02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.02.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-02-04
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980204023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898020402
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- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898020402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1898
- Monat1898-02
- Tag1898-02-04
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Größere Schriften last unserem Pvei«- verzeichntß. Tabellarischer und Ztfferusatz »ach hühevuu Tarif. Gxtra»veilagen (gefalzt), »ur mit dm Morgen »Ausgabe, ohne Postbefördrrunz' , mit Postbeförderung ^l 70.—. Avuahmeschluß fSr Änzeigen-. Ab e»d»Ausgabe: vormittag» 10 Uhr. Vtorge »-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Sei deu Filiale» und Aunahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen find stet» a» die Srpeditiat» zu richte». Druck und Verlag vo» E. Polz in Leipzig Freitag den 1. Februar 1898. 92. Jahrgang. Der conservalive Parteitag in Dresden. Der vorgestern in Dresden abgehaltcne konservative Parteitag ist sehr glatt und ruhig verlaufen, ruhiger jeden falls, als die DiScussion verlaufen wird, die sich in der Presse an die Reden und Beschlüsse der Versammlung knüpfen wird und zum Theil bereits geknüpft hat. Und das ist begreiflich. Nicht nur weichen die Berichte von einander ab, sondern sie lassen auch da, wo sie übereinstimnien, die Meinungen und Absichten der Redner vielfach im Unklaren. Und auch daS ist begreiflich. In jeder Partei machen sich ver schiedene Strömungen bemerkbar, in der conservativen so gut wie in dem angeblich so festen Centrum. Und nicht nur mit diesen Strömungen hat die conservalive Partei zu rechnen, sondern auch mit dem auS ihren Reihen heraus und über sie binaus gewachsenen Bunde der Landwirthe, dessen Leitung in ganr^ wesentlichen Puncten ganz anders denkt, als ein großer Theil der Mitglieder, und mit den antisemitischen Clemente», die durch eine schroffe Stellungnahme der conser vativen Partei gegen den Antisemitismus leicht von der Partei ab und in daS Lager der antisemitischen Gruppen gedrängt werden könnten. Soll nun ein Parteitag sammeln, so ist eS nur möglich unter Verzicht auf eine völlige, jeden Zweifel auSschließende Klärung. Wenn daher die voraus sichtlich demnächst erscheinenden stenographischen Berichte auch manchen Zweifel über die von den Rednern gebrauchten Wendungen beseitigen werden, so wird doch für die Inter pretationskunst nickt nur der nichtconservativen, sonvern auch der conservativen Blätter ein großer Spielraum bleiben, und ein völlig abschließendes Unheil über daS Ergebniß des Parteitages wird sich erst fällen lassen, wenn man übersehen kann, welches Echo er in den conservativen Kreisen des Reiches weckt und wie er daS Verhalten dieser Kreise bei der Wahlbewegung beeinflußt. Für uns in Sachsen ist eS natürlich besonders wichtig, zu sehen, wie hier die Conservativen das Ergebniß des Parteitages nicht nur selbst auffafsen, sondern auch von Anderen aufgesaßt sehen wolle». Das „Vaterland" hat sich darüber noch nicht äußern können; die „Leipz. Ztg." spricht sich folgendermaßen auS: , „ Ganzfruchtlos, wie es bei Parteitagen sonst zu geschehen pflegt, ist der allgemeine Parteitag der Conservativen doch nicht verlaufen. Selbst die gefaßten Resolutionen gewinnen in einigen Sätzen Leben und concrete