Delete Search...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.05.1903
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-05-27
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030527028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903052702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903052702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-05
- Tag1903-05-27
- Monat1903-05
- Jahr1903
- Links
-
Downloads
- Download single page (JPG)
-
Fulltext page (XML)
Bezugs-Preis t» d«r Hanptexpeditio« oder deren ÄiSgabe- stellev abgeholt: vierteljährlich 8.—, de« zweimaliger täglicher Zustellung tnS Hau ell 8.7b. Durch die Post bezogen für Deutsch, laud ». Oesterreich vierteljährlich 4.50, für die übrigen Länder laut ZeitungSpreisliste. Nedaktion und Lrpe-itio«: JvhanntSgaffe 8. Kernsprecher lb3 und 222. Ftli«U»vpeditt»a»a r Alfred Hahu, Buchhandlg., UniversstStSstr.S, L. Lisch«, Katharinenstr. 14, «. KSuigSpl. 7. Haupt-Filiale Vres-en: Marienstraß« 84. Kerusprrcher Amt I Nr. 1718. Haupt-Filiale Serlie: Carl Drmcker, Herzgl. Bayr. Hosbuchhandlg, Lützowstraße 10. Fernsprecher Amt VI Nr. 4608 Abend-Ausgabe. WjMM TaMalt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, -es Rates und des Volizeiamtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Preis die Sgespaltene Petitzeite LS Reklamen unter dem Redaktionsstrich (4 gespalten) 7b vor den Familieuuach- richter. (6 gespalten) bO Tabellarischer und Zisternsatz entsprechend höher. — Siebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-AuSgabe, ohne Postbesörderung ^4 60.—, mit Postbesörderung 70.—» ^unahmeschluß für Änzrigeu: Abeud-Au-gabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck uud Verlag vou E. Polz tu Leipzig. Nr. M. S7. Jahrgang. Mittwoch dm 27. Mai 1903. Politische Tagesschau. * Leipzig, 27. Mai. Die Sozialdemokratie und der Krieg von 187V/7I. Io diesen Tagen, wo so mancher sich zu entscheiden hat, ob er für oder gegen den Sozialdemokraten seine Stimme bei den nabenden ReickStagSwahlen abgeben soll, erwirbt sich die „Post" das Verdienst, daran zu erinnern, wie die damaligen sozialdemokratischen Abgeordneten sich in den ersten kritischen Tagen nach der französischen Kriegserklärung im Jahre 1870 ihrer Pflicht gegen das Vaterland entledigt haben. Der Reichstag war damals schleunigst nach Berlin zusammenberusen worden, um vor allem neben anderen Maßnahmen die dringend erforderlichen Geldmittel für die Kriegssührung zu bewilligen. Am 20. Juli hatte der Reichstag in l. und 2. Lesung die Kredit vorlage einstimmig bewilligt. (Die beiden sozialdemo kratischen Abgeordneten des Hauses fehlten noch, die drei Hannoveraner Wmdthorst, v. d. Wease und Jordan hatten für die Vorlage gestimmt.) Das Bild änderte sich erst, als am 2l. Juli auch die beiden Sozialdemo kraten Bebel und Liebknecht in das Haus eingetreten waren. Beim Beginne der dritten Lesung der Kreditvorlage erklärte jetzt der Abgeordnete Bebel zur Geschäftsordnung, daß Liebknecht und er eine Debatte, die allgemein nicht gewünscht werde, nicht provozieren wollten, daß sie sich in der vorliegenden Frage aber der Abstimmung enthalten und die Motivieiuug dafür dem Haute schriftlich zu den Akten elmeichen würden. Der Präsident erklärte hieraus ironisch nur, daß er die Herren nickt hindern könne, dem Hause irgend etwa- schriftlich einzureichen. Die sozialdemokiatische