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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 22.06.1906
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1906-06-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19060622028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1906062202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1906062202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1906
- Monat1906-06
- Tag1906-06-22
- Monat1906-06
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Mts. unterzeichnet. *JnderösterretchischcnDelegation wurde über den Dreibund, die ungarische Frage und die Juden metzeleien in Bialystok debattiert. (S. Ausland.) * Die Meldungen über neue Bauernunruhen in Rußland mehren sich in bedenklichem Maße und treffen in Petersburg bereits aus allen Gegenden des Reiches ein. politische Tagesschau. Leipzig, 22. Juni. Ein Reichsoberhaus. Der Gedanke der Schaffung eines Reichsoberhauses, mit dem „gewisse Wirkungen des jetzigen Reichstagswahl rechtes" abgeschwächt" und „einigermaßen paralysiert" werden könnten, wird von neuem in den „Grenzboten" er örtert. Diese im Jahre 1870 vom damaligen Kron prinzen und einer Anzahl deutscher Fürsten warm ver tretene Idee, die nur an der Abneigung Bismarcks scheiterte, sei, wie aus einigen Andeutungen des Grafen Posadowsky im Reichstage während des letzten Winters hervorgehe, in maßgebenden Kreisen von neuem in Er wägung gezogen worden. Es hätte nahe gelegen, die durch Einführung der Diäten entstandene Demokrati sierung der Reichsgrundlagen durch das Gegengewicht eines Oberhauses auszugleichen. Die Ansicht, daß der Reichstag für ein solches nicht zu haben sei, sei unzu treffend. Freisinnige Blätter hätten sich keineswegs ver neinend ausgesprochen, und schließlich würden sich auch weder die konservativen Gruppen, noch die National liberalen, noch das Zentrum ablehnend verhalten. Auch Fürst Bismarck hätte in seinen letzten Lebensjahren einen prinzipiellen Widerspruch gegen ein Oberhaus nicht mehr erhoben, sondern häufig zugegeben, daß es nützlich wirken könne. Nicht nur Amerika, Frankreich und die Schweiz — die Musterrepubliken — hätten durchweg Senate als ausgleichende Macht eingcführt, sondern es sei überhaupt kein größerer Staat ohne eine Erste Kammer vorhanden. — So weit die „Grenzboten". Ob ihre Annahme bezüglich der Absichten in der Reichs- regierung richtig ist, können wir nicht beurteilen. Durch aus schief ist der Vergleich mit den Auslandsstaaten. Bei ihnen sind die Unterhäuser politisch viel einflußreicher als der Reichstag. Eine der Regierung gegnerische Mehr heit übt einen Einfluß auf die Zusammensetzung des Ministeriums aus. Blp uns ist dies nicht der Fall. Man kann vielmehr häufig wahrnehmcn, daß ein im Parla ment kaum noch möglicher Minister durchaus fest auf seinem Stuhl bleibt. — Andererseits ist nicht ersichtlich, welchen Nutzen ein Oberhaus neben dem Bundesrat baden soll. Reichstagsbeschlüsse mit noch so großer Mehr heit verschwinden schon heute im Papierkorbe des Bundes rates, sobald sie ihm nicht genehm sind. Die Errichtung eines Reichsoberhauses würde nur die Geschäftsführung noch mehr erschweren. Jedes Gesetz würde erst in den einzelnen Bundesstaaten, dann im Bundesrat, dann im Reichsoberhaus, dann im Reichstag beraten werden. Und weiter: von den Regierungen erstrebte Gesetze müßten nicht nur die Scylla des Reichstages, kondcrn auch die Charybdis des Reichsoberhauses passieren, und so würde diese Verfassungsänderung auch durchaus nicht ohne wei teres im Interesse der Reichsregierung liegen. Für den sozialpolitischen Fortschritt, demdieRegierung immer noch leidlich zugetan ist, wäre das Reichsoberhaus wahrschein lich das Ende. Es würde auch für die