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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.09.1903
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1903-09-10
- Sprache
- German
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19030910011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1903091001
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1903091001
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1903
- Monat1903-09
- Tag1903-09-10
- Monat1903-09
- Jahr1903
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Tabellarischer und Ziffernsah entsprechend höher. — Gebühren für Stachweisungen und Osserteuanuahme LS L, (excl. Porto). Srtra-lvetlagen (gefalzt), nur mit der Morgen-AuSgabe, ohne Postbesörderuug -St SO.—, mit PostbefSrderung 70.-^. Anuahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Bormittag» 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abend» 7 Uhr. Druck und Berlag von G. Polz in Leipzig. Nr. 460. Donnerstag den 10. September 1903. 97. Jahrgang. Sozialdemokratische Charakterbilder. Herr Bebel hat sich Bekanntlich, vom Zentralorgan seiner Partei „vergewaltigt", zur „Leipziger Volkszeitung" geflüchtet und gleichzeitig auch in der „Neuen Zeit" über zwanzig Seiten hinweg -en angekündigten Artikel: „Ein Nachwort zur VtzeprSsibentenfrage und Verwandtem" veröffentlicht. Der Artikel soll im Sonderabdruck auch noch sämtlichen Delegierten des Dresdner Parteitages etngehändigt werben. Auf ihn näher etnzugehen, hat bei der Nähe des Parteitages keinen Zweck. Es wird sich ja in Dresden zeigen, wieviel „Genossen" Bebel durch seine Auslassungen auf seine Sette gezogen hat und ob diese Zahl stark genug ist, die Gegner noch einmal zur Unter werfung zu zwingen. Wie aber in der Sache die Dresdner Entscheidung auch fallen möge, eins steht jetzt schon fest: die Streitigkeiten der „Genossen" führen der bürgerlichen Welt eine Reihe von Charakterbildern vor, die den Beweis liefern, daß die Hanpthähne der Sozialdemokratie einander für höchst selbstsüchtige Intriganten, Komödianten und Dummköpfe halten. Bebel äußert sich aufs verächtlichste über Boll- mar und bezweifelt dessen politische Intelligenz und Ehr lichkeit: wie Bollmar über Bebel denkt, hat er zuletzt in München in einer höhnischen Rede bekundet. Den „Ge nossen" Kolb, Redakteur -es Karlsruher „Bolksfreun- des", bezichtigt Bebel der Gehässigkeit und der Fälschung in der Berichterstattung: Kolb macht Bebel den Vorwurf, er stelle sich im Presseklub zur Schau, währen- die kleinen „Genossen" die mühsame Parteiarbeit verrichteten. Auer, der alte Kampfgenosse, erfährt von Bebel die ehrenrührige Beschuldigung, aus persönlichen Gründen die Aufnahme der Bebelschen Erklärungen im ,vorwärts" mitverhindert zu haben, und noch ehrenrühriger ist die von Bebel und Shadt Helgen gemeinsam gegen Heine und auch gegen die Redaktion des „Vorwärts" geschleuderte An klage, sie hätten aus Gründen persönlicher Zuneigung im Widerspruch mit dem Parteiinteresse dem Herrn von Ger- lach zum Siege im Wahlkreise Marburg verhalfen. Der ganzen Gruppe der sogenannten Revisionisten, den Auer, Heine und Konsorten, wirft Bebel weiter vor, sie schüttelten jetzt feige und hinterlistig den „Genossen" Bernstein mit seiner „qualifizierten Dummheit" von sich ab, obwohl sie in der Vtzepräsidentensrage sachlich mit