02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.06.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-22
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990622021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899062202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899062202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-06
- Tag1899-06-22
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Reklame» unter dem RedactionSstrtch (4 ge spalten) 50^, vor den Familirnnachrtchten (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz, nach höherem Tarts. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ab end-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stund« früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag vou E- Polz in Leipzig 93. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 22. Juni. Mit Ausnahme der freisinnigen und der süddeutschen Volkspartei haben gestern im Reichstag alle bürgerlichen Parteien demKarolin enver trag ihre Zustimmung gegeben. Dieses Zusammenstehen bei einem Acte nationaler Politik bot keine üble Illustration zu dem tags vorher an die Regierung ergangenen Mahnung, den Umstand nicht zu miß achten, daß sie nach einer Reichstagsauflösung wegen deS vorgelegten ArbeitSschutzgcsetzcS Männer, die „den letzten Mann für das Heer und das letzte Schiff be willigen", in den Reihen ihrer Gegner finden würde. Die Abstimmung über die opferfreudige Erweiterung des deutschen Colonialbesitzes ist zugleich eine Erwiderung auf den Versuch, etwas Bedeutungsvolles darin zu finden, daß sich die Gegner der „Streikvorlage" in der Gesellschaft der vater- landSlosen Socialdemokraten befinden. Solche Hinweise auf derartige Parteiengruppirungen sind überhaupt moralisch minderwertyig und dabei sehr unvorsichtig. Es giebt keine einzige Partei, die nicht schon wiederholt mit der Socialdemokratie votirt hätte. Die Beweggründe der übereinstimmenden Stellungnahme werden in solchen Fällen bei den revolutionären und bei den staatserbaltenden Parteien verschiedene gewesen sein, jedenfalls sind sie es in der jetzt schwebenden Angelegenheit. UeberdieS besteht die Uebereinstimmung nur gegenüber dieser Vorlage, nicht gegenüber der Absicht, die eine Gesetzgebung gegen den Mißbrauch der CoalitionSfreiheit verwirklichen könnte. Daß der Gesetzentwurf der Regierung praktisch darüber hinaus und zur Erweiterung der Grund lagen der socialdemokratischen Agitation führen würde, ist — wenn man von den Ausführungen des Abg. vr. Arendt ab sieht — unbestritten geblieben. Auf der anderen Seite bestätigt sich die von uns alsbald nach dem betreffenden Fractionöbeschlusse der Nationalliberalen kundgegebene Auffassung, daß es nicht die Meinung ist, Aufforderungen zum Arbeilskampfe straf los zu lasten. Daß der Abg. Bassermann hinter dieser principiellen Auffassung zurückgeblieben ist, findet auch die socialpolitisch uns nicht gerade nahestehende „National- Zeitung". Das Blatt hält die Forderung nach einem wirksameren Schutze deS Rechtes zum Arbeiten nach wie vor aufrecht, e- giebt aber wie wir und ungefähr aus dem von uns angeführten Grunde die Campagne für jetzt verloren. Wir lesen nämlich: „Nicht jede gesetzgeberische Aufgabe kann in jedem „Milieu" gelöst werden. Dasjenige, welches durch die Vorgänge seit der Oeynhausener Rede (und doch Wohl vor Allem durch diese Rede. Die Red. d. „Leipz. Tagebl.") ge schaffen worden, ist einer kühlen und