Gestalt. Im Allgemeinen legen wir solchen programmatischen Erklärungen nur äußerst geringe Bedeutung bet. Sie sind bei fast allen Parteien so eingerichtet, daß sie auch von jedem An gehörigen jeder beliebigen anderen Partei unterschrieben werden können, oder wenigsten« so abstract gehalten, daß sie für die Praxis zu Nichts verpflichten. Da» gilt von den conservativen Programmen nicht minder, wie von den liberalen, namentlich wenn sie sich, wie fast jeder größere Leitartikel eines sehr ehrenwerthen conser vativen Blattes der ReichshauptstaLt, aus dem Bereiche des „Ismus", des Monarchismus, Capitalismus, Idealismus, Materialismus, Realismus rc. nicht herausfinden können. Das Entscheidende sind nicht diese Abstracto, sondern ihre Anwendung auf den concreten Fall. In dieser Beziehung nun geben die Resolutionen des Partei- tage- doch einige recht werthvolle Fingerzeige. Es gilt dies unseres Erachtens namentlich von dem Nachdruck, mit dem hier die Bekämpfung der Socialdemokratie als vor nehmstes Ziel, als Parteiparole für die Reichstags- Wahlen hingestellt und auf der anderen Seite die Nothwendigkeit des Zusammenschlusses der Ordnungsparteien betont wird. Beide Puncte sind vom Standpunkte des norddeutschen Conservatismus neu und bedeuten einen Sieg der Conser vativen Sachsens, die für diesen Gedanken seit einem Jahrzehnt die Pionierarbeit verrichtet haben. Die nicht immer erfreulichen Auseinandersetzungen, die er für uns lange Jahre hindurch mit der „Kreuzzeitung" im Gefolge gehabt hat, sollen daher gern vergessen sein. Wir wissen auch, daß seine Durchführung in Norddeutschland, namentlich da, wo in der Mittelvartei nicht der Nationalliberalismus, sondern Ler„Nationalzeitungs"-LiberalismuS herrscht, aus ungleich grö ßere Schwierigkeiten stößt, als in unseren vielfach anders gearteten Ver- hältnissen, nnd rechnen es daher den preußischen Conservativen doppelt hoch an, daß sie sich diesem Grundsätze der Zusammenfassung, Sammlung oder wie man die Sache sonst nennen will — auf den Ausdruck Cartell kommt es ja nicht an — so rückhaltlos angeschlossen haben. — Werthvollcr noch, als das in der Resolution Niedergelegte, ist uns der Inhalt der gehaltenen Reden, so weit er das Berhältniß zwischen Coservativen, Bund der Landwirthe und Antisemiten berührt. Vor Allem über diesen Puuct Klarheit zu schaffen, mußte nach den bekannten Wahlergebnissen der letzten Jahre die wichtigste Aufgabe des Parteitags sein. Auch sie ist, so weit wir nach den bis jetzt vorliegenden Auszügen aus den hierfür in Betracht kommenden Reden urtheilen können, in zufriedenstellender Weise ge löst worden. Herr v. Manteuffel als Führer der Conservativen hat seiner Partei nichts vergeben, sondern sich Dank verdient, in dem er mit erfreulicher Entschiedenheit, weit entschiedener als bis her, verlangte, daß der Bund der Landwirthe antisemitische Candi- daten fürder nicht mehr gegen konservative unterstützen dürfe, und cs geradezu als Pflicht der Landwirthe bezeichnete, in solchen Fällen für den konservativen Candidaten einzutreten. Nicht minder dankenswerth ist es aber, daß die beiden Redner des Bundes der Landwirthe, Graf Kanitz und Herr v. Plötz, hierauf Erklärungen abgaben, die dieses Zusammengehen des Bundes mit den Conkervativen für die Zukunft sicher gestellt haben. Herr v. Plötz that dies mit der unzweideutigen Erklärung, es fei undenkbar, daß der Bund zur conservativen Partei in einen Gegen satz trete nnd die