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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 26.04.1894
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1894-04-26
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18940426029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1894042602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1894042602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1894
- Monat1894-04
- Tag1894-04-26
- Monat1894-04
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Brz«gS«PrekS GH» Himptrxpedttton oder den kl VKV^ »sttt oad de» Lororten errichtete» «o«- Astellea «bgeholt: vierteljährlich zw^maltger täglicher Znstellon, k» Hai« >l bchL Durch di» Post bezogen für jöüfchlaud und Oesterreich: viertel,ädrUch 8.—. Direct» tägliche Srenzbandleaduag in« Ausland: monatlich 7.Ü0. PieMorgen-AoSgab« erscheint täglich'/,? Uhr, di« Ndead-Uu-gad« Wochentag- S Uhr. Lehactis» mr- Lrveditioa: I»h«»»e««ass« 8. gKlkrpeditk« ist Wochentag« unnnterbröche» ^K«t vo» früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. Filialen: ea, «e»»'» Sartt«. (Alfred U»iverMtsstraße 1. L«i« Läsche, Velhvrinenstr. 1«. Part, und KtnIgSpktz 7» Abend-Ausgabe. ttmigtr^Tagtblait Anzeiger. Lrgan für Politik, Lolalgeschichte, Handels- und Geschäftsverkehr. A»zeige»«PrelS Ak 6 gespaltene Petitzeilr -0 PH.' Neelamen aater demRedactioatstrich itg«« ipaltea) ÜOH, vor de« Familie»aachrichte» (Sgelpatten) «OH. Größere Schriften tont «mserrm Preis- »erzetchaih. Ladellarischer and Ziffrrnjatz nach höherem Tarif. Ertra-Vellage» (gefalzt), anr mit der Morgen-Au-gade, ohne Postbesördernag ^ 60.—. mit Postbesordrrnng 7V.—. JiMahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag« lO Uhr. Marge n-Ausgabr: Nachmittag« 4 Uhr. Sonn- und Festtags früh '/,9 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je et»« halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets au die Erhebttt«» zu richten. Druck and Verlag von E. Polz tu Leipzig. ^«211. Donnerstag den 26. April 1894. 88. Jahrgang. Politische Tagesschau. , - Lei-jtg, 26. April. Der socialdemokratische Parteivorstand hat seinen Ausruf für den ersten Mat erlassen. Er sucht, wie regelmäßig, dir Thatsache, daß der socialistische Terrorismus, Wie er sich in dem ÄrbeilSverbot für den „Weltfeiertag" kund- giebt, au der Standhaftigkeit des deutschen BürgcrthumS zerschellt, unter einer Fluth von Phrasen zu begraben. Ter erste des Wonnemonats ist in der Thal der Tag schwerster Verlegenheit für die deutsche Socialdemvkratie. Man läßt sich aus internationalen Congrcffen als die socialistische Vormacht feiern pndbeim alljährlichen .Weltstreik",der zurBekundung dcrMacht de- .Proletariats" eingesetzt ist, sieht man sich zu einem non P08SNMU8 genöthigt. Die Eitelkeit der regierenden Herren Singer» Bebel und Liebknecht erhält bei dieser Gelegenheit jtdcSmal einen um so empfindlicheren Schlag, als die domi- nirende Stellung, welche sic bei den internationalen Ver anstaltungen prätendiren, mehr und mehr, namentlich von den Franzosen bestritten wird. Selbst der österreichischen Partei- leilung,dieden deutschen Bolkscharakter ja kenni.iniponirtdleZahl der in Deutschland abgegebenen socialdemokralischenStinimzeltel weniger, als daS Unvermögen, am l. Mai die Arbeiisrubc turchzusetzen, sic befremdet. Erwägt nian, daß das Licht» in bcm der deutsche „Genosse" seine Führer strahlen sieht, der Abglanz ihrer Berühmtheit im Auslande ist, so begreift man den Aerger der Primadonnen, der sich anläßlich der letzten „socialdemokratischen Ostern" mit den Worten Lust machte, die deutschen Arbeitgeber seien „roh und beschränkt". Die Roh heit, die sich von