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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.08.1903
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-08-21
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030821015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903082101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903082101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-08
- Tag1903-08-21
- Monat1903-08
- Jahr1903
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Eingeleitet wurde der Tag in Wien durch frei er fundene, aber um so bezeichnendere Börscngerüchte, der Kaiser hab: die brückende Bürde seines hohen Amtes von sich gelegt und abgedankt — und noch ehe der Tag unter dem bangen Geflüster der vorgeschriebcnen Gebete in den Kirchen sich neigte, krachten weit unten in Kroatien Gewehrsalven der ungarischen Gendarmerie. Die kroatischen Bauern von Zapresttsch hatten versucht, bas Bahnhofsgebäude zu stürmen, um die verhaßte magyarische Trikolore, die dort zu Ehren des Königs ge hißt war, herabzuretßen. Zwei Bauern überlebten den Geburtstag ihres Königs nicht mehr und neben den Toten wälzten sich noch 27 ihrer Stammesgcnossen, teils schwer, teils leicht verwundet, in ihrem Blute. DaS war deS Kaiser-Königs GeburtStagsschicßen . . . Indessen hatte in der Reich-Haupt» und Residenzstadt Men eine offizielle Geburtstagsfeier ganz eigener Art stattgefunden. Der K. u. K. Generalstab hatte sich wie alljährlich -u einem festlichen Liebesmahle versammelt. DaS war an sich nichts Ungewöhnliche»; das im Kerne seines Wesens noch heute deutsch gebliebene Heer ver« säumt keine Gelegenheit, seiner unerschütterlichen Treue für den obersten Kriegsherrn Ausdruck zu geben. Aber diesmal mischte sich noch ein anderer Ton in die Kund gebung der von Sentimentalität und Parteileidenschaft gewiß ganz freien Kriegsmänner. Der in letzter Zeit vielgenannte Chef de» K. u. K. Gencralstabcs, Feldzeug- meister Freiherr v. Beck, konnte nicht unterlassen, des wenig freudenreichen Lebens des Monarchen zu ge denken und der schweren Sorgen, die gerade jetzt sein Herz bedrücken: „Möge der Allmächtige verhüten" — fast klang's wie ein militärisches Stotzgebetlein zu St. Georg dem ReiterSmann —, ,/daß noch schwerere Zetten ein- treten, möge er uns von dem Alb befreien, der gegen wärtig jedes patriotische Herz belastet. Möge Seiner Majestät vergönnt sein, nach so langer und schwerer Regierungszeit beruhigt und zufrieden einem hohen Alter entgegenzusehen!" Hätte der Redner geahnt, welch trauriges Echo sein Segenswunsch wenige Stunden später in der anderen Reichshälfte finden würde, er hätte den unheimlichen Alb, der nicht nur auf dem Herzen des Monarchen, sondern auf dem Leben des gesamten Staats wesens lastet, vielleicht noch deutlicher bezeichnet. Aber die Kundgebung des österreichischen General stabes spricht auch so eine vernehmbare Sprache; sie ge winnt unter den heutigen Umständen — berechnet oder nicht — fast den Wert einer politischen Armeekunbgebung, eine» militärischen PronunziamientoS, dessen Sprache auch die verstocktesten Neichszerstörer hören müssen. Zwei Mini sterien, von denen das eine auch nur mehr formell seines Amtes waltet, stehen rat- und hülflos vor einer Reichs krisis, deren Ausgang vielleicht für die unglückliche dualistische Ehe der beiden Reichshülften den Anfang vom Ende bedeutet. Die Räte der Krone blicken selbst hülse suchend nach den zitternden Lippen des greisen Monarchen, um von ihm bas erlösende Dchicksalswort zu vernehmen: Gewaltsamer Ausgleich oder friedliches Aus einander! Aber