Sache der Antisemiten mit der des Bundes ver quicke. In noch praktischerer Weise förderte Graf Kanitz diesen Zweck mit der Erklärung, sein Antrag auf Verstaatlichung des Getreidehandels sei als zur Zeit aussichtslos zurückgestellt, eine bloße Demonstration aber mache die kon servative Partei nicht mit. Nach alledem können wir das Ergebniß des Parteitages, auf das sicher auch die neuerliche Haltung der RrichSregierung nicht ohne fördernden Einfluß geblieben ist, auch von unserem Standpunkte aus als durchaus erfreulich be- zeichnen." Vielleicht kommt die „Leipz. Ztg", jwenn sie die Aus lassungen des Grafen Kanitz aus ausführlicheren Berichten kennen lernt, zu einer etwas anderen Auffassung dessen, was er für sich und seine engeren Freunde als Richtschnur des Handelns betrachtet. Fassen aber die Conservativen Sachsens die Ergebnisse des Parteitages und die ans diesen Er- gekniffen für sie selbst sich ergebenden Pflichten ebenso auf, wie die „Leipz. Ztg.", so haben wir alle Ursache, damit zufrieden zu sein. Bei unserem Bestreben, dem conservativen Parteitage im Allgemeinen gerecht zu werden, setzen wir uns vor allen Dingen über gewisse üble Sitten hinweg, die den meiste» Parteien^ nicht allen, anhaften. Es gehört dahin die Gewohnheit der Selbstüberhebung, die in Dresden sich recht herrlich offenbarte durch die Be hauptung, die konservative Partei sei die stärkste Stütze der Monarchie, ihr liege in der Soeialpolitik ein stärkeres Gefühl der Verantwortung, ob als anderen Parteien u. s. w. Es sei aber zugegeben, daß diese Art Selbstberäucherung noch immer in den Rahmen der „übermäßigen Anpreisung" fällt, die die Rechtsprechung nicht als unlauteren Wettbewerb ansieht. Viel schwerer kommt man an der Thatsache vorbei, daß die konservative Partei den Zeitverhältuissen die Gewalt an- gethan hat, den Herrn Grafen Kanitz seinen verhängnißvollen Antrag überhaupt nnd noch dazu ganz in der gewohnten Weise plaidiren zu lassen. Indessen möchten wir auch dafür nur die menschliche Schwachheit, die Parteien noch stärker anhastet, als den Einzelnen, verantwortlich machen. Gras Kanitz ist der geistreichste Redner der konservativen Partei, er genießt als Privatmann ein wohlverdientes Ansehen, und die Rücksicht auf seine Person und vielleicht auch die auf ihm besonders nahestehende Parteifreunde mag es verboten haben, ihn im Hintergründe zu halten. Es ist aber unmöglich, das sehr starke Stück, das durch dieses Parteimitglied geleistet wurde, mit Stillschweigen zu übergehen. Im klebrigen können auch wir die konservative Partei, unter der Voranssetznng, daß Worte so ausgenommen werden dürfen, wie sie gesprochen worden sind, zu dem Verlaufe des Parteitages beglückwünschen. Die Aufgabe deS Unter nehmens war, wie schon gesagt, zu extremen Ten denzen innerhalb und neben der Partei Stellung zu nehmen und gleichwohl zu „sammeln". Ist nun auch der Berliner Leitung des Bundes der Land wirthe ein weitgehendes Zuzeständniß damit gemacht worden, daß die Parteiführer ein vieldeutiges Schlagwort derselben — „pflaumenweiche Candidaten" — sich aneigneten, so ist auf der andern Seite hervorznheben, daß dem Zwecke deS Parteitages — immer die Aufrichtigkeit voraus gesetzt — dadurch gedient wurde, daß Herr v. Plötz, nach dem Berichte der „Kreuzzeitung" wenigstens, die Au«''»andersetznng des Grasen Kanitz nicht berührte, dagegen dem Programmredner Frh'cn. v. Manteuffel und der Resolution zustimmte, die sich über