02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.06.1897
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1897-06-05
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18970605027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1897060502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1897060502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1897
- Monat1897-06
- Tag1897-06-05
- Monat1897-06
- Jahr1897
-
-
-
4218
-
4219
-
4220
-
4221
-
4222
-
4223
-
4224
- Links
-
Downloads
- Download single page (JPG)
-
Fulltext page (XML)
Bezugs-Preis Du der Hauptrxp,bitten oder den im Stabt, bezirk und den Vororten errichteten AuS- aabestellen ab geholt: vierteljährlich ^14.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Hau- 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich ^l S.—. Direkte täglich« Krruzbandsendung tu- Ausland: monatlich ^ti 7.50. Die Morgcn-AnSgabe erscheint um '/,? Uhr. dir Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. ReLaction und Expedition: Johanue-gasse 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abend- 7 Uhr. Filialen: Otto Klemm'- Sartim. (Alfred Hahn), UniversitätSstraffe 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und KönigSplatt?. Abend-Ausgabe. Anzeiger. Amtsblatt des Lömgüchen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes und Notizei-Amtes der Stadt Leipzig. Anzeigen-Prer- die kgespaltme Petitzeile SO Psg. Reklamen unter dem RedactionSstrich (4 ge spalten) 50A, vor den Familiennachrichten (6 gespalten) 40 A. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichuiß. Tabellarischer und Ziffrrnsas nach höherem Tarif. Extra-vrilagcn (gefalzt), nur mit der Morgen»Ausgabe, ohne Poslbeförderunzl 60.—, mit Postbefvrderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Sei den Filialen und Annahmestellen je eia« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 28t. Sonnabend den 5. Juni 1897. - . i. " ^'»S.> !!i. ——W—WW-WM» 91. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 5. Juni. Die „Germania" springt Herrn August Bebel bei, der im „Vorwärts" das Verbot der Tbeil» nähme Minderjähriger an Versammlungen und Ver einen als eine große Thorheit der Nationalliberalen und der Conservativen und als eine willkommene Förderung der Socialdemokratie behandelt. Das CentrumSblatt bezweifelt, daß die Ausführung des SocialistenführerS widerlegt werden könnte. Nun, die Widerlegung ist schon erfolgt und zwar ohne daß sich nationalliberale und konservative Blätter hätten anzustrengen brauchen. Berliner Socialdemokraten erlassen einen Aufruf zu Protestversanimlungen, aus dem hervorgcht, daß es sehr unangenehm empfunden werden - würde, wenn man die jungen Leute nicht mehr ungestört in Versammlungen, wie es beißt, „zum Classenbewußtsein und zu selbstständigem Denken gelangen ließe", in Wahrheit aber, wenn man in ihnen durch Phrasen dunst und Leidenschaft die Denkkraft nicht mehr so leicht ersticken könnte. Der Aufruf trägt nicht den eigentlichen socialdemokratischen Stempel, sondern das Siegel, daö ge wöhnlich aufzedrückt wird, wenn Arbeiter in dem Wahne bestärkt werden sollen, die Socialdemokratie kümmere sich um ibr Woblergehen, während eS dieser Partei doch nur um die Erlangung der Macht zu tbun ist. Der Aufruf ist nämlich an die „gewerkschaftlich organisirten Arbeiter" gerichtet und nicht von den Inhabern höherer Partei- Commandostellen unterzeichnet. Damit soll angcdeutet werden, daß die Fernhaltung unreifer Leute, die, wenn sie gegen die socialdemvkratische Parteileitung lärmen, „grüne Jungen" genannt werden, ein gegen die