während der hart geprüfte Monarch sich am Abende seine» Lebens zu einem Gange anschickt, der für ihn vielleicht der schwerste dieses Leben» ist, erwacht in der alten Habsburgerstadt, in der ruhmgekrönten Armee noch einmal der letzte Rest der österreichischen Energie zu einer deutlich gegen Ungarn zugespttzten Huldigung für den Generalissimus der — wie lange noch? — gemein samen Armee, für den Katse rl Denn um des „Königs" willen, den der magyarische Chauvinismus längst zum Götzen seines hochverräterischen Kults entwürdigte, ist schon Blut genug geflossen... Wirb der bange Notimf des K. u. K. Generalstabes und seines österreichischen Chefs, -er sich bekanntlich als psrsona sratissimk des Monarchen gegen die beabsichtigte Zerreißung der Armee entschlossen wehrt, das kummer gebeugte Rückgrat Kaiser Fran- Josefs stärken, wenn ihn als „König" in Ofenpest der heuchlerische Jubel „seiner" Magyaren umbrandet? Die skrupellosen Macher dieser Zerstörungspolitik, die sich in ihren Blättern mit stereo typ gewordener Byzantinerphrase vor der „Weisheit" des Königs verneigen, während sie gleichzeitig die Kossuth und BarabaS zu den wildesten Angriffen gegen l Oesterreich aufstacheln — sie hoffen, ihrenPlänen durch den I Besuch Franz Josefs in Ofenpest zu einem beispiellosen Triumphe zu verhelfen. Wenn der König, wie geplant ist, in öffentlicher Prozession am Tage des heiligen Stefan hinter der verdorrten Schwurhand, der einzigen Reliquie dieses ungarischen Nationalheiligen, einher schreitet, wenn das zu diesem Schauspiele in Sonder zügen aus ganz Ungarn herbcigeschleppte Landvolk unter dem religiösen Banne des römisch-katholischen Kirchen prunkes steht, seinen König vor dem heiligen Gründer des „marianischen Königreiches" sich in frommer Demut verneigen sieht und unter dem Eindrücke dieser Hul digung vor der „ungarischen Nation" in frenetische Eljenrufe ausbricht, denen unter solchen Umständen nicht einmal die Aufrichtigkeit abzusprechen ist — dann halten die verwegenen Politiker -en Augenblick für gekommen, dem erschütterten Willen des Monarchen ihren Willen zu suggerieren und ihm die nationalen Zugeständnisse für das künftige reinmagyarische Nationalheer zu entlocken. Wie ein bittender Mahnruf in letzter Stunde, diesen Lockungen zu widerstehen, fallen da die wehmütigen Segenswünsche des Generalstabschefs, wie drohende Warnungen fallen da noch nachdrücklicher die mörderischen Geburtstagsschüffe der ungarischen Gen darmerie ins Ohr: Tu's nicht! Denn die Einheit der Armee bedeutet den Frieden der Monarchie, ihre Zer reißung Gewaltherrschaft und Bürgerkrieg! Unter dem Feldgeschrei kroatischer Hülfstruppen, welche die Revo lution niederwerfen halfen, hat Kaiser Franz Josef vor öb Jahren den Thron der Habsburger bestiegen; soll er jetzt vielleicht an der Neige seines Lebens sehen, wie die selben Kroaten sich in blutiger Erhebung wider den werbenden n^gyurischcn vlationalstaat empören, dem die Schwäche der Wiener Politik sie ausgeliefert hat? Die Zeiten sind längst vorüber, da ein deutscher Kaiser als Beschützer der Ostmark an der Leitha dem Tribut fordernden Abgesandten aus Halbasien einen räudigen Hund hinwerfen konnte. Ohne schwere Opfer der Dynastie ist heute die Aufrechterhaltung -es brüchigen Staatsbandes zwischen Oesterreich und Ungarn nicht mehr möglich, wenn sie es nicht gar vorzieht, das staats rechtliche „vivoryon«!" auszusprechen, um wenigstens in einer Personalunion die Gemeinsamkeit des Dynasten, i seines Heeres und damit die äußere Machtstellung der j Monarchie zu retten. Wird aber auch noch so viel zu retten sein, damit