ihm überein stimmten und sich nur dadurch von ihm unterschieden, daß sie in den nicht öffentlichen Kraktionsberatungen bean tragen und durchdrücken wollten, was Bernstein öffentlich in der Partei angeregt hat. Mehr im Vorbeigehen, aus einem gewissen Gefühl mitleidsvoller Verachtung, erhalten bann noch von dem Obergcnossen Bebel die Peus, Göhre, Südekum und andere Leute von geringerer Bedeutung in der Partei ihre Hiebe. Und wie Bebel, der Parteichef, treiben es die Unteroffiziere und machen mit ihren Schmähungen und Verdächtigungen auch vor „Damen" nicht halt. So mußte es z. B. die „Genossin" Lilly Braun erleben, daß auf der Brandenburgischen Parteikonferenz der „Genosse" Kotzke ihre Wahrheits liebe bezweifelte. Und vergleicht man diese gegenseitigen Vorwürfe und Beschuldigungen mit den erwiesenen Tatsachen, so kann man zwar nicht verkennen, daß auf beiden Seiten Ueber- tretbungen unterlaufen, noch weniger aber kann man ver kennen, daß die feindlichen Brüder einander nicht mit Un recht an den Pranger stellen. Und das sind nun die Leute, die über die „Verkommenheit" der bürgerlichen Gesellschaft zetern nnd die Welt reformieren wollen! Auf der einen Seite die Auer, Heine, Bollmar, Schippel, Peus, die Bebel als Intriganten und Dummköpfe voller Eigensucht und Gehässigkeit kennzeichnet, auf der anderen Bebel selbst, der sich die gleiche Charakterschilderung gefallen lassen muß und selbst gesteht, mit welchen Hintergedanken er seinerzeit, um Leipziger Bürger zu werden, den Treueid lächelnd schwur! Und welche Anmaßung, welche Ucbcrhebung spricht trotz dieses Geständnisses und trotz der Vorwürfe seiner Genossen aus jeder Zeile feiner Artikel! Welches geradezu krankhafte Selbstbewußtsein, welcher wüste Ab solutismus eines entarteten Demagogen und verwilderten Bolkstribunen! Von welcher Zügel- und Disziplinlosig keit zeugt Bebels ganzes Vorgehen! Er, der so gern alle eine eigene Meinung bekundenden „Genossen" nnurdtot machen möchte, rast förmlich, wenn ihm selbst auch nur zugemntct wird, eine eigene Kundgebung abzu ändern. Dieser Mann läßt sich kaum noch anders charakterisieren, als mit den seinerzeit von Friedrich Engels auf einen Gegner gemünzten Worten: „Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn!" Wir haben es immer grundsätzlich verschmäht, den Kampf gegen die Sozialdemokratie mit persönlichen Ge hässigkeiten oder gar Beschimpfungen zu führen, und wir wollen an diesem Standpunkte festhalten. Wenn aber die führenden Männer der sozialdemokratischen Partei selbst einander so kennzeichnen, wie es geschehen ist, dann ist es Recht und Pflicht und dann verletzt es nicht mehr die Objektivität des politischen Kampfes, diese sozialdemo- kratischen Charakterbilder dem deutschen Volke vorzu führen. Die Sozialdemokratie verdirbt den Charakter. Sie führt zur Entartung der Menschennatur. Sie muß dahin führen, weil sie mit ihren Bestrebungen auf bloßer Diesseitigkeit basiert, weil sie allein auf materielle Herrschaft und irdischen Besitz abzielt und darum jeder sittlichen Idee, Kraft und Wirkung bar ist. So kommt es denn, daß die, die in der Sozialdemokratie hoch oben stehen, jedes Maß berechtigten Selbstbewnßtfeins und jede Fähigkeit zu ernster Selbst prüfung verlieren und zu Absolutisten entarten, während die, die erst nach oben hin streben, voll Neid und Gehässig keit auf