Moti vierung batte folgenden bezeichnenden Wortlaut: „Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unter nommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Jntelesse der Dynastie Hohenzollern. Die zur Führung d«S Krieges dem Reichstage abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil die» «in Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 de« gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebensowenig können wir die gefordeiten Geldmittel vrrweigern; denn es könnte die» als Billigung der srevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werben. Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, alS Sozialrepublikaner und Mitglieder der internationalen Arbeiter - Association, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbünde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und ent halten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung auSiprechen, daß die Böhler Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Uebel zu beseitigen." Die Vorlage wurde darauf auch in dritter Lesung mit allen Stimmen außer denen der beiden genannten sozialdemokratischen Abgeordneten angenommen. Von den ersten kritischen Tagen an hat so die Sozialdemokratie, an deren Spitze noch beute einer jener Abgeordneten steht, dem Vaterlande den Dienst verweigert. Wenn eS nach dem Sinne der Sozialdemokraten Bebel und Liebknecht ge gangen wäre, wäre Deutschland 1870 wehrlos Napoleon auS- geliefert worden. Sozialdemokratie und Kompromiffe. Bekanntlich bat am Sonntag hier in Leipzig bei dem Jubiläum deS Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins einer seiner Mitbegründer, der „Genosse" Vahlteick aus New Jork, die Festrede gehalten. Ihr in der „Leipz. VolkSztg." vorliegender Wortlaut ist in mehr als einer Hinsicht inter- efsant und lehrreich, weshalb wir uns Vorbehalten, auf ihn zurückzukommen. Für heute sei hervorgehoben, daß Vablteich sich in fedr bemerkenswerter Weise die Notwendigkeit, Kom promisse zu schließen, betont hat, indem er ausfühne: „Wenn wir mit einander leben wollen, so müssen wir Kom promisse machen. Denken Sie sich eine Ehe ohne Kompromisse — wie lange würde die dauern? Denken Sie an einen Lehrer — muß er nicht in jedem Falle Kompromisse schließen mit der In- dividualität des Schülers... Ueberall, wohin Sie sehen, besteht die Kunst, zu leben, darin, daß die Menschen Geduld mit einander haben und sich ineinander fügen, und so sind im politischen Leben noch zu allen Zeiten Kompromisse gemacht worden." Angesichts dieser Auslassung erinnert man sich mit dop pelter Lebhaftigkeit, wie sehr der gemäßigte Liberalismus gerade von der Sozialdemokratie wegen seiner grundsätzlichen Bereitwilligkeit zum Abschluffe von Kompromissen verhöhnt wird. Und man erinnert sich ferner, daß die Politik unserer Sozialdemokratie in praxi der reine Hohn auf die Auf fassung de« 'Leipziger Festredners ist. Eben jetzt kündigt die Sozialdemokratie an, Handelsverträge, die höhere landwirtschaftliche Zölle als die bestehenden enthalt«, ablehnen zu wollen; im Reichstage selbst hat die Sozialdemokratie noch kurz vor dem Schluffe der Session gegen die Novelle zum KrankenverficherungSgesetze gestimmt, weil sie ihre weitergebenden Forderungen nicht durchgesetzt hatte. Es ist bezeichnend, daß nicht bloß die politische Sozialdemokratie, sondern auch die gewerk schaftliche den