einer kleinen Zahl ehr- und vrrsorgungsbedürs- tigcr Agitatoren nicht den Fuß auf den Nacken setzen lassen will, dürste sich seit vorigem Jahre in Deutschland nicht gemildert, dagegen in England und der Schweiz Schule gemacht haben. Eö ist fast belustigend, zu sehen, wie die socialdeniokratische "Parteileitung dem nicht stattfindenden „Weltsest" einen weiteren Inhalt zu geben sucht, um der Großmannssucht und Un geduld der „Genossen" doch etwas zu bieten. Diesmal dient die .Maidemonstration" laut dem im Stile Napoleon'» l. gehaltenen Manifest dem .Weltfrieden". Vom Anarchismus, von dem die Socialdemokratie ja nicht- wissen will, kann das vielleicht einmal gelten, die Socialdemokratie dient aber nicht einmal wider Willen dem FricdcnSzedanken, es müßte denn sein, daß man Vorfälle, wie die von AigueS- Mortes, als Bürgschaften des Friedens betrachtet oder den Rede» des Herrn Liebknecht über die Chancen des nächsten Kriege« e>n« besänftigende Bedeutung beilegt. Für die franzö sischen „Genoffen" bilden die französische Armee und die .Revanche" ein noli me tangere, wie die deutschen Socialisten vom Brüsseler Eongreß her recht gut wissen. Von der Er weckung der Vorstellung, daß der 1. Mai den Frieden fördere, scheint übrigens die Parteileitung selbst nicht viel zu erwarten. Sie bringt in ihren: Ausruf etwa- Zugkräftigeres: .Der Sieg der Arbeiterklasse ist so sicher, als die Tag» und Nachtsoigc." Nun ist jeder Zweifel am Lusglänzen de« ZukunstSstaatS beseitigt, die Herren Singer und Bebel haben den Wechsel, dessen Valuta er bildet, acceptirt. Fehlt nur Eines: der Fälligkeitstermin. Im preußischen Abgeordnetcnhause ist demnächst eine Ftnanzdrbatte in großem Stile zu erwarten. Wie man sich erinnern wird, fand die dritte Beralhung des Staais- hauShalts-EtatS statt, ohne daß dabei die grundsätzliche Frage der Beziehungen der preußisch en und derReichSfinanzen zur Erörterung gelangte, obwohl der Verlaus der Tinge im Reichstage, wo die Steucrpläne der verbündeten Regierungen von der Mehrheit bei Seite geschoben wurden, dem Parlament des maßgebenden deutschen EinzelstaateS eine solche Discussion nahcgelcgt hätte. Doch war diese Unterlassung keine Versänmniß, sondern eine Verschiebung der Debatten aus den Zeilpnnct, wo in dem von dem Abg. Sattler ansgearbeiteten Generalbcrickt eine solide Grundlage für die Behandlung der finanziellen Angelegenheiten in Preußen und dem Reiche gegeben war. Die aus diesem Berichte sich von selbst ergebenden Forderungen enthalten weder etwa« Neues, noch etwas Anfechtbares: darin. daß die Finanzen Preußen- in sich gesund seien, daß eine gewisse Scheidung der schwankenden Eisenbahn-Einnahmen von dem übrigen Budget stattsinden müsse und daß das Reich für seine Bedürfnisse aus eigenen Kräften auszukommen habe, werbe» im Wesentlichen alle Parteien üdereinstimmen. Ander« liegt eS dagegen mit den Folgerungen, die daran- für die Entwickelung der ReichSsinanzen gezogen werden. Die conservaliv-nationalliberalc Mehrheit wird in der Zu stimmung zu dem Bericht einen starken Hebel erblicken, um von Seilen Preußens die Ausgestaltung der Reichssteuern und einer NeichSsinanzreform zu fördern; die CentrumSpartei und die Freisinnigen werden alles Mögliche versuchen, um die Wucht dieser Demonstration, deren Tragweite sie klar erkennen, abzuscbwächen, um sich die Hände für die Zukunft freizuhalten. Die Bedeutung der bevorstehenden Finanz debatten im preußischen Abgeordnetenhaus? ist daher klar: sic liegt in der Thatsache, daß nach dem Vorgänge der meisten kleineren und mittleren Einzelstaaten nun auch Preußen seine Stimme laut und nachdrücklich für die Noth- wendigkeit einer sowohl im Reichs- wie