das nolhwendige Verhältniß zu anderen Parteien, sowie über die wirthsckafts- politischen Ausgaben in einer Weise ausspricht, gegen die eine nationale Mittelpartei, die die Berechtigung einer conservativen Partei überhaupt anerkenn: — und das thun die Nationalliberalen nicht nur in Sachsen, sondern überall —, Einwendungen füglich nicht erheben kann. In der erwähnten Resolultion ist die Hilfsbedürftigkeit der Land- wirthschaft, des Handwerks und des Kleinhandels und sind die aus ihr sich ergebenden Consequenzen betont, jedoch mit der Versicherung, daß die staatliche Berücksichtigung dieser Erwerbszweige gefordert werde ohne Feindschaft gegen Industrie und Handel, daß vielmehr nur durch „Gleichberechtigung und Zusammenwirken aller wirth- schastlichcn Factoren, zu denen auch der legitime Handel gehört, das Wohl des Vaterlandes gefördert werden kann". Will und kann die konservative Partei nach dieser Richtschnur handeln, dann wird nichts im Wege stehen, daß die Aufgabe erfüllt wird, die Herr v. Manteuffel oer Partei gestellt hat, nämlich die, mit der nationalliberalen Partei „so nahe als möglich zusammen zu gehen". Was der konservative Führer über die Stellung zu anderen Parteien sagte, steht diesem Zwecke nicht im Wege. Die Stellung zu den Freisinnigen nnd dcn Socialvemokraten versteht sich von selbst, und für das wahre Wesen der antisemitischen Partei ha>. Herr v. Manteuffel in der Abwehr entgegengesetzter Da, stellungen der Parteitage volles Verständnis gezeigt. Auw daß irgendwelche Illusionen über die Politik deS Herrn Stöcker in der Partei nicht mehr entstehen können, ist deutlich zum Ausdrucke gekommen. Daß wir mu vielem Gesagten nicht einverstanden sind, versteht siw von selbst. Handelt es sich doch um Kundgebungen einer fremden, in einem großen Theile des Reiches u»a gegnerischen Partei. Aber allerdings einer gegnerischen Partei, mit der wir auf gemeinsamem Boden stehen, nut der unsere Partei lange zu unschätzbarem Segen für Deutschland zusammen gearbeitet hat und mit der sic wieder gemeinsam wird wirken können — wenn Dresden sich als mehr denn eine Episode in der Geschichte der deutschkonservativen Partei erweist und von Agitatoren, die der conservativen Partei nahe stehen, nicht mehr mit Grün: annähernd dasselbe gesagt werden kann, was Herr v. Man teuffel über socialdemokratische Volksaufwiegler bemerkt hat. Vorläufig läßt sich das Berliner BundeSorgan deu Weg offen, diese Erwartung nicht zu rechtfertigen. Es findet den „Nachdruck", mit dem Herr v. Manteuffel ein Zusammen gehen mit den Nationalliberalen für möglich erklärte, „über raschend" nnd ergeht sich auch in Bezug auf daS Ver hältniß zum „Radau-AntisemitiSmus" — dies das Wort des Herrn v. Manteuffel — in hinterhältigen Redensarten, die sich mit den Auslassungen des Herrn v. Plötz — obwohl dieser sich in Dresden auch nach dieser Richtung sehr diplomatisch geäußert bat — noch lange nicht decken. Die konservative Partei steht bei dem Bestreben, die „Sammlung" zu bewerkstelligen, offenbar vor einer Kraft probe. Auf Seite der Mittelparteien besteht hingegen kein Hinderniß des Zusammengehens. Hinter ven Worten, die der nationalliberale Abg. Friedberg am letzten Sonnabend im preußischen Abgeorvnetenhause gesprochen hat, steht seine Partei. Auch die „Köln. Ztg." hat, was wir sehr gern berichten, ihre von uns erwähnte erste Auffassung der Erklärung veS Ministers v. Hammerstem rückhaltlos berichtigt. Politische