den Wegen der Intrige zum Ziele schleichen. Deutsches Reich. Leipzig, 9. September. Die „Leipz. Volksztg." bläst dem „Vorwärts" wieder einmal den Marsch: „Gewiß, Bebel ist kein Gott, er hat sich schon manches Mal verhauen und wird von diesem unveräußerlichen Menschen rechte möglicherweise auch künftig Gebrauch machen, aber eine vierzigjährige Parteiarbeit, namentlich wie sie Bebel vollbracht hat, ist am Ende doch kein Pappenstiel, und wenn Bebel es für nötig hält, im Interesse der Partei sich öffentlich zu äußern, so sollte ihm jedes Parteiblatt, das er darum angeht, auch seine Spalten öffnen. Wenigstens werden wir stets so verfahren, auch auf die Gefahr hin, daß Genosse Gerisch uns nicht mehr für Männer, sondern nur noch für Eunuchen hält." Im übrigen meint die „Lpz. VolkSztg.", die Erklärung Bebels habe Klarheit geschaffen gegenüber den Vertuschungs versuchen des „Vorwärts", der aus dem Dresdner Partei tage ein Paradefest ü lu Katholikentag machen wolle. Wenn das Zentralorgan der Partei überhaupt eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe, so sei es die, ein siche re rFührer durch die praktischen und prinzipiellenDifferenzen zu sein, die in einer so großen Partei, wie die deutsche Sozialdemokratie, notwendig auftauchen müßten. Es sei in erster Linie seine Pflicht, die Probleme, über die ge stritten werde, gründlich zu untersuchen, ihre Bedeutung mit allen Mitteln, über die ein von der Partei so reich ausgestattetes Blatt verfüge, den Parteigenossen klar zulegen, kurzum eine Standarte der großen Parteigrundsätze zu sein. Es sei ihm dann möglich, die Meinungsverschieden heiten in der Partei auf das denkbar geringste Maß zurück- ruführen. Dieser wichtigen, um nicht zu sagen wichtigsten Aufgabe eines sozialdemokratischen Zentralorgans sei der „Vorwärts" schon seit langer Zeit nicht mehr gewachsen ge wesen. Es will uns trotzdem bedünkcn, als wenn Versöhnungs luft durch die Zeilen webte. Man möchte den unzweifelhaft vorhandenen, aber hartnäckig geleugneten Sprung cm Parter- ringe nicht noch mehr erweitern, wenigstens jetzt nicht: der Parteitag steht vor der Tür. * Leipzig, 9. September. Wie weit die „Angeberei" unter den „Genossen" gediehen ist, dafür liefert die in der letzten Nummer der „Leipziger Volkszeitung" enthaltene Quittung über eingegangene Gelder für den Crimmitschauer Weberstreik einen herrlichen Beweis. Es heiHt nämlich in jener Quittung u. a. wie folgt: „Von Bäckern des Konsumvereins Eutritzsch, außer Thieme, 8 Damit ist der Genannte den „Genossen" gegenüber als jemand denunziert, der nichts geben wollte. Sonst entrüstet man sich nirgends mehr, als gerade in sozialdemokratischen Kreisen über alle Angeberei, über Denunzieren. Nun, niedriger kann die Angebern wohl nicht betrieben werden, als in diesem Falle. Nebenbei ist die Geschichte auch wieder einmal ein Beweis dafür, wie die „freiwilligen" Beiträge von den „Genossen" beigetrieben werden. Berlin, 9. September. (Ein Triumph baye risch-patriotischer Empfindsamkeit.) Die Eurpfindsamkeit der bayerischen „Patrioten" durch ein preußisches Zentrumsorgan be leuchtet zu sehen, ist ein so lehrreicher Vorgang, daß auf ihn aufmerksam gemacht werden muß. Es handelt sich da bei um die Merseburger Kaiserrede. Von ihr schreibt bekanntlich die klerikale Kölnische Volks zeitung" in einwandsfreier Deutlichkeit: „Der Kaiser hat durch seine Rede in Merseburg den protestantischen Theologen gezeigt, -aß man den vr. Luther und die Reformation in der schwungvollsten Weise preisen kann, ohne die Empfindungen der Katholiken zu verletzen." — Denselben Ge danken spricht das leitende Zentrumsblatt in dem gleichen Artikel noch einmal aus. Der oberbayerische „Wendel stein" dagegen benützt die Merseburger Kaiserrede, um seine Leser eindringlich vor Spenden zu einem Silber hochzeitsgeschenk für das Kaiserpaar zu warnen. „Die Katholiken haben" so meint das bayerische Zentrums- blatt mit einem Hinweise auf die Merseburger Kaiserrede, „gar keine Ursache, in die Tasche zu greifen, wenn man ihre Gefühle nicht schont". — Widerspruchs voller, als es in diesen beiden Zentrumsorganen geschieht, kann die Merseburger Kaiserredc nicht beurteilt werden. Empfindsamkeit ist eine Eigenschaft, die den bayerischen „Patrioten", so weit seine Beziehungen zum Reiche und zum Protestantismus in Frage kommen, von jeher geziert hat: angesichts des obigen Urteils -er „Köln. Volksztg." über die Merseburger Kaiserrede darf man behaupten, daß der bayerische KlertkalismuS es jetzt zu einem „Triumph der Empfindsamkeit" gebracht hat. L. Berlin, 9. September. (Ein polnisches Zentral wab lco mild.) Die Polen gehen daran, ein Zentralwahl- comits zu begründen, das alle Distrikte umfassen soll, in denen Polen in größerer Zahl ansässig sind, also auch beispielsweise Berlin und Umgegend, sowie Rheinland-West falen. Das Zentralcomits soll 11 Mitglieder haben, wovon Posen, Westpreußen und das Ermland 7 stellen sollen, Schlesien, Berlin und der Westen 4. Bei dieser Zusammensetzung würden voraussichtlich zunächst die nichtradikalen Elemente die Mehrheit haben, da die 7 Vertreter der eigentlich polnischen Gebiete wohl den ge» Fenilletsn. Zwei „Hereingefallene". Skizze von E. Fahrow. «Nachdruck verbotni.) Er faß an einem sehr einfachen, hölzernen Tische und bastelte an einer Uhr herum. Natürlich tat er das: denn er war ja Uhrmacher! Wer noch vor einem halben Fahre Herrn Bleak gesagt hätte, daß er Uhrmacher sei, -er würde von ihm einige jener deutlichen Wahrheiten zu hören bekommen haben, für die William Bleak berühmt war. Damals wohnte er als ein „Petroleum-Amerikaner", also als schwerreicher Mann, in Berlin, West-West, und hatte in seiner Villa einige Dutzende jener schmarotzenden Freunde um sich, die selbst einem beleibten Manne die Galle ins Blut treiben können. William Bleak aber war mager, stockmager sogar: und so nahm es seine wirklichen Freunde nicht wunder, daß diese Galle eines Tages zum sichtbaren Durchbruch kam.... Mr. Bleak mußte wegen eines starken Gallenfiebers einige Wochen das Bett bitten. — Als er dann ausstand, war er ein armer Mann und Uhrmacher seines Zeichens. Er zog nach dem Schwarzwald«., wo er schon vor Jahren die Uhrmacheret einmal erlernt hatte, ließ sich noch die letzten Feinheiten in seiner Kunst beibringen, und lieh sich darauf mit dem Reste seines Vermögens im schönen Schwabenlande nieder. Seine alten, guten Freunde — die echten, die selbst Geld hatten — sagten unter sich, daß der gute Bleak erb lich belastet sei: denn sie wußten, daß der Vater dieses Herrn als Uhrmacher. Bliehk mit Namen, in dem fernen Westen eingewandert war und dort schlecht und recht mit seiner zahlreichen Familie gelebt batte. Anstatt