Erwerbsinteressen gerichteter Schlag sei. Diese Deck adresse und diese Procura-Unterschriften werden Niemanden darüber täuschen, daß die socialdcmokratische Firma und ihre Jnbabcr die Einschränkung der Verhetzung unter den Arbeitern, welche in dem für blutrünstige Reden empfänglichsten Alter stehen, als eine Beeinträchtigung befürchten. Herr Bebel, wenn er das neue Verbot wie einen befruchtenden Regen für den socialdcmokratischcn Acker begrüßt, wendet nur einen Kniff an, den die Socialdemokratie unter dem Socialisten- gesetze immer und mit sonderlichem Eifer vor Ablauf der jeweiligen Geltungsdauer des Gesetzes angewendet hat. Der klar erkennbare Zweck ist diesmal, bei Mitgliedern des preußi schen Herrenhauses Befürchtungen vor einem isolirten Verbote der Theilnahme Minderjähriger an Versammlungen und Vereinen zu erwecken. Herr Bebel, der weiß, wen er dupiren will, schreckt dabei — und dafür gebührt ihm Dank — nicht vor einem recht wirksamen Plaidover für ein ausgedehntes Socialistengesetz zurück, das, wie er weiß, im Landtage wegen der entgcgcnstebendcn RcichSverfassungS- bedenken und im Reichstage bei dessen jetziger Zusammen setzung nickt zu haben ist. Der nach dieser Richtung beruhigte socialremokratische Führer macht die Conservativen des Herrenhauses darauf aufmerksam, daß die sonstige revo lutionäre Verführung von jungen Leuten, namentlich die durch die Presse, doch erheblich intensiver und gefährlicher sei, als die durch die socialdemokratischen Redner. DaS ist ja richtig, wir haben gegenüber den frciconservativen Ausnahme bestimmungen das Gleiche betont und werben für gelegener« Zeiten merken, daß Herr Bebel mit uns übereinstimmt. Für ein Socialistengesetz wären die für das preußische Vereinsgesetz vorgeschlagenen Bestimmungen über die Minderjährigen, für sich allein dargeboten, allerdings ein Unding. Aber diese Vorschriften sind eben keine Auönahmevorschriften, siegelten auch für diejenigen jungen Leute, deren im späteren Lebens alter erfolgende Theilnahme am politischen Leben dem Staate nicht gefährlich, sondern nützlich sein wird, und sie sind nach unserer Meinung auch diesem jugendlichen Element heilsam. Was Herr Bebel von „Rückschritt" fabelt, macht gerade so viel Eindruck, als die von dem allbekannten Verlaufe der Vereinsgesetzangelegenbeit direkt Lügen gestrafte, darum aber seinem vielbewährtenMuthe der Unwahrheit zur besonderenEhre gereichende Behauptung, die Nationalliberalen gäben im Classeninteresse ihr höchstes Ideal, die Rcichseinheit, auf. Um dieser Einheit willen ist im Gegentheil die national liberale Partei den frciconservativen Anträgen nicht einmal näher getreten. Und was den „Fortschritt" der Social demokratie angebt, der wäre mit seiner gänzlichen Ausbebung des persönlichen Selbstbestimmungsrechts der Rückschritt auf einen Punct, an dem die Menschheit in der geschichtlichen Zeit nie und nirgends geseben worden ist. Der Sklave des Alterthumö, der Leib eigene des Mittelalters konnte frcigelassen werden, an der Pforte des socialdemokratischen Zukunftsstaates aber stehl geschrieben: Ihr Alle, die Ihr einrretet, laßt alle Hoffnung fahren I In einer socialdemokratischen Versammlung, deren Zweck es war, die akadcmischc Jugend Berlins für die rcvolutionaire Bewegung zu gewinnen, hat einer der jüngeren Fükrer am Dienstag große Worte so gelassen ausgesprochen, daß man ihnen zur weiteren Verbreitung wohl behilflich sein darf. „Schlagworte seien die populären Gefäße der Wahr heit", meinte dieser „Jüngere", ein Herr Rechtsanwalt Heine, dem man vermutblich bei nächster Gelegenheit als Reichstags- candidatcn