politische Praxis siclwr nur eine Vermehrung des konservativ-agrarischen Einflusses bedeuten, denn daß die Zusammensetzung dieses Reichsoberhauses nach anderen Idealen erfolgen würde, als' die der schon bestehenden „Herrenhäuser" in Preußen-Deutschland, können nur politisch Kinder glauben. Reichstagsersatzwahlen und Sozialdemokratie. Auf Grund der amtlichen Statistik untersucht Assessor Schwabe-Eisleben im neuesten Hefte der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik" den Rückgang der Sozialdemokratie bei den Neichstagsersatzwahlen, die seit der letzten Hauptwahl bis September 1905 stattgefunden haben. Indem er aus den 27 Ersatzwahlen alle diejenigen ausscheidet, die wegen geringerer Wahlbeteiligung oder wegen der Aufstellung reiner Zählkandidaturen unsichere Vergleichspunkte liefern, beschränkt sich Schwabe auf sieb zehn Nachwahlen. Sechzehn davon fallen in die Zeit nach dem Dresdener Parteitage und haben bis auf drei unter seinen Wirkungen zu „leiden". Bloß drei nämlich zeigen eine verhältnismäßige Zunahme der sozialdemokratischen Stimmenzahl, alle übrigen eine Abnahme, wobei zu be achten ist, daß nur in drei Kreisen die Person des sozial demokratischen Kandidaten wechselte und ausschließlich „bewährte" Parteikräfte kandidierten. Der Rückgang der sozialdemokratischen Stimmen beschränkt sich nicht etwa auf eine oder die andere der drei in der amtlichen Statistik unterschiedenen Ortsgrößenklassen, sondern ver teilt sich beinahe gleichmäßig auf alle. In fünfzehn von den siebzehn Wahlkreisen nahm die Sozialdemokratie in den Ortschaften bis zu 2000 Einwohnern um 14,2 Prozent ab, in zwölf Kreisen in den Ortschaften mit 2000 bis 10 000 Einwohnern um 16,1 Prozent, in 22 Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern nm 17,3 Prozent. Mithin war der Rückgang am größten in den größeren Orten, während das platte Land auch zugunsten der Sozial demokratie als beharrlicher sich erwies. Die starke Zu nahme der Sozialdemokratie bei der Ersatzwahl in Essen führt Schwabe mit Recht auf den Streik der Bergarbeiter des Ruhrgcbietes zurück, der die sozialdemokratische Agitation auf fruchtbaren Boden fallen ließ. Die Gärung in der russischen Armee. Während der letzten Tage sind aus verschiedenen Städten Rußlands Unruhen im Heere gemeldet worden. In Scbastopol, in Rjäsan und, wie es scheint, auch in Kronstadt sind sie bis zur offenen Meuterei ausgeartct, und was sonst über offenkundige Disziplinlosigkeit, über Soldatenversammlungen, „Forderungen" und Dienstver weigerungen berichtet wird, zeigt, daß die Dinge im Heere nicht gut stehen. Jin ^vorigen Jahre ist die revo lutionäre Bewegung in den Städten nur durch das Ein greifen der Truppen, die im allgemeinen ihrem Fahnen eide treu geblieben waren, unterdrückt worden. Deshalb haben die Revolutionäre seitdem eine sehr lebhafte und anscheinend nicht erfolglose Propaganda unter den Sol daten getrieben, um sie für sich zu gewinnen. Tie Meige- rung, „Polizeidienste" zu tun, d. h., die Polizei gegen Aufrührer zu unterstützen, ist bereits eine ziemlich um fangreiche geworden, und läßt befürchten, daß, kommt es wiederum zu revolutionären Ausbrüchen, nicht mehr so unbedingt auf das Militär zu zählen ist. Dem „Slowo" zufolge, hat der Kriegsmini st er dem Zaren gestern Bericht über die Gärung in der Armee er- stattet, und erklärt, er befürchte, daß die Mißstimmung nicht erfolgreich unterdrückt werden könne, und, falls die Duma vertagt werde, die Situation eine noch gefähr lichere Gestalt annehmen würde. Ist dies wirklich der Inhalt des Berichtes, so würde er allerdings die schlimmsten Befürchtungen bestätigen, doch ist „Slowo" keine zuverlässige Quelle, ein Fehler, der fast allen russi schen Zeitungen anhaftet. Auf