nicht der Geburtstag des Kaiser-Königs der Tchicksalstag Oesterreich-Ungarns werde? Um die selbe Zeit, da der Dichter I. G. Seidel die österreichische Bvlkshymne: „Gott erhalte Franz den Kaiser" auf den Namen Kaiser Franz Josefs umänderte, entstand in Oesterreich das Gedicht vom „Glöcklein des Glückes": „Ein König lag am Tode, da rief er seinen Sohn. Er nahm ihn bei den Händen und wies ihn auf den Thron. Mein Sohn, so sprach er -Mernd, mein Sohn, den laß ich dir; doch nimm mit meiner Krone noch dies mein Wort von mir: Nach Eimern zählt das Unglück, Nach Tropfen zählt das Glück. Ich geb in tausend Eimern Zwei Tropfen kaum zurück." Der junge Thronfolger — so wollte eS der sterbende König — sollte ein am Throne angebrachtes Glöcklein nur dann läuten, wenn er sich wahrhaft glücklich fühlte. Er hat eS erst erklingen lassen in seiner Todesstunde, als durch das Reich ein einziges Schluchzen der Liebe ging. „Ein wenig freudenreiches Leben" nannte Baron v. Beck gestern in Wien das seines Monarchen. ES ist wirklich, als ob jenes Gedicht auf den Kaiser Franz Josef ge schrieben wäre, auf ihn und seinen Nachfolger. . . Die Armeen des Drei- und des Zweibundes. 8. U. L. Dem italienischen Generalstabe gebührt das Verdienst, in knapper und übersichtlicher Darstellung die Ttärkeverhältnisse und die in den letzten zehn Jahren vorgekommenen Veränderungen der großen europäischen Armeen zusammengefaßt zu haben. Dieser Arbeit sind folgende Angaben entnommen: Vom Jahre 1882 bis 1903 hat das italienische Militärbudget zwischen dem Höchstbetrage von 248 Millio- nen und einem Minimalbetrage von 224 Millionen Lire geschwankt; augenblicklich beläuft es sich auf 288 Millionen. Der Durchschnitt desselben beträgt 236^2 Millionen, von denen 16 Millionen auf die außerordent lichen Ausgaben entfallen. Die Stärkeverhältnisse der Armee bewegten sich zwischen 232 162 und 207 088 Mann. Der heutige Efscktivbestand der Armee ist 217 752 Mann; das Mittel in der etatsmätzigen Stärke des Heeres während der genannten zehn Jahre beläuft sich auf 221888 Mann, die sich mit 13 656 auf die Offiziere und mit 207 782 Fattillstsir. „Nun danket alle Gott!" Von Moritz Lilie. NaüiLruck vkrdotkn. Es war im Jahre 1648. Seit drei Jahrzehnten schon tobte der schrecklichste aller Kriege durch die -deutschen Gauen, überall rauchende Trümmer und Leichen, Jammer und Elend hinterlassend. DaS Ucbermaß der Prüfungen, die kein Ende nehmen wollten, hatte das Volk in einen Zustand der Apathie versetzt, aus dem cs sich nicht mehr aufzuraffen vermochte; es war fast unempfindlich gewor den gegen die furchtbaren Drangsale dieses Krieges» dessen schauerliches Gefolge Pest und Hungersnot bildeten. Auch die kurfürstlich sächsische Stadt Eilenburg hatte schwer gelitten. Zweimal hatten die Schweden und einmal die Kaiserlichen die Brandfackel in das harmlose Städtchen geworfen, und von den 894 Häuschen, welche der Ort da mals zählte, nicht weniger denn 618 in Schutt und Asche gelegt. Viermal während des Krieges wurden die Be wohner von der Pest heimgesucht, die Hunderte von Menschenleben erbarmungslos dahinraffte, und was die Seuche verschonte, das fiel dem Hunger und den Grausam keiten der Feinde zum Opfer. Die einst so blühende, ge- werbfleißige Stadt war verödet; nur hin und wieder schlich eine abgenragerte Jammergestalt durch die menschen leeren Gassen, um irgendwo einen Bissen Brot zu er- betteln. In der niedrigen Stube seines Pfarrhauses saß der treue Seelsorger der^Stadt, der Archidiakonus Magister Martin Rinckart, unweit von ihm an dem Fenster mit den kleinen runden Butzenscheiben