Tagesschau. * Leipzig, 4. Februar. Der Ltudenteustreik in Oesterreich ist heute ein allgemeiner. An allen Hochschulen, in Wien, Graz, Innsbruck, Leoben, Prag und Brünn haben Demonstrationen der deutschen Studentenschaft, zum Theil verbunden mit Zusammenstößen der beiden Nationalitäten, stattgefunden und in Folge dessen sind überall — in Graz auf bloßes Ersuchen der Hörer — die Vorlesungen vorläufig eingestellt. Die deutschen Studenten haben damit erzwungen, um was sie bisher vergeblich gebeten hatten. ES sind strenge Maßregeln gegen Demonstrationen und turbu lente Scenen angedroht worden, sie werden aber schwerlich kräftiger wirken, als die väterlichen Mahnungen der akademischen Lehrer, die sich im Herzen mit den Studenten Eins wissen. In der Antwort, welche Ministerpräsident Freiherr v. Gautsch dcn Rectoren in der nachgesuchten Audienz ertheilt hat, erkannte derselbe das Recht der Studentenschaft, Farben zu tragen, an, protestirte aber, daß in dem zeit weisen Verböte, durch welches jenes Recht an Bedeutung FrniHrton. Alice. 7j Roman von I. Lemina. Nachdruck verboten. Die alte Marquise hatte zu Haußr, so behauptete man, wenigstens Tausende und Abertausende liegen gehabt und die Banditen hatten vielleicht über eine Million geraubt. Diese Nachrichten wirkten auch auf Alice und mit entsetzlichem Schauder betrachtete sie die wenigen Thaler, die ihr Gatte ihr für die täglichen Ausgaben zurücklieb. Um keinen Preis hätte sie diese angerührt. Schon vor der Katastrophe hatte sie die bescheidenen Juwelen, die ihr geblieben waren, verkauft. Und noch mehr, da sie eine geschickte Stickerin war, so gebrauchte sie jetzt ihre freien Stunden, um angestrengt zu arbeiten. Sie be zahlte mit dem Erlös Alles und versteckte das von ihrem Gatten erhaltene Geld mit einer instinktiven Ehrlichkeit, in die sich ein uneingestandener Ekel mischte. Doch infolge dieser Leiden, die jeden Tag stärker wurden, fühlte sie sich nur noch mehr an den Mann gekettet, den sie weder verachten noch Haffen konnte. Sie erkannte ihre eigene Unwürdigkeit, daß sie für ihn nicht die Abneigung empfand, die er verdiente; sie fühlte wohl Gewissensbisse, doch ihre Liebe war stärker. Wenn sie bei den Kaufleuten bei ihren Morgeneinkäufen von irgend einem Verbrechen reden hörte, so schauderte sie, wurde blaß und senkte den Kopf. Eines Morgens hörte sie, wie ein Dienstmädchen in ihrem Beisein ausrief: „Aber warum werden denn diese Banditen nicht alle guillotinirt? Es giebt.doch keine Gerechtigkeit!" Sie entfloh, und als sie sich wieder in ihrer Wohnung be fand, brach sie in Schluchzen aus, und gleichzeitig machte sich zum ersten Mal eine furchtbare Erkenntnitz bei ihr bemerkbar. Die Polizei also suchte wirklich die Mörder und Diebe, und sie kam zu der Ueberzeuqung, daß daS Verbrechen nie unbestraft bleibt! Es gab Leute, deren Beruf es war, die Verbrecher zu verfolgen, sie zu fangen und dem Henker zu überliefern. Jetzt wurde Alice von einer entsetzlichen Furcht gequält, und zu jeder Stunde, namentlich in der Nacht, fühlte sie, wie eine verzehrende Unruhe sie peinigte. Alle ihre Nerven spannten sich zum Zerspringen, in ihrem Kopfe summte und surrte es un aufhörlich; und an den Schläfen empfand sie «inen fürchterlichen Schmerz. Sie wurde zuweilen von einem Zittern erfaßt, das sie minutenlang schüttelte, ohne daß es ihr gelang, es zu über winden. Besonders während der Abwesenheit Clairac's traten diese Erscheinungen mit größerer