschäft durch An kauf eines Sägewerkes zu vergrößern, und ist ihr dadurch unbewußt die Handhabe geboten, ihrem Dank tätigen Ausdruck zu geben. Und ihre tagsüber für und wider streitenden Erwägungen, ihre Bedenken finden endlich ihren Abschluß in den Zeilen, die sie jetzt, während draußen für das Gesinde die Festfreude in Tanzweffen der länd lichen Ziehharmonika ausklingt, niederschretbt: „Liebe Tante Hengler! Deinen Brief würde ich wohl nicht so auf der Stelle beantworten, wenn ich nicht glaubte, Dir, wie mir selbst, von Nutzen zn sein, indem ich Dich bitte, Herrn Volkhard zu veranlassen, über jeden Betrag aus meiner Kaffe, dessen er zur Verwirklichung seiner Pläne bedarf, zu ver fügen. Ich werde deshalb meinem Berliner Sach walter, Herrn Justizrat Derndorf, Dorothcenstraße 44, unverzüglich entsprechende Anweisung senden, und würde mich innig freuen, wenn Du Dir solcherweise Deinen Wunsch, das Anwesen in der Bäckerstraße zu behalten, erfüllen könntest, ohne daß Dein Herr Neffe auf den seinen, das größere Sägewerk von Nohls Erben zu be treiben, verzichten müßte. Wenn demnach Herr Bollhard sich neben dem Dank, den er sich bisher um mich verdiente, auch noch den gewinnen will, mir geschäftlich zu nützen, so würde meine Hochachtung vor ihm nur steigen. Wie herbes'Mitgcfühl Dein« Zeilen über Herrn Busch korns Festungshaft in mir erweckten, brauche ich Dir nicht zu schildern; ich wünschte nur, seine Mutter möge mir den Kummer über ihren Sohn nicht nachtragen, zu mal wenn sein Freund Krydag, der ihn, aus Deinem Briefe zu schließen, in Magdeburg besuchte, mit der er freulichen Nachricht über sein eifriges Studium keine Schönfärberei getrieben hat. Deine Besorgnisse über mein Befinden würden ver gehen, wenn Du mich hier einmal sehen könntest: die Landlnft, die anregende Tätigkeit als — freilich nicht immer erfolgreiche Stütze — meiner Freundin, das be kommt nitr vorzüglich. Nur komme ich mir bisweilen neben Grete recht hülfloS, um nicht zu sagen überflüssig, vor, und in solchen Stimmungen fühle ich mich so müde! Doch das sind wohl mehr launenhafte Anwandlungen, ein Rest der seelischen Erschütterung, die das Finden und Ver lieren Lothars mir bereitete. Erinnerst Du Dich noch, wie sehnlich ich mir im Frühjahr einen Bruder wünschte? Und ich wünsche mir ihn auch jetzt noch, kräftig, männlich — überhaupt irgend ein Wesen, das meinem Leben Halt und Tätigkeit, Zweck und Richtung gibt, denn hier — ach, ich fürchte, doch auf die Dauer mein volles Genügen hier nicht zu finden. Weniger jedcnfasts als die reform durstige Grete. Doch auch für sie hege ich ähnliche Be sorgnis. Einstweilen zwar bleibt hier noch genug zu schaffen, und dann der Erfolg — abzuwarten. In herzlicher Zuneigung Renate." (Fortsetzung folgt.)
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