jeden Fall aber ist die revolutionäre Agitation im Heere nicht ohne Einfluß ge blieben, wie das die Ereignisse der letzten Tage gezeigt haben. Nicht wenig zu dem aufsässigen Geist in^der Armee hat die in Odessa erscheinende revolutionäre Sol- datcnzeitung „Die Kaserne" beigetragen, die, obgleich in den Kasernen verboten, in vielen Tausenden von Exem plaren unter dem Militär verbreitet worden ist. Gestern ist die Druckerei, nach einem Telegramm aus Odessa, von der Polizei geschlossen worden. Das wird wenig nützen, da es natürlich eine Kleinigkeit ist, irgendwo binnen kurzem eine neue Zeitung ins Leben zu rufen, die in die Kasernen eingeschmuggelt wird. Bei der vielfach schon eingerissenen Disziplinlosigkeit läßt sich das gar nicht ver meiden. Noch allem muß man die Stimmung im Heere mit großer Besorgnis betrachten. Die revolutionäre Be- wegun' nimmt offenbar einen neuen Anlauf. Und was das Bedenklichste ist, das ist der drohende Ausbruch von Aufständen unter der großen Masse des russischen Bauern volkes. Die aufreizenden Reden des Parlaments schüren die Gärung im ganzen Reiche mächtig: die unsinnigen Landversprechungen, an deren Realisierbarkeit die meisten der Abgeordneten selbst nicht glauben, können nur den Zweck haben, die Banernmassen zu revolutionieren, deren künstlich erregte Begehrlichkeit sie zum Aufruhr gegen Staat und besitzende Klassen treiben muß. Der erste Ansturm der Revolution wurde dank der Zuverlässig keit der Truppen niedergeschlagen. Damals aber handelte es sich meist nur um Vorgehen in Städten. Werden sich aber die Soldaten, die zu drei Vierteilen Bauernsöhne in ihren Reihen haben, auch gegen ihre eigenen Väter und Brüder schlagen, tyenn cs zu einem großen russischen Bauernaufstände kommen wird? Von der Beantwortung der Frage bangt die nächste Zukunft des russischen Staates und insbesondere der Dynastie ab. veulscves Keich. Leipzig, 22. Juni. * Tie nächsten Stapelläusc in der deutschen Flotte. Nachdem am 14. d. M. der Panzerkreuzer „Gneisenau" zu Wasser gebracht worden ist, hat, wie der „Information" mitgeteilt wird, das Reichsmarineamt nunmehr fest gesetzt, daß der Stapellauf des Minendampfers der von der Wcscrwerft bei Bremen gebaut wird, in der letzten Woche dieses Monats erfolgen, und das auf der Kaiserlichen Werft in Wilhelmshaven im Bau befindliche Vermessungsschiff „I!" im Monat Juli dieses Jahres den Stapel verlassen soll. Drei kleine Kreuzer, „O", „Ersatz Blitz" und „Ersatz Wacht", werden noch in der zweiten Hälfte dieses Jahres ins Wasser gleiten. * Haussuchung bei der „Freisinnigen Zeitung"! Eine Haussuchung fand am Donnerstag abend in den Redak- tions- und Expeditionsräumen der „Freisinnigen Zei- tung" statt. Gesucht wurde das Material zu dem Artikel , Und abermals Jesko v. Puttkamer" in der letzten Sonn- tagsnummer. Tie Staatsanwaltschaft nimmt an, daß der Artikel, dec den Bericht des Personalreferenten der Kolonialabteilung über die Affäre Puttkamer enthüll, auf deni Vertraucnsbruch eines Beamten der Kolonial abteilung beruht, und sucht Unterlagen zu sammeln zu einer Strafsache wider „Götz und Schneider" auf Grund von 8 353a. des Strafgesetzbuches. Die Haussuchung ver lief erfolglos. Die Polizeibeamten nahmen einige Mannskripte und Zeitungsausschnitte mit. — Also end lich rührt sich die Kolonialabteilung, aber daß sie es nur tat, um die strafbare Handlung eines Beamten zu ahnden, anstatt um volle Klarheit in der Sache selbst zu schaffen, spricht nicht für ihr Verhallen. * Die Portocrhöhung im Orts- und Nachbarortsver- krhr wird demnächst in der württembergischen Zweiten Kammer zur Sprache kommen. Die volksparteiliche Fraktion der Abgeordnetenkammer hat eine Interpellation eingebcocht, in der die Regierung um Auskunft ersucht