sachgemäßen Prüfung der enzbegrenzten Frage einer Ergänzung des 8 153 der Gewerbeordnung nicht günstig." Mit anderen Worten, die nationallibcrale Partei würde ihre Kraft bei einem aussichts losen Beginnen aufreiben, wenn sie auf dem Boden eines seinem „Sinn und Zweck", d. h. der Förderung des socialen Friedens, so häufig untreu werdenden Ge setzentwurfes daö Wünschenswertbe und Nöthige zu er langen suchte. Die Mißdeutungsfähigkeit der Absichten der Regierung ist durch die gestrigen Ausführungen des Grafen PosadowSky und des preußischen Handels ministers Bre seid wahrhaftig nicht gemindert worden. Beide Herren verriethen, daß sie in ihrem, dem Berliner „Milieu" neuerdings Vorstellungen über das Streiken eingescgen haben, die sich mit dem 8 152 der Gewerbeordnung, der von der CoalitionSfreiheit handelt, nicht vereinbaren lasten. Dabei war namentlich Herr Brefeld so wenig glücklich, daß er die schon tags vorher heraufbeschworene Erinnerung an dieVertheidigung der „Umsturzvorlage" durch Herrn v. Köller aufs Neue belebte. Der Vers „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will", ist zwar nicht so alt, wie jenes von Herrn v. Köller als Beweis für die Unentbehrlichkeit eben deS „Umsturzgesetzes" seiner Zeit heraugezogene Freiligrath'sche Gedicht. Aber neu ist eS auch nicht und ein preußischer Gewerbeminister sollte sein Bekanntwerden mit ihm nicht als ein der jüngsten Zeit angehörendes Ereigniß erzählen. Keinesfalls durfte er diesen Stein zu dem Material für eine Gesetzgebung legen, die die CoalitionSfreiheit unangetastet lasten will. Denn so viel Verwirrung gerade dieser VerS in Arbeiter köpfen auch angerichtet haben mag, es muß, wenn man die Niederlegung der Arbeit zum Zwecke der Erzielung besserer Arbeitsbedingungen nicht zu verbieten beabsichtigt, erlaubt bleiben, der Arbeiterschaft in gebundener und ungebundener Rede zu sagen, daß sie erfolgreiche Streiks herbei- zufübren im Stande sei. Ob dies im Allgemeinen zulrifft, ist eine Frage der Arbeiterkampfpolitik, aber nicht des Arbeiterkampfrechts. Wir haben bei diesem Beispiel verweilt, weil eS die Ueberzeugung befestigt, daß mit den gegen wärtigen Werkzeugen der Berliner Politik die unter allen Umständen schwierige und, mit der „Nat.-Ztg." zu reden, „engbegrenzte" Frage einer vom Stand- puncte der Coalitionsfreiheit einwandfreien Repression des CoalitionSzwangeS schwerlich zu lösen ist. Diese Aufgabe erfordert staatsmännische Selbstständigkeit, den Muth, das Unmögliche, auch wenn seine Inangriffnahme befohlen ist, «»angegriffen zu lassen. Der Reichstag setzt heule die Erörterung der Vorlage fort. Das Schicksal der Vorlage kann aber — und dies ist auch die Meinung ihrer Freunde — nicht mehr gewendet werden. Darum, so sollten wir meinen, empfiehlt sich die Vertagung der Propagirung des richtigen Gedankens eines vermehrten Arbeitsschutzes. Die Flinte soll und darf nicht inS Korn geworfen, aber bis zur Wiederkehr deS Büchsenlichts an den Nagel gehängt werden. Die Vertagungsvorlage, die dem Reichstag gestern zu gegangen ist, wird beute praktisch werden. Sie widerlegt das an sich unglaubwürdige Gerücht, eS würde SessivnSschluß und damit die thatsächliche Zurückziehung der Ar beiterschutzvorlage erfolgen. Nicht so ganz von der Hand gewiesen wird jedoch eine Darstellung der Situation, wonach man an hervorragender Stelle dem Gedanken näher getreten sei, gegenwärtig auf eine Arbeiterschutzgesetzgebung überhaupt