im LaudeSintrrefle gelegenen Finanzresorm im Reiche erbebt. Bei seinem Zu sammentritt im Spätherbst diese« Jahres wird sich der ReicbStag vor diese Kundgebungen der bundeSstaallicken Parlamente und Regierungen gestellt sehen, und er wird sich diesen Mahnungen schwerlich entziehen können. Langsam, aber Wohl schließlich mit Erfolg verbreitet sich in Frankreich die Ueberzeugnng, Laß da« Land bei dem extremen Schutzzollsystem Msline'S seine Rechnung nicht findet. So gelangte auf dem Banket der Pariser Handelskammer, dem unter anderen hervorragenden Per sönlichkeiten der Cvnseilpräsident Easimir Perirr und der HandelSminister Marty beiwohnten, von Seiten de« Vor sitzenden der Handelskammer selbst in sehr entschiedener Weise der Wunsch hinsichtlich der Abschließung von Handelsver trägen zum Ausdrücke. Der Präsident der Pariser HandrlS- kainmer lenkte vor Allem die Aufmerksamkeit der Regierung auf den Schaden, der dem sranzösischen Handel durch den Mangel eine« Vertrages mit Rußland nach der Art be vor, diesem mit Deutschland abgeschlossenen zugefügt werde, sodann aber aus die schweren Nachtbeile, die sich an der» Zollkriege mit der Schweiz ergeben. In sehr dringender Weise wurde von der französischen Regierung Abhilse für diese Schäden verlangt. Der Conseilpräsident Casimir Perier betonie in ziemlich unbestimmt gehauenen Redensarten, daß da« Ministerium den Interessen de« französischen Handel« seine ganze Fürsorge widmen, sowie nicht ermangeln würde, die erforderlichen Maßregeln zu studiren, um für die Uiizliträglickkeitcn der gegenwärtigen Lage Abhilfe zu schaffen. Dagegen äußerte sich der Handelsminister skeptischer, ließ es jedoch an unbestimmten Versprechungen ebenfalls nicht feblcn. Msiine nahm an dem Banket nicht Theil. Mit Recht wird denn auch hervorgchobrn, daß dir Regierung zwar nicht in der Lage wäre, gegenüber der extrem sckutzzöllnerisch gesinnten Dcputirlenkammer einen dal digen Wandel in der französischen Wirtschaftspolitik her> beizusührcn, immerhin aber ist eS von Interesse, daß der Präsident der Pariser Handelskammer sich gedrungen fühlte, die Nothwendigkrit von Handelsverträgen zu be tonen, und daß zwei Minister nicht für geboten erachteten, die in dieser Hinsicht geäußerten Hoffnungen zu entkräften. Bon einem Handelsvertrag mit Italien ist eS seit der Unterredung CalmetteS mit König Humbert, dir ihren Zweck so vollständig vrrsehlt hat, wieder rubig geworden, aber früher oder später wird auch er wieder auf der Tagesordnung er scheinen. Eine Versammlung sämmtlicher Bergarbeiter- Delegirten England« findet heute in London statt und bei der überaus ungünstigen Lage der Kohlengrubenbetriebe darf nian dem Ergebniß ihrer Beralbungen mit einer gewissen Spannung entgegcnsehcn. Das Intermezzo, welche« der Ver treter der Bergleute von Notiingbamshire, Bailey, durch seine heftigen Angriffe ans den Vorsitzenden de« Einigung-au-schuffc«, Lord Shand, hervorrief und das vorübergebend den Ausschuß zu sprengen drohte, wird anscheinend zwar ebne Nachspiel bleiben, denn die >»i Einigungsausschuß sitzenden Vertreter der Bergleute haben ihrem Bedauern über Bailcy'S Vorgehen Aus druck verlieben. Ueberaus bedenklich aber ist die Thatsache, daß so viele Zechen mit große», Verlust betrieben werden Es ist also jeden Augenblick zu befürchten, daß Tausende von Arbeitern durch Entlassung ihr Brod verlieren. In -?)ork>hne, Derbyflsire und in den Zechen der binncnländischen Grafschaften wird gegenwärtig meistens nur nock drei oder vier Tage die Woche gearbeitet. Dabei sind die Koblcnprcise äußerst niedrig. Einige Zecken werden jedenfalls den Betrieb ganz einstellcn müsse». Der Präsident de« Bundes der