begegnet. Ob er bei seiner Erläuterung des Schlag wortbegriffs auch an das eherne Lohngesctz und die Verelendungstheorie gedacht hat, die man ja noch im Erfurter Programm der Partei vorfindet? Oder sind diese Lügen keine Schlagworte gewesen? Herr Heine verwahrt sich im nächstfolgenden Satze dagegen, daß die Partei an eine „Revolution im Heugabelsinn der Gewalt" denke. Welche populär gefaßte Wahrheit ist aber dann auS dem Schlagworte vom „weichen Kehrichthaufen der Gewerkschaftsduselei" zu entnehmen? Doch über solche Widersprüche weiß sich die Socialdemokratie längst hinwegzusctzen. Geradezu in Verlegenheit mag es aber die Parteipäpste versetzen, daß Herr Heine sogar für den Zukunftsstaat nock die Nothwendigkeit von — Kanonen gelten läßt. Wört lich sagt uns der Bericht des „Vorwärts" (Nr. 127 vom 3. Juni 1897, 2. Beilage) darüber: „Der Redner würde, wenn wir die Herrschaft im Staat hätten, mit Vergnügen die nöthigen Kanonen anschaffen, aber für die Beschützung der Culturgüter, nicht für eine Negierung, die gegen uns ist." So wie die Antithese hier aufgestellt ist, muß Herr Heine sich und seinesgleichen, bez. dieRegierungim Zukunftsstaat, als daS oberste Culturgut erachtet haben. Nun, wir hegen die lebhafte Vermulhung, daß das revolutionaire Proletariat darüber sich niemals einigen, also die Regierung im Zukunftsstaate sehr viele Kanonen brauchen würde, nnr um sich selbst zu schützen, — von den übrigen „Culturgütern" nicht zu reden. Billiger dürsten dann die Kanonen erst recht nicht berzu- stellen sein. Im Vergleich zu den Kanonen des Gegenwarts staates wäre ihnen die weitere unangenehme Eigenschaft zuzu trauen, daß sie alle Augenblicke, bald da, bald dort, los gehen müßten. Gerade dazu möchten wir aber Kanonen nicht mit Vergnügen bewilligen. Der Kampf der Deutschen mit den Slawen in Oesterreich treibt die unerfreulichsten Blüthen. Während selbst das halbamtliche Wiener „Fremdenblatt", wenn auch in vor sichtiger Weise, den Uebermuth der Gegner des Deutschthums tadelte, benutzt die katholische Volköpartei die gegenwärtige Situation, um den Kampf der Deutschen gegen die ihnen drohende Vergewaltigung zu mißbilligen. Die gemeinsame deutsche Abstammung ist diesem Club gleichgiltig, die Hauptsache ist ihm der positiv katholische Stand punkt. Wer diesen Standpunkt nicht theilt, mit dem, so erklärt der Club, kann er keine Gemeinschaft haben. Dann ist es freilich erklärlich, daß der Club sich in der Ge meinschaft mit den Polen Wohler fühlt, als mit denjenigen Parteien, die zunächst die deutsche nationale Frage auf ihre Fahne schreiben. Bei der Jnternationalität des Klerikalis- mus ist es kein Wunder, daß der Club in seiner Auf fassung und in seiner Verurtheilung des Verhaltens der deutschgesinnten Abgeordneten mit der reichs deutschen klerikalen Presse und mit dem zwar nicht klerikalen, aber doch mit dem Klerus kokettirenden „Figaro" übereinstimmt. Der „Figaro" und die „Germania" führen sogar gemeinsam den gleichen Gedanken aus, daß nämlich, wenn das Parlament im Herbst wieder eröffnet würde, die Kampfeslust der deutschen Abgeordneten sich Wohl abge schwächt haben würde. Mit anderen Worten, sie erwarten, daß die Deutschen im nächsten Winter klein beigeben werden. Von einem französischen Blatte, das natürlich mit Allem, was slawisch ist, kokettirt, und Allem, was deutsch ist, einerlei, ob in Reichsdeutsckland oder anderwärts, Uebles wünscht, kann Einen solches Verhalten nicht Wunder nehmen? Anders verhält es sich aber, wenn auch ein deutsches Blatt diese Auffassung hat und nach seinen Kräften den Kampf deS Deutschthums