zu verzichten. Dann würden die, wie Graf PosadowSky gestern versicherte, von Erfolg gekrönten Be mühungen, den BundeSrath in dieser Angelegenheit unter einen Hut zu bringen, dort, von wo sie auSgingen, nämlich von Preußen, nachträglich für überflüssig erachtet worden sein. Vielleicht hat der Erfolg in der Karoliiicnfrcigc etwas Be sänftigendes. Jedenfalls macht es einen guten Eindruck, daß der Reichstag nicht auseinandergeht, ohne sich positiv reichs politisch bethätigt zu haben. Wenn man von dem Abg. Lieber absieht, der Ueberschwänglichkeit profitabel zu finden schien, und von den Rednern der Socialdemokratie und der Volkspartei, die in nationalen Fragen nicht mitzählen, so ergiebt sich daö Bild eines die Erwerbung schätzenden, aber nicht überschätzenden Parlaments. Die Erwähnung deS I Kostenpunkte- wurde der Regierung nicht geschenkt, sie konnte I aber als etwa« Nebensächliches erfolgen, nachdem die Meldung, 1 daß andere Staaten von Spanien Anderes und Besseres wohlfeiler erstanden, schon in den Madrider Cortes als unrichtig bezeichnet worden war. Im Reichstage war gar nicht mehr die Rede davon. Das Beste an dem Uebergang der Karolinen in deutschen Besitz — das wurde wie vom Herrn v. Bülow auch vom Abg. Hasse betont — ist, daß er unserem Schutzgebiet in der Südsee eine vielleicht unangenehme Nachbarschaft fernhält. Herr v. Bülow erntete großen Dank und erwarb sich im Laufe der Debatte ein Anrecht auf weiteren durch die Mittheilung, daß er die den Karolinen - Ankauf bitter befehdenden Ar tikel der „Freisinnigen Zeitung" nach Madrid telegraphirt habe, um die dortigen Verhandlungen zu beschleunigen. Wenn schon die Kritik eines einer deutschen Großmachtpolitik, die diesen Namen verdient, abgeneigten Blattes die deutsche Diplomatie fördern kann, so wird ihr die Möglichkeit eines Hinweises auf unbefriedigte nationale Politiker im eigenen Lande unter Umständen erst recht zum Vortheil gereichen. Bisher konnte man den Leistungen der Officiösen nicht ent nehmen, daß die gegenwärtige Regierung Verständniß für diesen übrigens uralten Calcül besitze. Doppelt befriedigt war natürlich daSCentrum, da der Staatssekretär die juristisch allerdings unanfechtbare Auffassung kundgab, daß das Jesuitengesetz auf die Karolinen nicht ausgedehnt werden könne. Herrn Liebknecht ging seine Bemerkung, das Wort, „Deutschlands Zukunft liege auf dem Wasser", sei ein thörichteS Wort, hin. War nach unserer, nicht allgemein getheilten Meinung das hier vom Präsidenten beobachtete Ver fahren richtig, so wird sich von der Anerkennung des Ver haltens des Grafen Ballestrem gegenüber dem Minister Brefeld wohl Niemand ausschließcn. Der ministerielle Verstoß ist durch den Tadel des Präsidenten abgethan. Die ministerielle Begründung ruft aber den Wunsch wach, man möge unS doch endlich mit der Redensart, daß der Reichs kanzler die „Verantwortung für alle Handlungen der Regierung" trage, verschonen. War die Rede von Oeynhausen, deren Erwähnung den Zwischenfall herbeiführte, eine Regierungshandlung, wie kann dann eben diese Re gierung, die diese Handlung verantworten will, mit einer Vorlage kommen, die so ziemlich alles das nicht enthält, was in Oeynhausen angekündigt worden war? Man könnte diese Frage auch umstellen. Je beharrlicher in der englischen Presse die Versuche fortgesetzt werden, Deutschland als diejenige Macht anzu schwärzen, die das Scheitern der FriedcnSconsercnj ver schulde, um so