Bergleute, Pickarb, batte unlängst behauptet, daß gegenwärtig keine Zeche mit Verlust producire, daß die Tborncliffe-Zechen während de« Streiks sogar 60 000Psd.St. an Profit eingestrichen batten. Der Geschäftsbericht dieser Zechen stellt aber die Sache ganz ander« dar;er consi atirt,daß dieGesellschafl gezwungen gewesen sei, dem Reservefonds 3000 Psd. St. zu entnehmen. Die Frage, ob für die Bergarbeiter ein Mmimattohn staluirt werden solle, bleibt im ErnigungSauSschussc einstweilen in 8N8z,ou8v. Die Arbeiter- Vertreter wollen ihre Forderung nicht fallen lassen, während die Delegieren der Arbeitgeber bei ihren verneinenden Er klärungen, denen Lord Shand sich zunächst angeschlossen hat, beharren. Ter Streit bezüglich dieses PuncleS wird also fortdauern. — Die ausfübrlicheren Berichte über die Unter- haussiyung, in welcher der Antrag Morton, betr. die Apanage de« Herzogs Alfred von Coburg-Gotha, mit bedeu tender Mcbrhcit abgelcdnt wurde, lassen klar erkennen, daß da« Ministerium Rosi'bcry seinen, ihm selbst uncrwarten, Sieg ausschließlich den Con serva tiven zu verdanken bat. Die Libe ralen, also die Regierungsleute, stehen in dieser Frage auf dein negierenden Standpunct der Radicalen, und daher zog eS die Mebrbeit unter ihnen vor, als die Debatte begann, den Sitzungssaal zu verlassen, um dem Cabinet keine Verlegen heiten zu bereiten. Daß bei der Unsicherheit der Regierungs mehrheit, die daS Cabinet seit seinem Antritt in ter prekären Situation zwischen Leben und Sterben hält, diese« sich nach neuen Bundesgenossen umsieht, ist verständlich. Fast alle Regierungsvorlagen sind daraus zugeschnitten, um sich der Stimmen der radicalen Arbeiterschaft zu versichern, nachdem man d«e Iren mit einer sehr unklare», unaufrichtigen Homerule Politik mißtrauisch gemacht hat und sich offenbar auch nicht in der Lage sieht, durch Befriedigung ibrer weitgehenden Wünsche dieselben umzust-mr-cn. Stntr Lessen jucht iu ausfallender Weise Lord Rosebery Fühlung mit den liberalen Unlonisten und legt ihnen dringend den Wicderzusammenschluß mit den Liberalen an« Herz. Man erinnert sich, daß schon ein Annäherungsversuch gemacht wurde, aber von der anderen Seite. Damals, am 6. März — die Neubildung des CabinetS war noch nicht abgeschlossen — schlug der Führer der Unionistcn, der Herzog von Drvonsliire, den Liberalen vor, Homerule fallen zu lassen, dann sei ein Znsanimengeden möglich. Lord Rosebery zog eS jedoch vor, sich die Unterstützung der Iren und der Radicalen zu sichern, indem er die Glatstone'schen LoosungSwvrte: Homerule und Kampf gegen daS Oberhaus zu den seinen machte. Wenn derselbe Lord Rosebery jetzt seinerseits den Unionisten die Hand ent gegenstreckt und sic bittet, mit der wahren liberalen Partei zu gehen, welche »ir beste Garantie für die Einigkeit der drei Königreiche biete, so scheint zweifellos sestzustehen, einmal, daß die Negierung nothwendig SuccurS braucht, au den ein sicherer Verlaß ist» und sodann, daß c« mit Irlands Homerule, wenigsten« wie man sich dasselbe in Irland selbst vorstelll, gute Wege hat. Schon seit geraumer Zeit macht sich in der russischen Presse die Forderung aus Aufbcbung der Verschickung von Verbrechern und Taugenichtsen nachSibiricn geltend Diese Forderung wird besonder« von den Bewobnern Sibiriens selbst immer lauter erbobc». Von den Deportirten wird nur ein kleiner Theil in geschloffenen Strafanstalten und den Bergwerken untrrgebracht, da« GroS, zum guten Theil solche, welche auf Beschluß der Bauerngemcindcn wegen Trunksucht, NicktbezablenS der Steuern u. s. w. ausgeschlossen und nach Sibirien verschickt wurden, steht zwar unter Polizeiaufsicht, kann sich aber zumeist seinen