sein Töchterlein Els beth. Der Geistliche war ein würdiger alter Herr; sil berne Locken umrahmten das gefurchte Antlitz, auf welchem der Ausdruck von Milde und Gottvertrauen lagerte. Bor ihm auf dem Tische lag die ausgeschlagene Bibel, aber er la» nicht darin, sondern hatte sich in dem alten lederbezoge nen Sorgenstuhl zurttckgelehnt uud schaute bekümmerten Blickes aick sein Kiird. Elsbeth hatte die Hände mit der Näheret sinken lassen und ihre Augen ruhten sinnend auf den letzten Kindern de» Spätherbstes, die in dem Gärt chen vor dem Haus« ihre bunten Blumentöpfe der Oktober sonne zuwendeten. Es war ein stille», bleiches Mädchen, schön wie die Madonna des Raffael, aber auch so ernst und gramerfüllt wie diese. Die wunderbaren blauen Augen blickten so träumerisch und doch so sehnsuchtsvoll, als such ten sie da» verlorene Glück, und um die edle Stirn hatte der Kummer jenen leichten Schleier gewoben, der den inneren Seelenschmerz verrät. ,-Woran denkst du?" fragte der Psarrherr in mildem Tone, indem er zu seiner Tochter herantrat und sein« Hand auf ihre Sckmlter legte. Elsbeth schlug die Augen nieder und eine dunkle Röte stieg in ihre sonst so bleichen Wangen. „E» ist wieder Bernhard, der wilde, unbändige Knabe, weither deine Gedanken beschäftigt", fuhr Rinckart fort, „mrd doch weißt du, längst jsb« Hoffnung auf heffen Rückkehr schwand. Drei Jahre sind e» her, daß er sich von den Soldaten des Kurfürsten anwerben ließ, und nur ein einziges Mal hörtest du in dieser langen Zett von ihm, als er schon nach wenigen Wochen seinen bekümmerten Eltern meldete, er liege verwundet in einer kleinen Stadt Thü ringens. Seitdem hat niemand wieder etwas von ihm er fahren und ohne Zweifel ist auch er ein Opfer dieses ent setzlichen Krieges geworden." „Du glaubst, Bernhard sei tot?" fragte das junge Mäd chen hastig mit zitternder Stimme. Der Greis nickte. ,-Gewöhne dich an diesen Gedanken, mein Kind", be ruhigte er; „wie so viele unserer Söhne und Brüder schlug auch er sein Leben für unsere heilige protestantische Sache in die Schanze. Für sein Vaterland und seinen Glauben zu sterben, ist süß; beweine den Heldenjüngltng nicht, sondern preise sein Geschick." Er hatte die letzten Worte mit erhobener Stimme ge sprochen, während Elsbeth das Gesicht mit beiden Händen bedeckte und leises Schluchzen ihren Körper durchzitterte. „Bernhard Andrä hat seinen Eltern schweren Kummer bereitet, daß er mit den kurfürstlichen Söldnern hinaus zog, einem ungewissen Schicksal entgegen", sagte Rinckart mehr zu sich selbst, als zu seiner Tochter. „Sein Vater war damals noch ein wohlhabender Tuchnvachermcister; acht Knappen*) saßen hinter den Webstühlen und sein« Waren wurden weithin versandt, waren vtelbegehrt un hochgeschätzt. Der Sovn sollte das väterliche Geschäft über nehmen und bet seiner Klugheit und Tatkraft durste der Vater unbesorgt in die Zukunft blicken. Jetzt ist der alte Mann ebenfalls verarmt; der Krieg hat ihn um Hab und Gut gebracht und den einzigen Sohn, der ihm jetzt Hülfe und Stütze sein sollte, trieb sein Feuereifer hinaus in das Gewühl der Schlachten. Einsam und freudlos, unter Sorgen und Entbehrungen, muß nun das Greisenpaar den Rest seiner Lage htnbringen, — ein harte», unver-iente- Los." Der Geistliche war ans Fenster getreten und schaute sinnend hinaus ins Weite. Auch seine Tochter hatte ihre Näharbeit wieder ausgenommen, aber ein tiefer, schmerz licher Ernst lagerte auf ihrem bleichen Antlitz. Plötzlich zeigte sich auf den sonst so öden Straßen >de» Städtchens ungewöhnliches Leben. Di« wenigen hundert Bewohner, welche Eilenburg noch