beachtcnSwerther ist die Widerlegung dieser wissentlich falschen Behauptung von französischer Seite. Die „Nvpublique Franyaise" schreibt hierüber mit erfrischender Deutlichkeit daS Nachstehende: „Die Engländer haben endlich die Maske abgeworfen. Nachdem sie versucht haben, die Verantwortlichkeit für die Schwierig keiten bei dem Humanitären Werk des Zaren auf die Schultern Anderer zu legen, namentlich auf die Deutschlands, sind sie doch nicht im Stande gewesen, die Comödie aufrecht zu halten, und,der „Standard", dessen Ansicht wegen seiner nahen Beziehungen zum Ministerium Salisbury um so wichtiger ist, erklärt offen, das Ein zige, was der Friedensconferenz noch zu thun übrig bleibe, sei, sich so schnell wie möglich aufzulösen. Und warum? Weil, sagt das Toryblatt, Humanität, so wie sie im Haag verstanden wird, mit einer Reihe von Angriffen gegen englische Strategie und Taktik zusammenhänge, und weil eS beinahe einstimmig halb-osficiell erklärt wurde, daß die Art und Weise, in welcher von England Krieg geführt wird, eines civilisirten Volkes unwürdig sei. So fällt also die philanthropische Maske zu Boden, und die Dum-dum-Kugeln sind der höchste Ausdruck britischer Civilisation." Die „RSpublique Frantzaise" erklärt schließlich, wenn daS von den Mitgliedern der FriedenSconferenz unternommene Werk nicht durchgeführt werde, so falle die Verantwort lichkeit des Mißlingens in erster Reihe auf Eng land. — Wir brauchen dem nichts hinzuzufügen! Immer noch schwebt die französische Krise: auch der dritte Versuch, ein Cabinet zu Stande zu bringen, war umsonst! Nach Poincarö kam Waldeck-Rousseau, nach Waldeck-Rousseau Bourgeois, in erkennbarer Klimax von rechts nach links, aber Keinem ist das Experiment gelungen. Unsere letzten Tele gramme lauten: * Paris, 22. Juni. (Telegramm.) Trotz seines lebhaften Wunsches, unverzüglich nach dem Haag zurückzukehren, beschloß Bourgeois, bis nach der Bildung des neuen Cabinets in Paris zu bleiben, um der Persönlichkeit, die mit der Cabinetsbildung be traut werden wird, die Verhandlungen zu erleichtern. * Paris, 22. Juni. (Telegramm.) Da Bourgeois end- giltig die Cabinetsbildung abgelehnt hat, wird Präsident Loubet heute eine andere Persönlichkeit berufen, wahrscheinlich Waldeck- Rousseau, der geneigt sein soll, auf neuer Grundlage die Ver handlungen wieder aufzunehmen. Also auch jetzt wieder das die Lage so ungemein charakteri- sirende Moment: Rückkehr oder die Absicht der Rückkehr zu einem schon gescheiterten Piloten. Es fehlt an Männern, welche Lust haben, sich für die unvermeidliche Liquidation der „Affäre" persönlich zu exponiren. Es ist eben ein Anderes, platonisch sich für die Revision eines unseligen Processes einzusetzen, und wieder ein Anderes, seine poli tische Zukunft mit dem Odium des Kampfes gegen die mächtigste der constituirten Gewalten in Frankreich, gegen einen Theil der Generalität und die exclusivsten Kreise der Gesell schaft zu belasten. Vor allen Dingen findet sich kein Kriegs minister, der gewillt wäre oder cs wagte, für die unbedingte Achtung der höchsten civilen Justiz durch die militärische einzutreten, und ein großer Theil der gemäßigten Republikaner, auf welche Meline, der verkappte Reactionär, immer mehr Einfluß gewinnt, scheint ihnen Recht zu geben. So sieht Präsident Loubet sich je länger ze mehr auf die links stehenden radicalen Gruppen angewiesen, ja er hat sich schon genöthigt gesehen, einem aus gesprochenen