jedes Komprom >ß verwerfenden Radikalismus als den Inbegriff aller politischen Weisheit preist. So nennt baS Zentralorgan der sozialdemokratischen Ge- werktchaften die Novelle zum Ki ankenversicherungsgesetz ein „Stückwerk von kläglicher Natur", wie seit langem kein zweites den Reichstag verlassen habe. „Nur der Drang", heißt es weiter, „vor den Neuwahlen noch so etwas zu tun, was einer Reform ähnlich sieht, führte Regierung und Reichstag dahin, das Volk mit diesem Fragmente zu beglücken . . . Eine konse quente Sozialpolitik würde sich mit Vorsckußreförmchen nicht aufbalten ..." — Eine derartige Sprache führt das Ge- werlschaftSblatt, obwohl die Novelle durch Ausdehnung der Versicherungspflicht mindestens 300 000 Handlungsgebülfen zugute kommt, obwohl die Unterstützungsdauer von 13 auf 26Wochen ausgedehnt ist, obwohl dieWöchnerinnenunlersiützung von 4 auf 6 Wochen verlängert und die Ausnahmebestimmung für Geschlechtskranke gestrichen wurde rc. Freilich, das sozial demokratische GewerkschaflSblatt kann sich dieses „vernichtende" Urteil ebensoleicht gestatten, wie die sozialdemokratische Reichstagsfraktion das ablehnende Votum bei dem Ent schlüsse der bürgerlichen Parteien, die Novelle nicht scheitern zu lassen. Sozialdemokratische Partei und fozialdemokraiische Gewerkschaften benützten eben, das hat die „Soziale Praxis" mit Recht scharf hervorgehoben, die günstige Gelegenheit, die Verbesserungen der Novelle zu erhalten, sich aber gleich zeitig den Wählern gegenüber mit dem Mantel der Unbeug- samkeit zu schmücken. Dem Leipziger Festredner Vahltcich muß eine solche Agitation für Parteizwecke nach seiner Auf fassung vom Kompromisse nicht minder verwerflich erfcheinen als bürgerlichen Politikern. England nnd der Kongostaat. Zu den Liebenswürdigkeiten, die seit der englisch französischen Annäherung von einem Teile der Pariser Presse an England verschwendet werden, gehört auch die Behauptung des „Temps", daß der jetzt unabhängige Kongostaat niemals eine belgische Kolonie werden könne, da die belgische Verfassung den Erwerb und B>" überseeischer Territorien ausschlicße. Diese Be hauptung ist haltlos, denn die revidierte Verfassung Belgiens vom 9. September 1893 lautet in Artikel 1 8 4: „Die Kolonien, überseeischen Besitzungen oder Schutzgebiete, die Belgien erwerben kann, werden auf Grund besonderer Gesetze verwaltet. Belgische Truppen können zu ihrer Verteidigung nur berufen werden, wenn sich die betreffenden Kontingente durch freiwillige Meldung zur Verwendung in diesen Gebieten bereit er klärt haben." Prinzipiell steht also nichts im Wege, daß das Kongogebiet in ein engeres Verhältnis zu dem jenigen Staate tritt, dem es mittelbar eine anerkennens werte Förderung seiner wirtschaftlichen Entwickelung verdankt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Verwaltung des Kongostaatcs eine Reihe von civili- satorischen und kulturellen Einrichtungen ins Leben gerufen welche die Lebens- und Arbeitsvcrhältnisse in diesem Teile Afrikas gänzlich umgestaltet haben und welche jedenfalls in dem benachbarten französischen Kvngogcbicte nicht zu finden sind. Die einander ab- löscndon Epidemien, Hungersnöte uüd inneren Unruhen sind fast verschwunden, Straßen und Eisenbahnen sind entstanden, Ackerbau, Handel und Industrie haben Ein gang und erfreulichen Aufschwung gefunden. Wenn trotzdem das englische Unterhaus in seiner