wird, wie sie sich zu der von der Reichs postverwaltung geplanten Gebührenerhöhung des Orts- und Nachbarortsverkehrs für Postkarten, Drucksachen und Warenproben zu stellen gedenkt, und ob sie das bisherige niedrige Porto aufrecht erhalten wird.' Wie in Abgeord neten kreisen verlautet, soll beabsichtigt gewesen sein, die Erhöhung des Orts- und Nachbarortsportos schon bis zum 1. Juli eintreten zu lassen, ohne zuvor den Landtag zu hören. ' Pfarrer Karell hat, wie das „Darmstädter Tage blatt" meldet, gegen die vom Ober-Konsistorium über ihn verhängte Disziplinarstrafe eines Verweises Beschwerde bei dem großherzoglichen Ministerium eingelegt. * Der lippische Landtag beschloß, wie uns ein Privat telegramm aus Detmold meldet, die Annahme der Regierungs-Kalivorlage, nach welcher das Mutnngsrccht nach Kali im Fürstentum nur dem Staate zusteht. In der Debatte erklärte Staats minister Freiherr v. Gevekot auf agrarische Angriffe hin, daß er nach seiner Ansicht pflichtwidrig handeln würde, wenn er etwas, das der Gesamtheit gehöre, in dem Besitz einzelner Personen belasse. * »leine Palitische Nachrichten. Der Bürgerausschuß der freien Stadt Lübeck lehnte mit großer Mehrheit gegen die Stimmen ker Linksliberalen den Antrag auf Verfassungsänderung und Revision in freiheitlichem Sinne ab. — Der Besuch der 600 französischen Bergleute in Herne wurde definitiv bis zum September verschoben; er war in den letzten Tagen Gegen stand eifriger Erörterungen der politischen Behörde. — Wie uns ein Privattelegramm ans Arolsen meldet genehmigte der Landtag das Grundenteignungsgesetz zur Edertalsperre. — AuS Berlin wird gemeldet: Der Kampf um das Bier ist vorläufig beendet. Tie Verhandlungen der Berliner Brauereien baden zu einem end- giltigen Resultat geführt. Die Preise pro Hektoliter wurden um 1 20 heraufgesetzt. * Hamburg, 21. Juni. Die bei der Hamburg- Amerika Linie beschäftigten Hafenarbeiter hielten heute eine Versammlung ab, in der sie die Ablehnung der von der Hamburg-Amerika Linie geplanten obligatorischen Feuilleton. Llie wir unn ru den llliderstündcn cier Liest stellen, ob wir geärgert uns geläutert, verkümmert oder ver edelt daraus hervorgehen, gibt den Ausweis, ob wir Sklavenseelen oder Herrengeister sind. Zerbrichst du oder wirst du gehässig, so haft du dir selbst den Stand ort angewiesen. bienbsrd Lrnile Sc Girar-in. sGeboren den 22. Juni 18O6.s Von Fr. Katt lBerlins. Eines der schönsten Gemälde von Greuze ist das Mädchen mit der Taube. Die Weichheit der Züge, das unaussprechlich Zarte dieses Franenantlitzes bat der Künstler hier in einer Hanz außerordentlichen Vollendung wiedergegeben. Das Original des wunderbaren Bilde? ist die reizende Adelaide Marie Fagnan, Tochter eines hohen Finanzbeamten, der dem König Ludwig XVI. schlicht und recht diente, ein Freund der Bourbonen d zu seinem Ende. Mit 16 Jabren heiratet die junge Fagnan den späteren königlichen Rat Dupuy, welcher, nach jahrelangem Aufenthalt auf der Insel Gouadeloupe nach Frankreich zurückgekehrt, im Jahre 1842 in Paris stirbt. Madame Dupuy ist die Mutter des Mannes der Ideen und Handlungen, des publizistischen Genies, Emile de Girardin, nächst Auguste Comte und Proudbon eines der bedeutendsten Männer Frankreichs. Dieser illegitime Svrößlina einer verwöhnten Modedame und eines napoleonischen Offiziers, deS Generals Grafen Alerandre de Girardin, am 22 Juni 180-6 in Paris ge boren, bat in seiner Jugend bereits die Grausamkeit des Schicksals kennen gelernt, welches ihm seine Geburt aus- «rlegt. Dieses versteckte, geheimnisvolle Dasein weiß er späterhin in seiner gewaltigen sozialen Studie, dem „Emile", sNamenlose Fragmente, 1827j so ergreifend zu schildern, im Sehnsuchtsschrei nach dem Recht, dem Recht der Geburt, dem