Socialisten ein Portefeuille anzubieten. WaS bat man damit erreicht? Unzufriedenheit im socialistischen Lager! Den Umsturzmännern schwoll der Kamm zusehends, und sie verlangten für ihr Parteimitglied ein aus gesprochen „politisches" Portefeuille, und zwar ent weder das Ministerium des Innern» oder daS Justiz-, oder gar daS Kriegsministerium. Ein Socialdemokrat als Kriegsminister — mehr vermochte sich auch die Pariser Commune in ihren „besten" Tagen nicht zu leisten. Der Tag von Longchamps steckt der Republik bleischwer in den Gliedern, und daS ultrarevolutionäre Blatt „Journal du Peuple", daS aus dem Cultus deS Anarchismus der Thal eine SpecialitLt macht und die unter dem Fallbeil verendeten Genossen Ravachol und Lririlletsn. Die weiße Nelke. Roman von Isidore Kaulbach. Nawdrnck vnboleu. Erstes Capitel. Mühsam richtete er sich im Sessel empor und ließ die Hände sinken, mit denen er das Gesicht verhüllt hatte. Verwirrt, verstört schaute er umher. Vor dem Anblick der Wirklichkeit verwehte die leise, unklare Hoffnung, die ihn während der Minute künstlich geschaffener Dunkelheit umspielt hatte: die Hoffnung, daß er all' das Schreckliche nur geträumt haben möge. Nein, es war kein Traum! Dies war sein Zimmer, in dem er jeden Gegenstand kannte! Dort zur Rechten die Thür zum Haus flur, links weiter vor die dunkle, mit Läden verschlossene, die über die Veranda zum Garten führte; ihr gegenüber die dritte: der Eingang zum Atelier. Auf dem Mitteltische leuchtete ruhig in der schwülen Luft die Flamme einer halb herabgebrannten Kerze und breitete ein mattes Licht über das Gemach. Sie zeigte ihm Alles, wenn auch zum Theil in her Dämmerung versinkend: die Bilder, die Möbel, die Vorhänge, das zarte Ornament der Decke sie zeigte ihm auch das Eine, Gräßliche, das nicht hinein gehörte in diesen Raum: den Leich nam, der dalag, niedergesunken auf den Boden, gestützt von einem Sessel, gegen den er gefallen war, halb aufrecht gehalten durch den Widerstand, — die blasse, blutüberströmte Mädchengestalt, die mit ihren großen, weitgeöffneten Augen, in denen das Ent setzen des Todes noch wohnte, unverwandt zu ihm herzublicken schien. Er meinte, diesen Blick nicht länger ertragen zu können, der so fest auf «ine bestimmte Stell« seiner Brust gerichtet war, daß er unwillkürlich mit der Hand dorthin griff. Einen dumpfen Laut des Entsetzens ausstoßend, sprang er empor; Blut an seinen Händen — an seiner Brust! Das Blut des Mädchens, das dort vor ihm lag, dahingemordet in seiner üppigen Schönheit! Das Gefühl einer wahnsinnigen Angst vor der Todten, die Empfindung, daß er etwas thun, etwas unternehmen, daß er Leute herbeiholen müsse, packte ihn plötzlich. Er stürzte zur Thür nach dem Flur und drückte auf die elektrische Glocke, die dort angebracht war. Ein langer, schriller, zitternder Ton klang durch das Hau-, aber Niemand kam. Er irrt« im Zimmer umher, wartend, zuweilen einen ver störten Blick nach der Leiche hinüberfendend, deren Nähe er ver mied. Bei ihrem Anblick kam ihm die Erinnerung an eine andere, geliebte Mädchengestalt. „Elisabeth!" schrie es in ihm auf, und von einem erhöhten Schauver ergriffen, eilte er noch einmal zur Glocke, um ihren Ton von Neuem wachzurufen. Zugleich aber riß er die Thür selbst auf, durcheilte den schmalen, dunklen Korri dor, öffnete auch die Entrc-ethür, trat auf den Flur und rief den Namen der Magd hinunter ins Souterrain. Wieder vergingen ein paar