Unterhalt nach Belieben und Vermögen erwerben. Daß dieses Gesindel mit der Zeit eine Last für daS Land geworden ist, läßt sich denken. Sv schreibt die Gouvcrnemenlözeitung von TobolSk, also ein amtliches Blatt: „Die Deportation ist der wunde Punct für die Bewohner Sibi riens. Welch entsetzliches Unheil die Deportation dem Lande ge bracht hat, beweist die sibirische Gerichtschronik. DaS Leben, die Ehre, das Eigcnthum, alles Tbeure und Traditionelle wird durch die Deportation erbarmungslos vernichtet. Daher die beständigen Gesuche und Bitten um die Abschaffung der Deportation. Von Len Sibiriern gar nicht zu rede»; ein jeder Fremde, der zwei, drei Jahre i» Sibirien zugebracht hat, gelangt unbedingt zu der Ueberzeugung, daß die Deportation schon langst ausgehört hat, eine Strafe und das Land selbst ein Schrecken zu sein. Freiwillige und unfrei willige Ansiedler leben hier sehr gut, ja sogar besser als im europäischen Rusiland. Schon der -Umstand spricht dafür, daß viele Verbannte, nachdem sie die Freiheit erhalten, nach Rußland nicht zurückkehreii, sondern es vorziehen, in Sibirien zu bleiben. WaS ist also das für eine Strafe oder ein TorrectionS- initlel, wenn die Verbrecher statt der verdienten Strase in Sibirien deu besten Boden für die weitere Ausübung ihrer verbrecherischen Proieffio» finden ? Ueberall in ganz Sibirien liegt die Deportation wie eine schwere Last aus der Bauernschaft. Dank der Deportation muh sie verschiedene Abgaben zahlen, muß in ihre Mitte lasterhafte Individuen anfnehmen, für deren Steuerrücksläade auskommen, jährlich mehrere Taujend Vagabunden, die ihr Leben in den Schänken stiften »nd um dieselben lungern, ernähren u. s. w. Schlimmer noch als andere Verbrecher treiben es die „Leute mit Bildung", die Spitzbuben unter den Cassirern, Advocaten und Intendanten. Diese „Artisten" bilden tn Sibirien eine „schwarze Bande"; Dank ihrer ttzewandtheit, ihrer Geschliffenheit und „Bildung" verschaffen sie sich in alle Schichten der Gesellschaft Eingang, dringen in die verschiedenen Institutionen ei», wo sie die Beamten beeinflussen und schließlich die Geschäfte »ach ihrem Ermessen und ihren persönlichen Zwecken entsprechend leiten. Sie demoralisircn die örtliche Gesellschaft und untergraben die öffentliche Meinung. Wie die erste Kategorie der Verschickten das gemeine Volk au-plündert und umbringt, )o schändet die zweite die ganze Intelligenz und stillt durch geschickte, betrügerische Manöver ihre Taschen mit steindem Eigcnthum. Wir sind fest überzeugt, daß die Erlösung unseres Landes von diesen Auswürsen der Metropole für das Lund die größte Wohlthat sein wird." Mit der Vollendung der großen sibirischen Eisenbabn und den gewaltigen Veränderungen, welche dieselbe im Verkehrs leben der d:m Handel bis jetzt noch vielfach ganz ver schlossenen Gebiete bervorbringcn muß. dürste da« schon jetzt antiqnirte Strafmittel der Deportation von selbst in Wegfall kommen. Deutsches Reich« O. II. Brrlin, 25. April. Ein friedliche-, durch keine Lobn kämpfe gestörte« Iabr schien uns bcvorzustehen. Die Baulbätigkcit, die im vorigen Jahre so inall war, dob sich in diesem Frühjahr nicht unbedeutend; die Bauarbeiter, als sie dies merkten, kamen zwar sofort zusammen, um die Lobnfrage zu besprechen, die Berliner erklärten aber, daß sie für kiese S-aison aus ibren Liebt,ngswunsch (neunstündige Arbeitszeit und 60 .s Stundcnlohn) verzichten müßten, da die Organisation viel zu schwach und die Caffe zu leer sei. Tic Maler gaben auf ihrem Congreß in derben Worten ihrem Unniuth über die abscil« vom Wege stehenden College» Ausdruck, an einen Streik sei vorläufig nicht zu denken; die Maschinenbauer und die Metallarbeiter