erschwert. Freilich wird diese Auffassung dadurch erklärlich, daß der österreichische Ministerpräsident ein Pole und der Präsident des österreichischen Abgeordneten hauses ein Klerikaler ist. Was in einem solchen Staate durch eine solche Regierung geschieht, muß ja natürlich lobens- werth sein. — lieber die Audienz der Führer der Rechten beim Kaiser melden die jungtscheckischen „Narodni Listh": Der Kaiser sprach dem Abgeordneten Dipauli seinen besonderen Dank dafür aus, daß die deutsch-conservativen Ver treter aus den Alpenländern in die Majorität eintraten und daselbst im Sinne derGleichberechtigung (?) aller Nationalitäten gewirkt und in der Majorität ausgeharrt haben. Baron Dipauli wagte e§, an den Kaiser das Ersuchen zu stellen, diese Worte des Kaisers veröffentlichen zu können. Der Kaiser wendete nichts dagegen ein, sondern fügte nur hinzu, Baron Dipauli möge vorsichtig handeln. Zum Abgeordneten Kaizl sagte, nach demselben Blatte, der Kaiser, es werde nicht früher Friede werden im Reiche, als bis die nationalen Verhältnisse in Böhmen geordnet sein werden, vr. Kaizl habe darauf erwidert: „Wir Tschechen haben bereits öfter unseren deutschen Landsleuten ein weißes Blatt gereicht, auf welches sie alle ihre Forderungen in nationaler Beziehung aufschreiben sollten, freilich mit der Bedingung, daß alle diese Wünsche auch für unS Geltung babcn sollen. Unsere deutschen Landsleute haben jedoch dieses Anerbieten nicht angenommen." Der Kaiser babe darauf geantwortet: „Aber trotz Allem muß in Böbmen der Anfang gemacht werden." Aus der „Politik" wird der Kaiser ersehen haben, daß eine Verständigung mit den Jung tschechen unmöglich ist. Das Parteiblatt sagt: „Zu den etwaigen Ausgleichsverhandlungen, zu denen die Initiative von den Deutschen oder von der Regierung auszugchen hätte, würden die tschechischen Abgeordneten mit dem Bewußt sein gehen, daß sie den deutschen Vertretern in Nichts Concessionen bieten können, sondern daß es vielmehr an den letzteren liegt, zu concediren." Zwischen dem Vatikan und der russischen Regierung ist, wie der „Pol. Corr." aus vaticanischen Kreisen geschrieben wird, nunmehr über die Besetzung der seit langer Zeit ver waisten katholischen BiStbümer in Rußland eine end- giltige Verständigung erzielt worden. Die Vorschläge der russischen Regierung bezüglich der an die Spitze dieser sieben BiSthümer zu stellenden Prälaten wurden vom Vatikan angenommen und die Ernennung der neuen Bischöfe, worunter sich drei Snffraganbischöfe befinden werden, wird demnächst mittels päpstlichen Breves erfolgen. Damit scheint, der „Pol. Corr." zufolge, eine Angelegenheit als geregelt, über die nahezu drei Jahre lang verhandelt worden war. Man äußere in vaticanischen Kreisen volle Befriedigung über die entgegen kommenden Dispositionen, welche die russische Regierung in der letzten Phase dieser Verhandlungen an den Tag gelegt babe, sowie über den toleranten Geist, von dem sie sich überhaupt in den die Katholiken betreffenden Angelegen heiten leiten lasse. Insbesondere habe man mit Genug- thuung von den Weisungen des Zaren vernommen, welchen zufolge die katholischen Uniaten in Rußland in der Ausübung ihres CultuS nicht mehr behindert werden sollen. Diese persönliche Intervention deS russischen Herr schers zu Gunsten der Katholiken habe einen aus gezeichneten Eindruck hervvrgcrufen, und der Papst habe sich veranlaßt geseben, dem Kaiser Nicolaus II. seinen Dank hierfür zu übermitteln. Unter diesen Umständen sei man im Vatikan überzeugt, daß der neue russische Ministerresident beim Vatikan, von Tscbarykow, dessen