zählt«, schienen samt und sonders auf den Beinen zu sein und eilten vereinzelt und in kleinen Trupps an dem Pfarrhaus vorüber, einer be stimmten Richtung zu. Der Magister hörte zwar, wie sich einzelne der Dahinetlenden anrtefen, er sah, daß sie sich zuwinkten und mit der Hand vorwärts deuteten, aber er wußte nicht, um wa» es sich Handl«, und als er das Fenster öffnete, um zu fragen, da war die Gaffe wieder «infam un still wie ein Friedkok. „Der Himmel behüte unS vor neuem Unheil!" flüsterte der Pfarrer und faltet« unwillkürlich die Hände. „In der liegend von Halle haben sich, wie man erzählt, wieder ein zelne schwedische Streispatrouillcn gezeigt; wenn sich da» bestätigt, so sind wir auch hier kein« Stunde vor diesen *) Die Gesellen diese» Handwerk» wurden „Luch- knappen" genannt. D Unholden sicher. Geh. Elsbeth, such« wieder dein verbor genes Hinterstübchen auf, dort bist du vor den wilden Kriegsleuten geborgen." Das Mädchen nahm sein Arbeitskörbch«n, brückte dem Vater einen Kutz auf den Mund unb verlieh das Zimmer, während Rinckart sich wieder an den Tisch setzte und die Bibel zur Hand nahm. Er hatte das Buch Sirach aufgc- schlagen und begann das 60. Kapitel zu lesen. Er war bis z»rm 24. VerS gekommen, welcher mit den Worten beginnt: „Nun danket all« Gott, der große Dinge tut an allen Enden", als unvermutet ein schmetterndes Trompeten signal an sein Ohr schlttg. Kopfschüttelnd erhob sich der Geistliche, bedeckte das Haupt mit dem schwarzen Samt käppchen und trat hinaus auf die Straße. „Das sind keine schwedischen Leute", sagte er leise zu sich selbst, „diesen Hellen Ton haben nur die Trompeten unseres kurfürstlichen Heeres." Draußen auf der Straße hatte sich ein Volkshaufen um «inen Reiter grivpptert, welcher die Uniform der kur sächsischen Dragoner trug. Zrnn größten Erstaunen Rinckarts lachten und jubelten die Menschen, daß es weit hin hörbar war, fi«len sich in die Arme und tanzten wie toll umher. Der alte Mann traute seinen Augen kaum, denn dieser Uebermut in so ernster Zeit erschien ihm wie ein Frevel, und er beschloß, die Leute zu ermahnen und von ihrem törichten Beginnen zurückzuhalten. Inzwischen war der Trompeter, umgeben von der Menge, näher gekommen und hatte seinem Instrument ein« kurze, aber frische Melodie entlockt. Dann rief er mit lauter Stimme: „Ich verkündige dieser Stadt, daß der Krieg «in Ende bat und am 24. Oktober zu 'Munster in Westfalen der Friede unterzeichnet worden ist." Wieder folgte ein lustiges Signal, dann ritt der Soldat weiter. Der Trompeter hatte wahr gesprochen; nach dreißig langen, schrecklichen Kriegsiahren war endlich dem Lande der Frieden zurückgegeben, dem Morden und Würgen ein Ende bereitet worden. Der Dragoner kam von Leipzig und eilte nach Torgau zum Kurfürsten, um diesem die frohe Kunde zu überbringen; unterwegs aber sollt« er in »taüt und Dorf die große Neuigkeit ausrufen. Tief bewegt trat Rinckart in sein Zimmer, wo auf dem Tische -noch die auf geschlagene Bibel lag. Sein Auge siel auf die eben erst gelesenen Worte: ..Nun danket alle Gott", und es überkam ihn wie heilig« Begeisterung; er ergriff die Fe-der, und al» ob ein Cherub ihm die Worte diktiert hätte, floß ihm da» innige Dank- und Loblied auf» Papier: „Nun danket alle Gott Mit Herzen, Mund und Händen!" Dann nahm er ein -wette» Blatt Papier zur Hand und entwarf darauf die einfache und doch so erbebende Melodie und auch hier «var es, als schreibe nicht «r di« Musik, son- dern als folge er einer höheren Eingebung. Vom Markte her erscholl lauter Jubel; der Alb, der jahrzehntelang auf dem Volke gelastet hatte, war