waren nicht wenig ungehalten über die leeren Versammlungen und die „denkfaule Masse". Die Tischler hoben hervor, daß eine gewaltige Reservearmee verbanden sei und Jeder zu frieden sein müsse, wenn er Arbeit babe. Heute bat sich daö Bild wesentlich verändert. Riesenkämpfe, die Mil lionen verschlingen, werden wir allerdings nicht durchzumachen haben, aber der kleinere» Streik« sind so viele, daß die General streikcommission nicht weiß, wie sic auch nur einen kleinen Theil der Mittel beschaffen svll. Die Fäden sind den Leitern der Lohnbewegung vollständig aus der Hand !ge- sallcn; jede kleine Gewerkschaft geht aus eigene Hand Die neue Lehre. Eine Erzählung aus hem sächsischen Stedeitdiirzen zur Zeit her Resermation. ös Bon Siegfried Moltke-Raimund. -ia-dnick »ntolni. (Schluff.) „Jungfer Anna!" ries cs halblaut. Das Gespräch, das da drinnen geführt zwischen zwei Frauen und einem Manne, verstummte. „Wer ruft mich ?" klang eS zurück. „Vom Erhard komm' ich, Jungfer» der Bruder Matthias bin ich von St. Dominik." Und ungeladen, ohne weiter zu fragen, stieg der alte Mönch zum Fenster rin. Er trug nicht die Kutte, sondern ein schlichte- Handwerkerkleid und ein mächtige« Schurzfell. „Ihr wundert Euch, Jbr Leute? Hihihihi!" Der Alle kiff die grauen Aeuglein zusammen und grinzte vergnüglich dem erstaunten Menschenklceblatt entgegen. „Ja, ja! Schani Euch satt an mir. Ein spaßiger Diener de- heiligen Dominik, nickt! Aber ich bin kein Gespenst, sondern der Matlbia», doch nicht mebr der Bruder MaltbiaS, der Pförtner, sondern ter Bürger Matthias, wie mein Vater, Gott Hab' ibn selig!" DaS allgemeine Erstaunen war zu groß, al« daß Einer hätte antworten können. Trum fuhr der Alte fort: „Durchgebrannt bin ich und zum Herrn HonlcruS will ich, den der Hcllige, den der Herr, wollt' ich sagen, noch lange erhalten möge! Tenn ick brauch' seine Hilfe für einen, der Euch am Herzen liegt und dennoch gefangen auf seinem Laaer» weil man mit weibranckgebeizter Nase gewittert hat, daß er auf dem besten Wege ist, ein Ketzer zu wrrden gleich wir. Ta, Jungfer Anna, seht her: Kenni Ihr dir» vückel? H«? Hihihihi! Gestohlen Hab' ich « beim Abt, »er « coufiscirt» beim Erhard. Ich, der Mönch, der fromme Matthias, Hab' gestohlen! Hihihi! Im Kloster gestohlen, beim Abt gestohlen! Hihihihi!" Der Alle lachte so herzlich, daß ihm die Thränea über die Wangen liefen. „Und der Erhard?" fragte Anna ängstlich. »Liegt auf dem Bette und verschläft seinen Hunger! Er wartet fein geduldig, bis ich die Zelle ibm öffne, daß er aus fliegen kann sammt seiner Amsel. Die suckt den Gemahl, er sucht e Weiberl I Hihihi!" Und er stieß Anna neckend mit dem Ellbogen an. „Habt « gehört, Jungfer? 'S Weiberl sucht der Erhard. Joi! Ich will auf der Hochzeit trinke» — trinken!" Und wieder folgte eine längere Lachsalve. „So geht doch, laßt ihn sre,!" drängte Anna den Alten, nachdem sie sich von ihrer Verlegenheit erholt. „O, daS hat Zeit, Jungfer! Bei un«, bei denen, wollt' ich sagen, im Kloster wird « sobald nie Tag. Die schlafen lang und fest. Erst muß ich den Hentern» sprechen, wißl, den Enkel von meinem alten Freunde Graß, denn der muß ihn aufnebmen und schützen." »glommt, ich gehe mit Euch!" Anna zog sich da- Tuch über den Kops. „Anna!" sagte die Schwester. „Laß mick, Rest!" „WaS willst Du tbun?" „Ibn glücklich machen!" „Laß sie", sagte der Schwager. „So geh' mit Gott." Und sie verschwanden Beide im Buschwerk. In dem kleinen Häuschen, hinter welchem Anna kürzlich der Matrone da- Geständnis, ihrer Liebe ablcgte, war ein Fenster noch immer erhellt. Hontern«, der Streiter de« Herrn, saß dorr in tiefe» Studium versunken, deu edlen Kopf m »ir flache Hand