10 Werner Schmidt Die Ausstellung der Dresdner Gemälde in der Nationalgalerie Berlin 1955/56 Unter der Ägide von Nikita Chruschtschow beschloss das Politbüro der KPdSU im März 1955, die seit 1945 in der Sowjetunion unter strenger Geheimhaltung verwahrten Meis terwerke der Dresdner Gemäldegalerie zurückzugeben. Das war eine unerhörte Sensa tion. Ich erlebte das bewegende Geschehen als junger Mitarbeiter der Berliner National galerie. 1 Bis zu diesem Zeitpunkt durfte in der DDR öffentlich nicht einmal gefragt werden, wo sich die Sixtinische Madonna, die Gemälde Rembrandts oder Tizians befanden. Das war ein Tabu. Die Rückgabe war eine der grundlegenden außenpolitischen Entscheidungen Chruschtschows im Zuge der Abkehr von Stalins Gewaltherrschaft. Nunmehr wurde das Eigentumsrecht der Deutschen an ihren Kulturgütern an diesem herausragenden Bei spiel von der Sowjetunion anerkannt. Es war ein weltpolitisches Signal dafür, dass die Sowjetunion das Völkerrecht, das Stalin ebenso wie Hitler gebrochen hatte, respek tierte. Chruschtschow bezog damit beispielhaft Stellung zum Abtransport des Kulturgu tes aus der sowjetischen Besatzungszone. Die Gemälde der Dresdner Galerie wurden ausdrücklich »dem deutschen Volk« übergeben. Der Abtransport in die Sowjetunion nach Kriegsende wurde als Sicherstellung und Rettung zur »zeitweiligen Aufbewahrung in der UdSSR« begründet. Begriffe wie Beute, Kompensation oder gar Trophäen wurden in den Erklärungen der sowjetischen Regierung konsequent vermieden. 2 Es war 1955 von vornherein klar, dass die Gemälde nach Dresden als ihrem angestamm ten Ort zurückkehren. Aus zwei Gründen zeigte man sie zuerst in einer Ausstellung in Ber lin. Einmal wegen des internationalen Prestiges, denn von Westberlin aus konnten die Kunstfreunde aus aller Welt ungehindert in den Ostteil der Stadt fahren und die Ausstel lung auf der Museumsinsel besichtigen. Natürlich spielte die Repräsentation Ostberlins als Hauptstadt der DDR eine wichtige Rolle. Ein wesentlicher praktischer Grund kam hinzu. In Dresden standen noch keine Räumlichkeiten zur angemessenen Ausstellung der Gemälde zur Verfügung. Hingegen war die Nationalgalerie in Berlin bereits wieder aufgebaut. Die Regierung der DDR übertrug die Leitung der Ausstellung in der Nationalgalerie dem Hausherrn, dem Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, Geheimrat Prof. Dr. Dr. h.c. Ludwig Justi, aber nicht nur aus formalen Gründen. Der 79-jährige Justi war unter den Kunsthistorikern in der DDR der beste Kenner der Dresdner Gemälde. Er hatte 1904 in Kontroverse mit Heinrich Wölfflin nachgewiesen, dass der »Dresdner Altar« ein eigenhändiges Werk Albrecht Dürers ist. Er publizierte u.a. eine Geschichte der Malerei