Heftigkeit hervor; sie blieb ganze Stunden lang an die Thür gelehnt und lauschte und wartete. Eine Stimme auf der Straße, ein dumpfer Schritt auf der Treppe, jedes ungewöhnliche Geräusch erschütterten ihren Or ganismus in so furchtbarer Weise, daß, wenn die Gefahr vorüber, sie sich wie gerädert niederlegte. Wenn Clairac anwesend war, so hatte sie einigermaßen Ruhe, und es war ihr dann möglich, sich in Sicherheit zu wiegen. Doch sobald er einschlief, spielte sich vor Alice's Augen eine ganze Tragödie der Verfolgung, der Verhaftung und des Todes ab. Aber empfand er denn gar keine Angst? War es denn möglich, daß er Alles vergessen hatte, sogar die Gefahr, die über seinem Haupte schwebte? War es denn ein so großes Verbrechen, daß ihn nicht einmal die geringste Unruhe quälte? Sie verbrachte schlaflose Nächte, mit stieren Augen starrte sic ihren Gatten an, und es packte sie «in wahnsinniger Wunsch, Clairac aufzuwecken und ihm zuzurufen: „Aber so sprich doch zu mir, gestehe doch, weine und bereue; sage, daß Du Furcht hast . . . oder so belüge mich doch wenigstens . . . leugne doch Dein Verbrechen!" Er schlief ruhig, und nicht das geringste Zeichen kündigte an, welches schwere Verbrechen auf seiner Seele lastete. An diesem Morgen hatte er sich frühzeitig erhoben und eine Verarbredung vorgeschüht, eine Audienz, bei der er pünktlich sein mußte. Um 7 Uhr war er fortgegangen und Alice war allein ge blieben, um noch einmal in einen dumpfen, bleiernen Schlaf zu verfallen. Plötzlich klopfte es an der Wand und sie sprang empor. Der entsetzliche Gedanke der Verhaftung stieg in ihr auf, doch „er" war fort, war gerettet! Es war Madame Davidot, die geklopft hatte. Alice stürzte zur Thür, in der Angst ihres Herzens hatte sie sich seit einiger Zeit mehr an die alte Frau angeschloffen. Sie arbeitete jetzt bei ihr und war glücklich, ihr ab und zu kleine Dienste leisten zu können. Schnell eilte sie ins Zimmer, denn sic fürchtete ein ernstes Unwohlsein. Als sie die Thür öffnete, stieß sie einen Schrei des Ent setzens aus. Die alte Frau klammerte sich mit den Händen an die Ma tratze, ihre Gesichtsziige waren verzerrt, ihre Augen blitzten, und sie schien sich in einer furchtbaren Wuth zu befinden. Alice lief auf sie zu und sagte, sie in die Arme nehmend: „Nun, was haben Sie denn? Sie leiden, haben Sie keine Furcht, ich bin's, Alice." Sie bemühte sich, die arme Frau zu halten, die übermensch liche Anstrengungen machte, ihr Bett zu verlassen. „Wollen Sie etwas? So sagen Sie es doch; ich werde es Ihnen geben." Ermattet war Madame Davidot auf ihre Kissen zurück gesunken; sie schien jetzt erst die junge Frau zu erkennen. „Ach, Sie sind's, um so besser; Sie müssen nämlich wissen, alle Welt muß es wissen . . ." „Aber was denn? Aber so beruhigen Sie sich doch, bitte." Doch Madame Davidot stieß sie zurück und schrie: „Ich werde ihn denunciren, ich werde ihn verkaufen, wie er seinen Bruder verkauft hat." Sie streckte ihre knochigen Arme nach dem Kämmerchen aus, wo sich das Bett befand, das man durch die halbgeöffnete Thür bemerkte. „Dort in dem Bett, unter der Matratze liegen Papiere .... Ich will sie haben. . . . Gehen Sie, gehen Sie, geben Sie sie mir." Sie versuchte noch einmal, sich zu erheben, und wäre beinahe zur Erde gestürzt. Um ein Unglück zu verhüten, lief Alice nach dem Cabinet, während die Alte ihr zurief: „Sehen Sie genau nach, durchsuchen Sie Alles, Alles!" Von Furcht ergriffen, suchte Alice