das entflohene Glück an der Börse oder sonstwie einzuholen, setzte sich dieser verwöhnte Mensch in eine ab- gelegene Weltecke und wollte von „sechs Dreiern" leben — er, der mit Hunderttauscnben herumgeworsen batte! „Ich habe genug von der Aufregung der Geldjagdl" erklärte William. ,Habe ich jetzt einmal Pech gehabt, so kann ich eS auch wieder und wieder haben — da» ist, wie mit dem Glück: wo viel ist. kommt viel hin!" Und da er dabet blieb, so ließen ibn nach und nach seine Freunde, die echten sowohl als die falschen, in Ruhe. Mr. Bleak freute sich dessen! . . _ , Er schüttelte seine Löwenmähne, die er schon seit Jahren trug, weil er eine starke Sehnlichkeit mit Beethoven hatte, und be^äfttgte sich weiter mit seinen Rädchen und Echrayven, Er war ein sonderbarer Kauz, das hatte man schon immer gesagt. Es gab aber noch mehr sonderbare Käuze in der Welt, sogar weibliche. Nicht weit von seinem kleinen Häuschen, ebenfalls am Rande eines kleinen Weinberges gelegen, befand sich eine Villa, die an Fremde vermietet wurde: denn Umnrer- lingen hatte eine Mineralauelle und ozonreiche Luft und war deshalb von dem strebsamen Bürgermeister des Ortes als ausgezeichneter Kurort ausposaunt worden. Vorläufig hatten diese Posaunen nur «inen kleinen Teil vernünftiger Aerzte in Aktion gesetzt, und die Kurgäste tröpfelten, fast so spärlich nach Ummerlingen, wie die Heil quelle in das steinerne Becken am Rande des Waldes. Dort drüben in der Villa wohute eine Dame, die schon längst die Aufmerksamkeit Bleaks erregt hatte. Sie war durchaus nicht hübsch, diese Dame, aber sie hatte eine elegante Figur und einen wunderschönen Gang. — Der Gang der Menschen war ein Studium für den jetzt so armen Uhrmacher: er beurteilte sie einfach danach und behauptete, daß nur ein Gang nicht geheuchelt werden könne. Denn wenn die Leute versuchten, sich einen andern Gang anzuschaffen, als sie hatten, so konnte das höchstens auf Haltung und Schritte Bezug haben — die ganze, den Körper betreffende Bewegung und auch der „innere Cha rakter" blieb davon unberührt. Fräulein Hinze batte einen hervorragend charakter vollen Gang: sie trippelte nicht, sie schlenderte und „schlahkste" auch nicht, sondern sie schritt frei und bestimmt, und dabei unendltch graziös, etnber. Bald nachdem Mr. Bleak an der Quell« Fräulein HinzeS Bekanntschaft gemacht hatte, erklärte er ihr seine Theorie des Ganges und knüpfte ein artige» Kompliment daran. Fräulein Marie Hinze lächelte und blickte den Ameri kaner verwundert an. Auch sagte sie ihm, daß sie fände, für einen Handwerker habe er einen außerordentlich scharfen und gebildeten Blick. Bleak freute sich, daß er für einen wirklichen, ein gewurzelten Handwerker gebalten wurde. Da» Fräulein kam in seine Werkstatt und besichtigte seine Uhren, ja, st« kaufte sogar eine davon — eine ganz billige, kleine, die man an die Wand hängen konnte. Da- bei seufzte sie sehr: früher, als sie noch vermögend gewesen, habe sie sich kaufen können, was sie Lust hatte. Aber seit sie durch einen gewissenlosen Bankier fast ihr Letzte« verloren, könne sie sich nur zu so billigen Sachen aufschwingen. Darauf ließ ibr William Bleak die Uhr noch um etliche» billiger, weil er ta die Gefühle verarmter Menschen so gut kannte. Das Fräulein und er wurden in wenigen Wochen sehr gute Freunde. Sie waren ein nichts weniger als