Sitzung vom 21. Mai sich eingehend mit den Verhältnissen im Kongo staate beschäftigt und für die schweren Beschuldigungen, die von mehreren Mitgliedern des Hauses gegen die Ver waltung des Kongostaates erhoben wurden, ein offenes Ohr gehabt hat, so wird niemand glauben wollen, daß es den Interpellanten lediglich darum zu tun war, den Standpunkt der Humanität und Gerechtigkeit zu ver treten. Zweifellos siüd die Zustände im Kongostaate in mehr als einer Beziehung durchgreifender Reformen dringend bedürftig; denjenigen Kreisen in England aber, welche die Kongo-Debatte im Unterhause herbeigeführt haben, ist sicherlich der größte Stein des Anstoßes der Umstand gewesen, daß die Verwaltung des Kongostaates an dem Grundsätze, daß kein Handelsmonopol innerhalb des Gebietes des Freistaates gestattet sein soll, gegenüber britischen Unternehmern nicht festgehalten hat. Außer dem finden die panafrikanischen Bestrebungen der britischen Imperialisten, die mindestens aus die Schaffung einer von Kairo zum Kap reichenden englischen Macht sphäre hinarbeiten, in dem unabhängigen Kongostaate ein Hemmnis, dessen Beseitigung ihnen vielleicht nicht weniger erwünscht wäre, als ihnen der Fall der einstigen Boerenrepubliken willkommen gewesen ist. Russifizieruug Finlands. Durch einen kaiserlichen, vom Generalgouverneur Bobrikvsf erwirkten Befehl ist soeben angeordnet worden, daß in Zukunft die Beamten der finländischen städtischen Polizei nicht mehr ihre bisherige Landesuniform, sondern die Uniform der russischen Polizeibeamten tragen müssen. Bis zum 1. Juli 1904 ist es gestattet, die alten Uniformen zu tragen, dann aber müssen die russischen in Gebrauch genommen werden. Diese Maßnahme, die natürlich sehr viel böses Blut im Grobfürstentum macht, ist lediglich des halb getroffen worden, um die Polizeibeamten als Staats- und nicht als Selbstverwaltungsbcamte hinzustellen. Auch äußerlich gewinnt Kinland jetzt mehr den Charakter einer russischen Provinz, zu der es durchaus herabgedrückt wer den soll. Der finländische Senat hatte für die Helsing- forser Polizeibeamten besondere Uniformen gewünscht, um sie als hauptstädtische Beamte zu kennzeichnen. Aber er erhielt eine schroff abweisende Antwort vom General gouverneur. Helisingfors sei nur der Sitz "der Regierung und der Behörden, und keine,-öauptstadt". Keine andere russische Stadt außer Petersburg und Moskau sei eines solchen Vorzuges teilhaftig, weder Kijew, die Mutter der russischen Städte, noch Wilna, die Hauptstadt der littau- ischen Fürsten, noch Tiflis, die Residenz der Zaren von Grüsien. Helsingfors ist danach nur eine gewöhnliche Gouvernementsstadt. Das russische Zerstörungswerk geht immer weiter, was sich auch in den fortgesetzten Aus weisungen zeigt. Bon besonderer Bedeutung ist die Tat sache, daß Herrn L. Mechelin, der jetzt in Stockholm weilt, durch die dortige russische Gesandtschaft das Verbot übermittelt worden ist, nach Finland zurückzukehren. Mechelin (geb. 1839) gilt mit Recht als einer der hervor- Feuilleton. 