Recht des unehelichen Kindes. In einem kleinen normannischen Dorfe, Pin, bei einfachen Leuten, verbringt der Knabe bis zu seinem zehnten Jahre seine Tage. Tas zarte, blonde, träumerisch veranlagte Kind führt ein einsames, weltvergessenes Dasein; und doch lernt cs leine Pslegeeltern, die Darels, lieben, den frischen, fröhlichen Stallknecht des königlichen Gestütes, Papa Darel, der in seiner schlichten Weise aus den kleinen Emile Vorteilhast cin- zuwirken versucht. Auf der Primarschule in Argentan, dem nächstaelegenen Städtchen, lernt der Wißbegierige fleißig, verlassen von den wirklichen Eltern, welche sich herzlich wenig um ihren überflüssigen Sprößling kümmern. Tag und Nacht träumt er von jenen Beiden, der blonden, schönen Frau, deren flüchtige Küsse er auf seinen Lippen gespürt hat, denkt er an jenen unbekannten Vater, dessen kriegerisches Acußcres, dessen glänzende Uniform sich seinem Gedächtnis eingepräqt haben. Von Zeit zu Zeit überwältigt ihn diese Sehnsucht nach der mütterlichen Zärtlichkeit, dem väterlichen Schutz. In seiner Art kümmert sich ja auch der Vater um Emile. Von 1806 bis 1814 sorgt er für ihn. bis er sich verheiratet, die kargen Besuche gänzlich aufhören und sich die Einsamkeit noch fühlbarer macht. Tic Mutter zittert vor dem Kind, welches eines Tages seine Abstammung erfahren dürfte. Tie Jahre vergehen: 1824 finden wir den jungen Emile Lamotbe, wie er sich jetzt nennt, in Paris als Wissenden, von glühender Sehnsucht beseelt, das stolze Palais seines gräf lichen Vaters zu betreten, in welches er nicht einziehen darf. Die Gräfin Senonnes, eine Gönnerin aus der normannischen Heimat, verschafft ihm einen kleinen Posten im General sekretariat des königlichen Hausministeriums Der junge Mensch fühlt sich nicht glücklich in seinem Berns, er wird Börsianer. Im Spekulationsrausch verliert er bald die Hälfte seiner zwölfhundert Franken Rente. Die militärische Karriere bleibt ihm eines kleinen Herzfehlers wegen ver schlossen. Mit 600 Franken Zuschuß soll er sich dnrchguälen. Was nun? Das kleine Parterrestübchen in der Avenue des Champs- Elrch'cs Nr 88 —später bewohnt er in derselben Vrachtstraße ein herrliches Palais — wird ihm Mm Ort des Martyriums. Er beschließt, etwas zu schreiben, in jenem „Emile", den Jules Janin als Kunstwerk preist, sein eigenes Leid zu schiwern. Von da an datiert sein Ruhm. Der kommende Mann Frank- reichs ist da, der unermüdliche literarische Kämpfer entwickelt sich, der bahnbrechende Pionier auf dem Gebiete des Jour nalismus tritt auf, der scharfsinnige Politiker einer gewissen Epoche erscheint. Seine „Presse" schlug wie der Bsitz durch die verblüffende Billigkeit ihrer ersten Sou-Nummer ein. Unzählige soziale Studien entsprangen seiner Feder. Er be schäftigte sich mit der Frauensrage, schrieb als Dramatiker nervenkitzelnde Stücke. Als Politiker war er zuerst Orlea- nist, dann liebäugelte er mit dem Präsidenten Louis Napo leon. Der Staatsstreich machte ihn zum enragiertcn Repu- blikaner. Während des Kaiserreichs freundete er sich eine Zeitlang mit Badinguet wieder an. nach der Niederlage be trauerte er als glühender Chauvinist Frankreichs Lturz, Straßburg und Metz sind für ihn unersetzliche Verluste. Viel leicht mag ihm sein Wahlspruch: „Eine friedliche Republik" sein ganzes Leben hindurch vorgeschwebt haben. Jedenfalls ist Emile de Girardin aus dem Felde der Politik ein etwas unsicherer Kantonist gewesen Wie anmaßend klingt nicht das Wort, welches er seinem Protektor, dem Mann mit dem Regenschirm, dem Bürgerkönig Louis Philippe als Depu tierter 18-18 zurust: „Abdanken, Sire, abdanken!" Er greift Guizot auf das schärfste an und hängt sich dennoch ein Mäntel chen um, indem er sich nicht ganz und gar in die konstitusio- nelle