Ankunft in Rom im Laufe des Juni erwartet wird, seine Mission in demselben Geiste deS Entgegenkommens, wie sein Vorgänger v. Iswolsky ansüben und sich gleich diesem bemühen werde, den Beziehungen zwischen der russischen Regierung und dem Vatikan den freundlichen Charakter zu erhalten, den sie insbesondere unter dem Regime des jetzigen Zaren angenommen haben. — Bleibt nur noch fraglich, ob daS Entgegenkommen nicht nothgedrungen auf vatikanischer Seite war, da die Curie die Vorschläge Rußlands, nicht Rußland die der Curie angenommen hat. Jedenfalls wird man im Vatikan selbst weit davon entfernt sein, auf die russische „Toleranz" Häuser bauen zu wollen. Die Formalien, welche dem officiellen Beginn der Friedensverhandlungen zwischen Gricchcnland und der Türkei vorauSzugehen haben, wickeln sich glatt ab. Man berichtet uns aus Lond on,4. Juni, Eine Meldung der „Times" aus Athen besagt: Nachdem die griechische Regierung den Ver tretern der Mächte von dem türkischen Verlangen nach Auf hebung der Blockade Mittheilung gemacht hat, empfing sie von allen mit Ausnahme einer einzigen den Rath, der Forderung stattzugeben. Der österreichische Gesckästs- i träger bat noch keine Instructionen erhalten, doch besteht kein I Zweifel, daß dieselben mit denjenigen der übrigen Vertreter I ver Mächte übereinstimmen werden. Eine spätere Draht- FauLlleton» Zwei Frauen. Llj Roman von F. Marion-Crawsord. Nachdruck »crvoten. Greif entschlüpfte, so schnell er konnte, aber Rex hatte Zeit und Worte gefunden, die stärkste Saite in seinem Herzen zu berühren. Als er Vie Treppe hinunterstieg, fühlte er von Neuem etwas von dem Einfluß, der sich in der Nacht geltend gemacht hatte, und er wünschte, daß er Rex nicht erst auf gesucht hätte, ehe er das Schloß verließ. Der Anblick der Baronin, die in ihren dunklen Mantel gehüllt seiner wartete, rief ihn wieder zu sich selbst zurück. Beide sprachen nicht, als sie den Hof durchschritten und den Wagen bestiegen, aber während Greif sie in die schweren Pelze hüllte, sagte er sich instinktiv, daß sie Alles thnn würde, was sie konnte, ihn unterwegs von seinem Entschlüsse ab zubringen, und er wußte, daß ihm noch ein sehr schwerer Kampf bevorstand. Die Pferde zogen an, ihre Hufe klirrten auf dem Pflaster deS Hofes, der Wagen verschwand aus dem Hellen Licht in der Dunkelheit des TborwegeS und rollte hinaus ans den blendenden Schnee. Greif lehnte schweigend in seiner Ecke. Er trug einen Pelzrock, und die Baronin, die sein hübsches Gesicht sehen konnte, ohne den Kopf umzuwcndcn, fand, daß Pelzwerk blonden Männern von frischer Gesichtsfarbe be sonders gut stehe, eine leichtfertige und unangemessene Be merkung, wie sie sich sagte, und doch nicht so bedeutungslos, wie sie schien. Sie dachte an den Eindruck, den Greif auf Hilda machen mußte, und fragte sich, ob daS Mädchen ihn sehr verändert finden würde. Sie war Weib genug, zu vermuthen, daß sehr viel von den ersten Augenblicken des bevorstehenden Wiedersehens und von dem AnSvruck abhing, den Greif bei der Begrüßung in Hilda s Augen entdecken wür)»e. Wenn Hilda ihm nicht mitleidig, sondern mit schlecht verhehlter Freude entgegen eilte, wenn ihre klaren Augen leuchteten, ihre Wangen glühten und ihre Stimme Worte inniger Theilnahme sprachen, während ihr Gesicht ihm ihr Entzücken verrieth, ihn wieder bei sich zu haben, konnte AlleS noch gut werden. Er war ja doch nur ein Mann, von dem man nicht erwarten durfte, er werde klug handeln, wenn eine Frau ihn nicht unterstützte. Sie hatte nicht immer so gedacht, aber in den letzten Jahren batte dieser Glaube sich in ihr mehr und mehr