22i Freiheit. Roman von Walter Schmidt-Häßler. Nachdruck verboten. Aber das schöne Weib lachte hell und förmlich über mütig auf, daß hinter den purpurnen Lippen die weißen Zähne blitzten: „Unglückliche Liebe?! — Was sind Sie für ein großes Kind! Da haben wir den deutschen Träumer! — Liebster Reinhardt, eine unglückliche Lieb e ist wohl das Unsinnigste, was meine Fantasie sich denken kann. Die Welt ist ja so groß, so schön und so voll von lauter herr lichen Geschöpfen Gottes, die alle zärtliche Neigung ver dienen und erwidern können! — Und nun sollte von all diesen Tausenden ein einzelnes Individuum das Recht haben, ein anderes so grenzenlos unglücklich zu »nachen? Nein, mein Freund, das lasse ich nicht gelten. Wird eine Liebe nicht erwidert oder mit Undank gelohnt, so kann doch ein logisch denkender Mensch mit fünf gesunden Sin nen dieses Vergehen, wenn es überhaupt ein solches ist, nicht an sich selbst bestrafen, das ist doch widersinnig im höchsten Grade! — Wer wird denn sein Leben lang mit Zahnschmerzen Herumlaufen wollen? Man tötet den schmerzenden Nerv und lebt geheilt weiter, sobald die Stö rung beseitigt ist. Mit einer unglücklichen Liebe martert man doch nur sich selbst — dem andern ist dieses Opfer im höchsten Grade gleichgültig — und deshalb vollständig zwecklos!" „Sie haben wirklich eine beneidenswerte Logik", sagte Reinhardt bitter, „sonnig und wolkenlos, wie der ewig lachende Himmel Ihrer Heimat." „Nun also, wenn Sie das anerkennen, so sagen Sie mir, wo die Wurzel Ihres seelischen Leidens sitzt; denn, verzeihen Sie, an das tote Schwesterlein glaube ich nicht! Ich will versuchen, ob ich Ihrem Gram mit meiner sonni gen Logik nicht beikommen kann!" „Ich fühle mich einsam, Maddalena", stieß Reinhardt erregt heraus, während ihm langsam das Blut in die Schläfen stieg, „ich sehne mich nach Glück, nach einem end losen, ewigen Glück seligen Sichgchörenö, nach dem lodern- den Aufgehen in der andern Seele, die zu mir gehört, die mich versteht und die mit mir teilt, bis der Tod uns scheidet!" Er war ihr unwillkürlich näher gerückt, hatte ihre Hand erfaßt und hielt sie zwischen seinen fieberheißen Fingern, während seine Augen mit versengender Leidenschaft auf ihrem Gesicht ruhten. Er fühlte, daß er jetzt die Brücken hinter sich abgebrochen hatte, er wollte nicht mehr zurück, wollte frei sein um jeden Preis. Einen Augenblick blieb alles still um die beiden, man hätte das Klopfen seines Herzens hören können. Die schöne Römerin lächelte und sah ihn mit einem wundersamen Ausdruck an, als sie erwiderte: „Sie wünschen sich ein ewiges Glück? Sagten Sie nicht „ewig" und „endlos"? Sie lieber, kurzsichtiger Träumer! Was nennen Sic „ewig"? Gibt's etwas Endloses auf diesem Planeten oder dort im Universum? Reift eine Wonne, wie Sie sie sich ersehenen, überhaupt auf dieser Welt? Nein, mein Freund, jedes Glück verblaßt, der seligste Rausch geht unter in der Gewohnheit, ebbt dahin in dem großen Meere des Banalen. Die Zeit macht unerbittlich ihr Recht geltend an alles Sterbliche — und nichts ist so sterblich — als die Liebe!" „Maddalena!" flüsterte Reinhardt erblassend, „wie grausam sind Sie — nnd wie ungerecht gegen die Gottheit!" Sie aber schütte te das dunkle Haupt. „Nein, Rein hardt, wahrhaftig, ich bin's nicht! Ich bin nur ehrlich. Die Liebe mag noch jo süß, noch so beglückend sein, sie hat eine furchtbare Feindin, die sie unerbittlich zerstört — die Gewohnheit. Sehen Sie diese Rose hier an, das Urbild der Schönheit, das Tadelloseste an Form und Duft. Ich breche sie Ihnen zum Andenken an diese Stunde. Ihr Auge wird sie schön und begehrenswert finden, ihr Duft wird Sie erfreuen heute — vielleicht auch noch morgen. Sie werden sie ins Wasser stellen und sie liebevoll