Opposition einreiht. Da kommt der Schlausuchs Gi- rardin zum Vorschein. Ein Knotenentwirrer ist er immer gewesen, dieser junge, 21jährige Mensch, welcher am 27. Juni 1827, dem Tage seiner Mündigkeit, trotz des Pro zesses, den ihm sein Vater macht, kühn und unentwegt den Namen Emile de Girardin annimmt. Herr von Martignac, der Minister des Innern, ernennt ihn unter diesem Namen am 2. August 1828 zum Inspekteur der schönen Künste, da seine Kritiken vlxinomenales Aussehen erregt lmben. Jetzt können die Eltern in Wahrheit aus dieses Kind der Liebe stolz sein; aber erst im Jahre 1847 adoptiert der Graf seinen Sohn, das heißt er erkennt ikn an. Degenstiche,'ernstliche Verwundungen sind die Folgen seiner Presseaventüren. Er tötet Armand Corel, den Herausgeber des „National", und wird selbst schwer verletzt. Er ist Sparkassen- und Volksschul mann, Begründer der Nniversal-Bibliotheken, Atlasse und Almanache, der Nützlichkeiten für einen Sou. des Journals der Moden, des literarischen Pantheons. Alles dos setzt er ans Werk, bis das Größte auf diesem Gebiete erfolgt, die Herausgabe der „Presse" sl836>, eines Journals, welches jähr lich 40 Franken kostet, während solch« bis dahin 80 Kranken gekostet haben. Man reißt die Ankündigungen ab, dennoch finden sich bald hunderttausende von Abonnenten. Für Girardin galt Riskieren olles; wer wagt, gewinnt. Er kon statiert die Tat, aber er zergliedert sie nicht. Wahrheit er gibt sich aus dem Augenschein, Ordnung aus einer gewissen Kenntnis der Dinge. „Kein Mensch", sagt er in seinem Riesenwerk „(B'cstions äe mon iemps", „soll die Macht haben, einen anderen, mag er sein, wie er will, zu unter drücken oder zu strafen. Alles durch die Zivilisation, nichts durch die Revolution. Sich ja nicht vom Volk bedauern lassen, aber ihm dienen!" Hineingefunden hat er sich ja auch mit gutem Anstand in dieses Sparianertum. aber etwas klebte ihm ja doch von seiner aristokratischen Abstammung an, und er führte das Leben des Grandseigneurs in seinem Palais, auf seinem Landsitz, dem Schlößchen in Engkien-les- Bains. Als er 1852 nach dreimonatlicher Verbannung aus Brüssel nach Paris zurückkebrte, veröffentlichte er das merk- würdige Buch: „Tie allgemeine Welt-Politik". Tarin oer- sucht er seine Anschauungen klar darzulegen. „Wenn die Schurken jeden Nutzen aus dem Guten lierausholen könnten, würden sie aus Bösartigkeit gut werden." „Emile und seine zehnte Muse" nannte man das Ehepaar, den Journalisten und seine Gattin, die Lamartine als die gute Kameradin jenes zu bezeichnen pflegte, die Delphine Gan. Verfasserin der „Lady Tartnsse", von „l-a joic kan peur" und den geutreickwn „I.ettres pari-Kennes". welche sic unter männlichem Pseudonym, dem eines Grasen de Lannay, schrieb. Balzac, Söuls«'-, Cbateauhriand, Mademoiselle Mars, die Rachcl, Viktor Hugo, Möry, Tböoplülc Gautier, sic alle fun gierten als Vasallen. Als die Frau am 29. Juni 1856 stirbt, sein iliater am 7. August desselben Jahres, vermag sich der Untröstliche lange Zeit nicht von diesem Schlag zu erholen. Ein Jahr darauf vermählt er sich dennoch wieder mit einem Fräulein Nrunold von Ticsenbadi, der Tochter der Gräfin Diesenbach, der Witwe des Prinzen Friedrich von Nassau Späterhin erfolgt Trennung, nachdem ihnen im Herbst des Jahres 1865 eine Tochter in Biarritz an der Diphtheritis stirbt. Zeitlebens verband ibn mit dem Prinzen Jeröme Na poleon eine innige Freundschaft, desgleichen mit der Prin- ^ssstt Marie-CIotilde. Sie waren die Paten seiner kleinen Ein unermüdlicher Arbeiter schied, am 27- Avril 1881, mit Ennle dc Girardin. Ewige Jugend, robuste Gesundheit nannte er sein Eigen. „Arbeiten und Denken" ist sein Wahl- svrnch gewesen,
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