be festigt. Wildenberg wurde ausschließlich von Frauen verwaltet und die Baronin war nach und nach zu der Ueberzeugung gelangt, daß Frauen, die ganz auf sich allein angewiesen sind, sich besser einznrichten wissen, und daß drei Männer mit so wenigen Mitteln, wie sie ihr, Hilda und Bärbel zur Verfügung standen, nicht hätten auskommen und den Schein so zu wahren vermocht hätten. Mit dem zuversichtlichen Glauben der Frau an die Macht der Frau zweifelte sie nicht daran, daß einer von Hilda'S Blicken genügen würde, alle Entschlüsse Greif's umzustoßen. Es war charakteristisch für die Baronin, daß, sobald ihre Großmuth ihre Bedenken in Bezug auf die Heirath überwunden hatte, sie Greif in dem Licht eines sehr geliebten Gegners betrachtete, den die weiblichen Mächte von Wildenberg zu seinem eigenen Besten besiegen mußten. Ebenso charakteristisch war eS, daß sie bei all' ihrer Ungewißheit nie auch nur einen Augenblick die großen Vortheile erwogen hatte, die zu gewinnen oder zu verlieren waren. „Wir hätten Hilda von unserer Ankunft benachrichtigen sollen", sagte die Baronin, uacbdem sie schon beinahe eine halbe Meile gefahren waren, ohne zu sprechen. „Sie würde unS dann entgegengekommen sein". „ES ist besser so", antwortete Greif kummervoll. „Ich sehe nicht ein, weshalb, eS würde dem Kinde so großes Vergnügen gemacht haben". „Meinen Sie?" fragte Greif in gleichgiltiaem Ton, obgleich ein Schimmer von Farbe sein bleiches Gesicht überflog. „Gewiß, eS ist Unrecht von Dir, daran zu zweifeln. Arme Hilda I Sie hat so wenig Vergnügen irgend welcher Art und Dick zu sehen ist immer ihr größtes". Greif erröthete noch mehr und es verdroß ibn, daß sein Gesicht verrathen mußte, was er empfand. Die Baronin fuhr fort, in ihrer sanften Weise zu ihm zu sprechen, um eine Antwort zu erlangen und ihn womöglich zu einer Erörterung zu veranlassen, denn sie glaubte mit aller Bestimmtheit, daß, wenn er erst auf Auseinandersetzung und Darlegung seiner Gründe einging, er verloren wäre. „Ja", sagte sie, „eS ist ein einsames Leben, daS sie dort oben führt. Ich bin zu alt, um ihr eine wirkliche Gefährtin zu sein, und außer mir hat sie nur noch Bärbel. Es ist rührend, zu beobachten, wie sie, wenn Du Dich von ihr ver abschiedet hast, ansängt, die Tage bis zu Deiner Rückkehr zu zählen, und ihr Gesicht zu sehen, wie sie nach und nach weniger ernst wird, je näher sie dem Ende Deiner Abwesen heit kommt". „Tbut sie daö?" fragte Greif, daS Gesicht von Purpurröthe übergossen. „Immer. Sie that es schon, als sie noch ein Kind war und Du ein Knabe. Mir scheint, daß sie Dich immer liebte, lange bevor — längst, längst, meine ich." Greif seufzte und wendete seinen Blick ab. Das fast knabenhafte Erröthen erlosch auf seinen Wangen, die bleicher waren als zuvor. Die Baronin bemerkte die Veränderung mit Bedauern, aber noch verzweifelte sie nicht. Zu ihrem Erstaunen war eS Greif, der die Unterhaltung in einer Weise wieder anknüpfte, die sie am wenigsten erwartet hatte. „Ich babe Hilda immer geliebt", sagte er, ihrem Blicke ausweichend, „immer, seit Sie zum ersten Male mit ihr nach Greifenstein kamen. Wir waren Beide noch klein, und eS muß im Frühling gewesen sein, denn wir pflückten Maiglöckchen und fanden Erdbeeren im Walde." „Sie war damals nicht älter als sechs Jahre", bemerkte die Baronin. „Und ick war elf", erwiderte Greif, bei diesen Erinnerungen auS der Kinderzeit seinen Vorsatz vergessend, zu schweigen. „Waren Sie damals zum ersten Male bei unS?" „Ich glaube. ES war vier Jahre nach unserer Ueber- siedelnnz Hierher." „Weshalb kamen Sie nicht eher?" fragte Greif. Es