pflegen. Aber sie welkt, sie muß welken, rettungslos, sobald Sie sie gebrochen haben, beginnt der Prozeß des Verblühens. Morgen wird sie den Kopf hängen, dann wird sie anfangen zu entblättern — und Sie, dem sie keine Düfte mehr geben kann — werden eben naturgemäß eine andere Rose an ihre Stelle setzen. Oder werden Sie dieser einen nach trauern und darüber den ganzen Park voll Rosen ver schmähen? Es gibt eben nichts Ewiges auf Erden!" Reinhardt nahm die Blume, die Maddalena ihm reichte und schaute sinnend nieder auf die samtnen Blätter, zwischen denen ein Tautropfen funkelte, wie eine Träne. Dann sagte er schmerzlich, ohne die schöne Frau anzu sehen: „Nach dieser furchtbaren Theorie müßten Sie ja dann die Ehe als das Vergänglichste in Bezug auf das Glück tarieren?" „Das tue ich auch, bester Freund!" antwortete sie mit einem reizend spöttischen Lächeln. „Noch mehr als das. Eine Ehe denke ich mir ganz entsetzlich langweilig auf die Dauer. Verzeihen Sie mir, wenn ich da Ihr poetisches Gefühl verletze; aber etwas Monotoneres kann ich mir gar nicht vorstellen. Bon meiner Ehe mit dem Fürsten Rogui kann ich nicht reden; denn sie dauerte nur ein Jahr, und war bezaubernd schön, ein fortgesetzter Rausch jungen, seligen Glückes. Wir fingen eben kaum an, uns an einander zu gewöhnen — als er starb." „Und Sie konnten ihn vergessen?" „Wer sagt Ihnen, daß ich ibn vergessen habe? Ich habe ihn ehrlich beweint. Ich habe lange gebraucht, bis ich wieder lachen lernte. Aber später habe ich über diese heilige Institution ernster nachgedacht, habe ihr Wesen an andern studiert. Und fast überall fand ich das Gleiche, erst ein himmelhohes Aufflammen, als könnte die Selig keit kein Ende nehmen, dann ein nüchternes Sich- ineinanderfinden — und zule^t die Uebersättigung, die Gleichgültigkeit — der gegenseitige Betrug aus Feigheit vor der Wahrheit! Nein, mein lieber Reinhardt — an alles Glück der Liebe, an alle Wonnen, Torheiten und Seligkeiten will ich glauben mit Ihnen; aber nicht an ewige Dauer!" Berning schwieg. Er empfand in seiner Brust eine Art körperlichen Schmerzes, ihm war, als wäre in ihm mit schrillem Ton etwas entzweigerissen. Stumm starrte er nieder auf die Rose, die leise zwischen seinen Fingern zitterte. Und tief im Schoße der dunklen Blätter schien ihm ein liebes, bekanntes Gesicht zuzunicken wie ein Bote des Friedens aus einer andern Welt. Keiner sprach. Nur in der Ferne klang aus einem der umliegenden Gärten die Weise einer Mandoline, und ein Käfer zog summend zwischen den Säulen hin. Längst war die Sonne unter und hinter den Wipfeln der Sytvmoren stieg langsam der Mond auf, der blasse Freund aus der Heimat, und schien herunterzugrüßen auf den armen deutschen Künstler wie ein trauter Bekannter von einst. Reinhardt stand auf und streckte der schönen Krau die Hand hin. ,^Wollen Sie schon gehen?" „Ich muß! Ich habe noch zu arbeiten und muß über manches nachdenken!" „Großes Kind!" erwiderte sie halb ernst, halb in freundlichem Spott. „Nun hab' ich Sie wohl gar ge kränkt?" Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. „Machen Sie sich's doch nicht so schwer, glücklich zu sein!" fuhr sie fort. „Denken Sie. wenn Sic durchaus immer denken müssen, über mein Gleichnis nach. Stellen Sie Ihre schöne Rose ins Wasser, hüten Sie sie mit all ihrer rührenden Poesie, Ihrem ganzen frommen Kinder glauben, und wenn Sie sic mir in drei Tagen in gleicher Frische und Schöne wiederbringen, dann will ich an die Ewigkeit der Liebe glauben. Aber sic wird welken — verlassen Sie sich darauf. — Dann aber vergessen Sie nicht, daß hier in diesem Garten Tausende von Rosen für Sie blühen, die Sie holen dürfen, wenn Sie wollen! Sie lieben ja Blumen und brauchen ihren Duft mehr als den Lorbeer!" Reinhardt nickte und blieb stumm. „Kommen Sie morgen?" „Wenn ich darf?" „Kommen Sie, wann Sie wollen. Je eher, desto lieber!" „Nicht wahr, Maddalena — wehe tun wollten Sie mir nicht?" „Ihnen web tun?! — Nein, Reinhardt, bei Gott nicht! Nur wahr wollte ich gegen Sie sein, und Ihnen sagen, daß man unendlich glücklich sein kann, ohne zugleich ewige Dauer dieses Rausches vom Schicksal zu verlangen und Unmögliches zu begehren!" Noch einmal reichten sie sich die Hände. Dann ging er. Ganz langsam, Schritt für Schritt, stieg er die Marmor treppe hinunter und über die Kieswege des Gartens, auf dem das Mondlicht lag. Der Jasmin und die Syringen dufteten betäubend um ihn her. Im Geäst zwitscherte ab und zu ein verschlafener Vogel. Ganz in der Ferne lockte eine Nachtigall, der die andere antwortete. An der kleinen Gittervfortc blieb er stehen. Tief im Schatten der Büsche und Kamelienhecken lag die weiße Front der Villa. Die Terrasse war dunkel ge worden, nur in dem einen Parterrefenster zur Linken schimmerte ein rosiges Lickt. Langsam glitt aus seinen Fingern die Rose und fiel lautlos auf den Rasen. Er bückte sich nicht darnach. Dann öffnete er die Gartentür und trat hinaus auf die mondhelle Straße. In tiefen Gedanken trat er den Heim weg an. So langsam, wie heute, mar er noch nie durch die Straßen der Ewigen Stadt geschlendert. Ueberall herrschte noch reges Leben. Er ging absicht lich durch die lebhaftesten Straßen; denn selten halte er sich so einsam, so furchtbar ernüchtert und enttäuscht ge fühlt, wie in dieser Stunde. Auf der Piazza Navoni fesselte ihn plötzlich ein ganz eigenartiges Bild. Vor ihm her wanderten Arm in Arm zwei Fremde, ein Herr mit einem kleinen Frauchen, die fortwährend stehen blieben und sich offenbar die heilige Roma al ebiai-o cki luna beschauten. Es war ein alter Herr, unter dessen Reise mütze spärliche weiße Haare flatterten und dessen Nase eine mächtige Hornbrille bekrönte, hinter der ein Paar gutmütige, Helle Augen neugierig auf alles blickten, was sie umgab. An seinem Arme hing das alte Mütterchen, schritt aber ungemein rüstig neben ihm her und gestikulierte mit dem zusammengerollten Sonnenschirme sehr lebbast in der Luit herum. Offenbar suchten die beiden einen Weg, über den sie sich nicht einigen konnten. Als sie wieder unschlüssig stehen blieben und der Sonnenschirm der Tome nach rechts deutete, mährend der alte Herr nach links zeigte, trat Reinhardt auf sie zu und redete sie an. „Die Herrschaften haben gewiß den reckten^Weg ver- fehlt", sagte er freundlich. .Vielleicht kann ick Lie -urecht weisen." L Der alte Mann lüftete höflich den Hut. „sehr liebens- würdig, mein Herr! Wir sind heute abend hier an gekommen und im Hotel Nationale abgestiegen. Nun konnten wir's uns nicht versagen, bei dem herrlichen "Mondschein noch ein Stündchen durch die Ltadt zu bummeln, und suchen nun ein deutsches Restaurant, das hier in der Nähe sein muß."
- Current page (TXT)
- METS file (XML)
- IIIF manifest (JSON)
- Show double pages
- Thumbnail Preview