gestützt. Erschreck« fnbr er auf, al« ein kleine« Steinckeo in » Zimmer rollte. Er trat au « Fenster, und al- er «den sprechen wollt«, klang « heraus: „Pst. Herr Hontern«! Laßt mich ein, ich muß Euch dringend sprechen." Hontern« verschwand und bald öffnete sich die Tbiir. Matthias kuschte hinein und, als der große stattliche Mann hinter ihm geschloffen, begann der Mönch: „Durch den Garten kommt auch die Jungfer Anna, laßt sie rin, daß wir u»S berathen, wir brauchen Eure Hilfe, Herr." »Mozu und wer seid Ihr?" »Fennt Jbr mich nicht? Ich bin, oder besser, ich war der Pförtner von St Dominik und Eure Hilfe brauchen wir zu einem guten christlichen Werke. Liegt da im Kloster ein junger Bruder und hofft und bauet auf Euch, denn er will ein Kind Eurer Kirche werden." Währenddessen waren sie zum Hinterpförtchen gelang«. Hontern« schloß auf und Anna trat eia. „Gott zum Gruß. Jungfer! Nun — Jbr dürft mir schon offen in'- Gesicht seben. Meine Mutter bat mir Alles gesagt und sich zu schämen hat die tugendhafte Jungfer keinen Grund." Anna ergriff dir dargebotene Hand und wollte sie an die Lippen ziehen. Er aber litt eS nicht. „Nicht doch, Juagser Anna, nur dem Alter gebühret diese Ehre. Wollt Jbr mich schon unter die Greise thun?" Er lächelte freundlich. „Doch zur Sache." Er lud die Beiden in sein Ctudir- zimnter ein. „Herr", begann da der Matthias, ^Herr, ich habe die Schlüssel de« Kloster« bei mir noch und Niemand kann hinan«, eS sei, ich öffnete. Dock sic schlafen fest und keiner ahnt, daß ich hier bin, nickt einmal der Erhard, der arme Junge, den ich habe einschließen müssen, weil er rin ketzerisch Buch gelesen. Von mir hängt eS ab, ob ich ihn frrigebe oder nicht. Da ich aber aus meine alten Tage selbst erkannt babe, baß e- Gott wohlgefälliger sei, ibm außerhalb jener Mauern zu dienen, so bin ich gern bereit, mir dem jungen Bruder zu fliehen." „Und ist - sein freier Wille?" „Ja, Herr." „So laßt ihn frei." „Aber wohin, Herr? Wir wissen eS nicht. Wir wollten Euch frage», ob Ihr gewillt, ihn auszunehmen vor der Hand i» Euer Haus und ihn zu schützen?" „WaS meint Ihr, Jungfer?" Wieder lächelte der große Mann milde und Anna sab ibn flehend an: „WaS Ihr tbut, ist Recht und ich danke «S Euch." „So geht denn, Matthias, und Beide kommt zu mir. Mein HanS ist klein, aber eS hat Platz für einen jeden, der im Namen des Herrn seine Schwelle überschreitet." „Der heilige Dominikus — der Herr Jesus", verbesserte sich ter Alte erschrocken. „Ter Herr Jesu«, wollt' ich sagen, vcrgelt'S dem Herrn HonteruS viel tausendmal. Hab ich doch den seligen Herrn Großvater noch gekannt und den Herrn Vater Hab' ich auf diesen Armen getragen und später Hab' ich den Herrn Vater viel süße Bäckerei aus der Klvsterküche ge bracht. Darob der Herr Großvater gar sehr zürnte, denn er wollte nicht, daß der Herr Vater, so er noch ein Bub war, mit Respect zu sagen, deinen Magen mit unnützen, nicht nahrhaften Speisen fülle. Doch auch Mönche thun oft nicht da«, was sie sollen, und kaffen oft nicht daS, WaS sie nicht sollen." „Da habt Ihr Recht, Matthias! Aber eilet nun und versäumet nichts. Und Jbr, Jungfer, gehet beim." Sie empfahlen sich. Als Anna an der Thür war, rief HonteruS: „Wenn'S Euch genehm ist, Anna, so bitt' ick Euch, kommt morgen zur Mutter. Auch ich werde da sein. Vielleicht auch noch einer. Habe ich heute doch einmal meine Landsahrt ver schoben, so kann sie noch einen Tag warten." Und er reichte ibr noch einmal freundlich lächelnd die Hand, und diese« Mal vermochte er eS nickt zu verhindern, daß da« Mädchen in überströmender Dankbarkeit ihre Lippen aus diese liebe Hand drückte.
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