Secunden. Die Gerufene kam nicht. Endlich aber hörte er ein leichtes Geräusch, das von oben her zu ihm drang. Zugleich sah er, in das Treppenhaus hinein spähend, wie ein Lichtschein sich aus dem obersten Stockwerke zu ihm herabbewegte. Dann wurde eine weibliche Gestalt auf den Stufen sichtbar, die ein Licht in der Hand hielt. „Haben Sie gerufen, Herr Claasen?" fragte sie; „um Gottes willen, was ist geschehen?" „Sie sind es, Fräulein Henzen! Gott sei Dank, daß Sie kommen!" „Aber, was fehlt Ihnen? Sie sind bleich, wie der Tod! Ist ein Unglück . . .?" Er rang vergeblich nach Worten, sein hübsches, feines Gesicht mit dem dunklen Haar und Bart war verzerrt. Mit «in«r Hand bewegung nur hieß er sie eintreten. Sobald sie die Schwelle überschritten hatte, stieß sie einen Schrei aus und eilte zu der Leiche hinüber, um dann doch, von Entsetzen gebannt, auf halbem Wege inne zu halten» »Ist sie — ist sie todt?" stammelte das Mädchen. „Todt, — ermordet!" „Ermordet!" Sie sah ihn an; es war ein seltsamer Blick, scharf und klar, aus tiefen, schwarzen Augen, die auf dem Grunde seiner Seele schienen lesen zu wollen. „Ich habe sie gefunden, so wie sie daliegt. Ermordet — hier in meinem Zimmer! Es sind noch keine zehn Minuten, seit ich nach Hause gekommen bin. Auf dem Flur war es dunkel, Sie haben es ja gesehen. Im Finstern tappe ich mich nach der Thür, im Finstern suche ich Licht zu machen, das nicht auf seinem ge wohnten Platze steht. Endlich habe ich es gefunden, zünde ein Streichholz an und da sehe ich dies! O, es ist gräßlich, gräßlich!" „Und ebenso unverständlich, wie gräßlich", sagte das Mädchen, mit ihren schwarzen, durchbohrenden Augen ihn noch immer un verwandt betrachtend. „Wie kommt das Fräulein hierher zu Ihnen um diese Zeit in die verschlossen« Wohnung?" Sie trat einen Schritt näher zu ihm heran; „Herr Claasen, können Sie sich denken, wer diese ruchlose That begangen haben kann?" Er öffnete die Lippen, um ihr zu antworten, aber in dem selben Augenblick verstummte er wieder mit «inem erstickten Laute des Schreckens. An der Verandathür war ein Klopfen ertönt, das ihn jäh hatte zusammenfahren lasten. „Es hat geklopft, dort an der Thür zum Garten", sagte das Mädchen; „warum sind Sie so erschrocken?" „Nicht erschrocken — nicht weiter erschrocken — cs sind nur die Nerven. Der gräßliche Anblick hat mich aller Fassung be raubt. Ich weiß — ich kann mir denken, wer es ist. Es wird der Rechtsanwalt Glaubitz sein, ein Bekannter von mir, er besucht mich öfter noch Abends und nimmt dann häufig den Weg durch den Garten." Mit wankenden Schritten ging er zur Verandathür und öffnete sie. Die Flügel schlugen nach außen auf, so daß der Davorstehende in die Dämmerung zurückweichen mußte und das Zimmer nicht sogleich übersehen konnte. Von dorther klang eine tiefe, doch etwas harte Männerstimme: „Guten Abend, Claasen, — wie geht's? Nun, wie weit ist seit neulich — ich meine, das Porträt von Ah — Sie haben Besuch —" Er hielt im Reden inne und blickte, näher tretend, von Meta auf Richaro, als ob ihn deren verstörte Mienen befremdeten. Claasen aber stellte sich, um ihm den unerwarteten Anblick der Todten zu ersparen, vor ihn hin, ergriff seine beiden Hände und sagte im Tone tiefster Erschütterung: „Hier ist ein furchtbares Unglück geschehen, Glcrubitz, es ist ein Verbrechen . . ." Der Rechtsanwalt prallte entsetzt zurück; in seine hageren, bartlosen Züge trat ein Ausdruck tödtlichen Erschreckens. Fast