von ihm genommen und zum ersten Male wieder nach unendliäur Trübsal ,zab es sich lauter Fröhlichkeit hin. Und al» der würdige Seelsorger mit seiner lieblichen Tochter ersäsic», da brauste ihm ein langanhaltender Krcudenruf entgegen, Rinckart aber winkte mit der Hand, zum Zeichen, -aß man ihn auhörcn solle, und sofort trat Totenstille ein. Da zog der Greis das eben gedichtete Lied aus der Tasche, kniete entblößten Hauptes nieder und mit lauter Stimme hallte es aus seinem Munde zum Himmel empor: „Nun danket alle Gott mit Herzen Mund und Händen!" Und wie auf Verabredung sanken auch alle Anwesenden in die Knie und lauschten mit stiller Andacht den tiefergrcifenden Tönen dieses Liedes, das im jetzigen feierlichen Augenblick zum ersten Male seine erhebende Wirkung ausübte. Wenige Tage später lockte Hufschlag die Bewohner Eilenburgs an die Fenster und die Jugend auf die Straße. Es waren drei kurfürstlich sächsische Kürassiere, die im Trabe in die Ltadt gesprengt kamen und zur großen Ver wunderung der Nachbarn vor dem Hause des Tuchmacher meisters Andrä Halt machten. Das Pickett bestand aus einem Rittmeister und zwei Unteroffizieren, deren staub bedeckte Kleider und schweißtriefende Rosse bewiesen, daß sie einen scharfen Ritt hinter sich hatten. Der Offizier schwang sich aus dem Sattel und eilte ins Haus, während die beiden Soldaten nach dem nächsten Gasthause ritten und ihre müden Tiere in den Stall zogen. Nur kurze Zeit weilte der Rittmeister im Hause des Tuchmachers; dann trat er wieder auf die Straße heraus uud schlug raschen Schrittes den Weg nach dem Pfarrhaus ein. Wieder saß der Geistliche in seinem Lorgenstuhl und blickte heiter auf sein Kind, das am «Venster Platz genom men hatte und eifrig nähte. Elsbeth sah gar nicht mehr so bange und niedergeschlagen aus; seit Verkündigung des Friedensschlusses schaute sie hoffend und vertrauend in die Zukunft. Da vernahm sie von draußen vor dem Gärtchen Sporengeklirr, übervafcht schaute sie auf und mit dem Jubelruff: „Mernsiard!" stürzte sie dem Rittmeister ent gegen. Kopfschüttelnd folgte ihr der Vater, aber noch ehe er ins Freie gelangt war, traten ihm die jungen Leute strahlend vor Glück und Freude entgegen. Und nun ging'» ans Erzählern AlS Gemeiner hatte sich Bernhard Andrä aniverben lassen, als Rittmeister kehrt« «r zurück. Seine außerordentliche Tapferkeit lenkte die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten auf ibn, er stieg rasch von Stufe zu Stufe aufwärts und nach ge schlossenem Frieden traf ibn die Nachricht, daß der Kur- fürst von Lachsen ihn zum Schloßhanptmann von Witten berg ernannt habe, eine Gunstbezeigung, die er ebenfalls seinen militärischen Verdiensten verdankte. Jetzt war er im Begriff, nach Torgau zu gehen, uni sich beim Kurfürsten zu melden und dann die Uebersiedelung nach Wittenberg vorzubereiten. Am zweiten Weihnachtsfeicrtag deS Jahres >648 legte der würdige Archtdiakvnus, Rinckart vor dem Altar der Stadtkirche zu Eilenburg die Hände der Liebenden zum Bunde fürs Leben ineinander nnd wenig« Tage später zog das junge Paar in sein neues Wittenberger Heim. Nicht lange sollte der alte Pfarrberr Zeuge des Glücke» seiner Kinder sein, denn schon ein Jahr später, am 8. De- zember >649, legte er lick zum Sterben. Sein Andenken aber lebt Im Liede fort, das als DankeShymnuS seit Jahr hunderten auf blutigem Schlachtfeld nach errungenem Steg, »vic nach glückkicher Beendigung der Werk« de» Frieden» -um Himmel emporskteg und gesungen werben wirb, so lang« e» «in protestantische» Ktrch«ntt«b -ibt.
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