schien ihm rathsam, die Unterhaltung bei Gegenständen der Ver gangenheit festzuhalten. Wieder war eine Meile de- Weges zuruckgelegt und er war noch unerschüttert. „Ich habe verschiedene Gründe dafür", antwortete die Baronin. „Wir Warrn nicht immer auf dem besten Fuße mit einander gewesen, vielleicht weil wir uns zuvor kaum jemals geseben batten, und ich wünschte den Schein zu ver meiden, als wollte ich mich meinen Verwandten aufdrängen. WaS uns wirklich zasammcnbrachte, war die Anhänglichkeit der Kleinen, die sich vom ersten Augenblick zeigt«. Sie brachten Dich zu mir, damit Du mit Hilda spieltest, dann kamen wir wieder zu Euch — und so... nach und nach..." „Ich erinnere mich, daß Hilda ein blaues Kleidchen trug, als sie zum ersten Male zu uns kam", bemerkte Greif schnell, um die Baronin von dem Ueberleiten auf die Gegenwart abzulenken. Die Absicht war so unverkennbar, daß die Baronin ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. „Vielleicht", antwortete sie. „Ich weiß, daß sie einmal ein blaues Röckchen besaß". Diese gewöhnlichen Bemerkungen, die sic miteinander austauschten, fielen Greif peinlich auf, als er bedachte, wie Schauerliches sie in Greifenstein erlebt batten. Es war erst der dritte Tag, seit jene grauenvolle Katastrophe sein Leben verdüstert hatte, und er sprach über die Kleider, die Hilda als Kind getragen hatte. Er sagte sich, daß er schmählich herzlos sein oder im Begriff stehen müsse, seinen Verstand zu verlieren, lehnte sich wieder in seine Ecke zurück und starrte wie geistesabwesend auf die an ihm vorübergleitende Landschaft. Die Baronin schrieb dieses plötzliche Erkalten seines Wesens und den düsteren Ausdruck seines Gesichtes einer anderen Ursache zu. „Das ist lange her", fuhr sie fort. „Seit jener Zeit ist Hilda herangewachsen und Du bist ein junger Mann geworden und die Liebe, die in Euch erwachte, als Ihr noch Kinder wäret —" „Ich kann Hilda nicht heirathen!" rief Greif mit so schneidender Stimme, daß die Baronin zusammenzuckte und ihm erschrocken ins Gesicht sah. „Dann wirst Du sie tödten", antwortete sie nach einer kurzen Pause. Auch sie war zu erregt, um ihren Versuch, auf diplomatische Weise zum Ziel zu gelangen, noch sorl- zusetzen. Sie zürnte Greif und vergaß, daß sie zuerst in Bezug auf die Heirath ganz so gedacht und gefühlt hatte wie er. Wahrend die Bäunie an ihr vorüberflogen und die kräftigen Pferde sie Wildenberg immer näher brachten, überwog die Sorge für ihr Kind alles Andere. Mild und sanft wie sie war, schreckte sie doch vor dem Gedanken nicht zurück, Greif zu zwingen, ihre Tochter zu heirathen, ob er wolle oder nicht. Sie wurde nervös, denn die Begegnung der Beiden konnte ihr Schicksal entscheiden und jeder verlorene Augen blick von Bedeutung sein. Greif antwortete ihr nicht sofort, aber ein Schauer durchrieselte ihn und er zog seinen Pelz fester um sich. „Sie haben Unrecht", sagt« er endlich, „Hilda wird mich mit der Zeit vergessen und einen besseren und glück licheren Mann heirathen. Ick beabsichtigte nicht, es Ihnen mitzutheilen — doch mögen Sie es immerhin jetzt versuchen — ich werde Anordnungen treffen, daß die Hälft« alles dessen, waS ich in der Welt besitze, auf Sie übergeht. Sie wird dann eine reiche Erbin sein und sich gut ver- heirathen." Die Baronin verstand ibn nicht. Ibr schienen seine Worte roh und eine Kränkung für Hilva'S Liebe und eine
- Current page (TXT)
- METS file (XML)
- IIIF manifest (JSON)
- Show double pages
- No fulltext in gridpage mode.
- Show single page
- Rotate Left Rotate Right Reset Rotation
- Zoom In Zoom Out Fullscreen Mode