unsanft drängte er den Maler bei Seite. Er hatte die regungs lose Gestalt am Boden erblickt. „Ein Mord!" schrie er auf, „ein Moro hier bei Ihnen! Dos ist ja die Goladtka, die Schauspielerin vom Lessingtheater, die Sie gemalt haben!" Er that einen Schritt zu der Todten hin und starrte wortlos auf sie nieder. Dann wandte er sich um, sah Claasen an mit einem wilden Blick und rief: „Was ist mit ihr geschehen? Und wer hat diesen verruchten Mord begangen? Claasen, wie kommt sie zu Ihnen — in Ihre Wohnung?" Auf dem Boden, unter den Saum des Kleives geglitten, lag ein spitzer, blutbefleckter Dolch. Glaubitz' Fuß stieß dagegen. Er hob die Waffe auf und betrachtete die spitze, scharfe Klinge und d«n feingearbeiteten, altsilbernen Griff; Claasen hatte diesen Dolch als Modell zu einem Bilde benutzt! Mit «inem entsetzten Blick hielt der Rechtsanwalt ihn dem Maler entgegen. — „Um Got'es willen — Ihr Dolch, Claasen — wie ist es zu verstehen?" „Ich weiß nichts", stammelte Richard, „ich bin selbst wie vom Schlage gerührt gewesen . . . und mein — mein Dolch! " er verstummte, aschfahl im Gesicht. „Gerechter Himmel!" schrie Meta Henzen mit einem Male jäh auf, „Ihr Anzug ist mit Blut befleckt — und hier — überall Blut, — an Ihrer Hand — retten Sie sich, Herr Claasen, sonst kommt das Gericht über Sie!" Das leidenschaftliche Mädchen stand eine Weile mit fliegendem Athem und funkelnden Augen vor dem niedergeschmetterten Manne. Dann stürzte sie hinaus. Der junge Maler fühlte, daß eine große Schwäche ihn zu lähmen drohte. Mit aller Willens kraft hielt er sich aufrecht. Jetzt bemerkte auch Alfred Glaubitz die Blutstropfen an seiner Hand. Seine wildrollenden Augen richtete er auf den Unglücklichen, er faßte dessen Gelenk mit eisernem Griff. „Claasen — Claasen —", flüsterte er in furchtbarer Er regung, „der Dolch und die Blutspuren und Alles — Alles er zeugt einen schrecklichen Verdacht gegen Sie!" Claasen brach fast Mammen unter der Wucht dieser zer malmenden Worte. Er rang die Hände und fiel kraftlos^auf einen Stuhl. Von seinen bleichen Lippen kamen endlich stammelnde, von Qual durchbebte Worte: „Retten Sie mich aus dieser entsetzlichen Lage, Glaubitz, ich flehe Sie an — stehen Sie mir bei!" „Wir müssen überlegen, lieber Freund, lassen Sie uns Zeit", gab der Rechtsanwalt zur Antwort. „Was hatte das Mädchen hier bei Ihnen im Zimmer zu thun? Zu später Abendstunde? Und dieser Dolch — können Sie beweisen, daß er nicht der Ihrige ist?" „Ein Räthsel — ein grausenvolles Räthsel!" rief Claasen fassungslos. „Aber Sie haben die Goladtka doch gemalt — sie muß doch täglich zu Ihren Sitzungen gekommen sein. Wie ist es möglich, daß Ihnen dies Alles räthselhaft sein soll?" „Und doch kann ich das Wort, das ich spreche, beschwören! O, sagen Sie mir, was können wir thun?" Glaubitz hatte jetzt fein« Erregung einigermaßen überwunden. „Zunächst werde ich gehen und «inen Arzt holen", sagte er ruhiger; „Doctor Grüner wohnt hier ganz in der Nähe. Und dann — e» ist besser, damit nicht zu lange zu warten — werde ich auch gleich die Polizei benachrichtigen." „Thun Sie das — gehen Sie, aber kommen Sie bald zurück!" Glaubitz verließ das Zimmer und ließ Richard Claasen kn Verzweiflung zurück. Eine dumpfe Niedergrschlagenheit über fiel diesen. Wie im schweren Traum saß er da auf einem Stuhl neben dem Tisch; er fühlte nicht und dachte nicht; es lag nur wie
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