an der bezeichneten Stelle, als sic plötzlich unter ihren Fingern eine Papierrolle fühlte. Die Alte beobachtete sie und rief ihr zu, sie möchte ihr das Gefundene bringen. Alice hatte keinen Grund, das nicht zu thun, und ohne die Papiere auch nur anzuschen, kehrte sie zu der Kranken zurück. „So", sagte sie, „jetzt werden Sie sich hoffentlich beruhigen. Wenn Sie wüßten, wie sehr Sie sich durch solche Aufregung schaden . . . ." Die Alte hörte kaum, 'lvas Alice sagte; mit ihren knochigen Händen hatte sie die Rolle gefaßt und mit einem Ruck die darum gewickelte Schnur abgerissen. Mit nervöser Aufregung breitete sie die Papiere auf dem Bette aus und rief dann: „Ich wußte es ja . . . Spitzel noch immer, Spitzel heute wie damals . . . Und er wird noch Andere verrathen, er wird noch Andere verlaufen, er wird noch Andere tödten, wie er einst seinen Bruder verrathen, verkauft und getödtet hat." „Ihr Sohn?" „Ja, mein Sohn .... Wußten Sie das nicht? . . . Dieser Bandit steht im Dienste der Polizei! Er ist es, der vor fünf Jahren seinen Bruder ausgeliefert hat, meinen Victor, dessen Bild dort hängt! Geben Sie es mir, dort neben dem Spiegel." Bestürzt, von einem Unbehagen erfaßt, das sie sich nicht er klären konnte, nahm Alice den kleinen Rahmen von der Wand und reichte ihn Madame Davidot, die in einem Paroxysmus der Wuth das Miniaturportrait mit Küssen bedeckte und dabei wieder holte: „Spitzel, Mörder!" „Aber sagen Sie mir nur", rief Alice, „von wem sprechen Sie denn?" „Ach ja, es ist ja wahr, Sie verstehen mich nicht; Sie wissen ja nicht, wer der Spitzel ist; nun denn, cs ist Davidot!" „Herr Davidot, Ihr Sohn?" „Mein Sohn, sagen Sie das nicht. Ich stoße ihn von mir, ich verfluche ihn. Ich hasse ihn. Habe ich einen Sohn bei der Polizei?" Mit ihrer abgehackten Stimme, die in ihrer Kehle förmlich röchelte, erzählte sie die Verschwörung vom Jahre 1820, den Hcldenmuth Victor's, der der Freund des Kaisers gewesen. . . . Nun denn, sein Bruder, dieser verdammte Davidot, habe ihn aus- spionirt und Gendarmen ausgeschickt, die Jenen tödteten. „Ach, sagen Sie doch das nicht, das ist ja unmöglich!" rief Alice. „Herr Davidot sieht so gut aus, er ist so ergeben." „Ja, gut und ergeben wie Judas. . . Er würde seine Mutler für zehn Thaler verkaufen, er würde uns Alle auf's Schaffst schicken, Sie, mich und Ihren Mann." Alice stieß einen Schrei des Entsetzens aus. „Nein, nein, das ist nicht wahr. Davidot . . ." „Aber nennen Sie doch ihn nicht mit dem Namen, der mir und seinem Bruder angehört, nennen Sie ihn Judas. Sie wollen mir nicht glauben? Nun so betrachten Sie diese Papiere, die er während der ganzen Nacht gelesen hat. Sagte ich es Ihnen nicht? Da oben in der Ecke der Stempel: Polizeidirection! O Spitzel, Spitzel!" Sie preßte die Papiere zusammen und zerkratzte sic mit ihren Nägeln. Entsetzt war Alice zurückgewichen und schauderte bei dem Wort Polizei, das ihr schon tagelang wie ein Alp auf der Brust lag. „Nun, was wollen Sie noch mehr!" schrie die Alte, „geben Sie mir meine Brille, ich werde Ihnen noch andere Sachen zeigen. Denunciation, Lügen und noch andere Geschichten, die sie erfinden, um sich zur Geltung zu bringen. Und mir hat er gesagt, er gehöre ihr nicht mehr an. O, dieser Lügner, dieser ewige Lügner! Dabei ist es wahr. Aha", fuhr sie fort, schnell die Blätter durch fliegend, „es handelt sich um die Gräfin Versannes in Neuilly."
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