schönes Paar, aber sie verstanden sich ausgezeichnet, obwohl immer Marie die Menschen verteidigte und er sie immer angriff. „Ich verstehe Sic nickt!" rief er eines Tages aus. „Sie haben du/rch die Menschen alles verloren, und doch glauben Sie noch an diese Bande!" ,Ha, warum soll ich denn nach ein paar Schlechten die ganze Masse beurteilen Ich glaube, -aß es «ine Menge selbstloser und braver Leute gibt — besonders Frauen." „Aha! Und was haben Ihnen denn die Männer ge- tan?" „Eigentlich ist das eine indiskrete Frage — aber ich will sie Ihnen beantworten: sie angelten immer alle nach meinem Gelde!" „So! Woher wollen Sie das denn wissen?" „Ganz einfach, weil ick verlobt war — und als mein Bräutigam hörte, daß ick mein Vermögen verloren, da „drückte" er sich! Und ganz ähnlich rnachten es meine andern Verehrer! So etwas passiert natürlich nur einem häßlichen Mädchen!" ,^Was?l Halten Sie sich etwa für häßlich?" „Nun, ich bin doch, Gott sei Dank, nicht blind!" „Das scheint mir doch so! Ich begreif« Sie nicht! Die sind für mich zum Beispiel bildhübsch!" Marie Hinze verneigte lick errötend. Sie freute sich aber von Herzen über das Kompliment. Dieser Uhrmacher war überhaupt ein höchst charmanter Mensch uard von einer Bildung . . . .! „Sagen Sie mir doch ganz aufrichtig, Herr Bleak — Sie sind doch kein gewöhnlicher Uhrmacher, nicht wahr?" „Na, ich will doch hoffen, daß meine Uhr nicht etwa — oder taugt sie nichts?" „Oh, sie geht vorzüglich! Nein, ick meinte nur — Sie sind so weit gereist — sogar in Amerika sind Sie gewesen — ich wundere mich immer wieder, wie ein in diesem ab- gelegerren Neste lebender Uhrmacher ein so feingebildeter Herr sein kann!" Jetzt war es William Bleak, der sich verbeugte. Seine Beethovenmäbnc fiel ihm über die Stirn und die leuchtenden Auaen. Zu nett war das Fräulein, wirklich. Wie es nicht anders zu erwarten war, endete diese Be kanntschaft mit einem regelrechten Verlieben. — Wenn man in der Veraeinsamkeit de» Schwarzwaldes vier Wochen lang tägltch zusammen ist! Und wenn man ein so merkwürdig ähnliches Schicksal gehabt hat! Da das Verlieben nun einmal nicht mehr zu ändern war, beschloß Wtlltam Bleak, ibr die Verlobung auf d«m yttß« folgen zu lassen. Er zog sich also eines Sonntags morgens Mit großer Sorgfalt an, warf sich in seinen besten „King Albert", ein Ueberbleibsel früherer Pracht, und fragte Marte Hinze, ob sie die Seine werden wolle. Er habe ihr aller dings nur ein ganz, ganz bescheidenes Los zu bieten — aber was sic bisher nicht gewußt habe, da» kleine Häus chen, in dem er wohne, sei sein Eigentum, und außerdem besitze er ein kleines Vermögen, das ihm etwa hundert Dtark Zinsen abwerfe, ob sie es mit ihm wagen wolle? „Ja, sie wollte wohl! Sie fei ihm von Herzen gut und sie würde auch mit dem bescheidenen Lose, das er ihr bieten könne, glücklich und zufrieden sein. Als sie so wett war, errötete sie sehr: denn der un gestüme Herr hinderte sie am Wettcrsprechen durch «inen heftigen Schauer von Küssen. „Du bist mein Darling!" sagt« er. „Du gibst mir den Glauben an die guten Menschen wieder!" „Hm!" sagte sie. „Aber ich — ich mutz dir -och zuvor etwas beichten!" William schlug das Herz zum Zerspringen: Würde sie etwa jetzt sagen, daß sie durch einen Zufall erfahren, wie es eigentlich um ihn stand? „Was ist's denn?" fragte er heiser. »Ich — ach, dttte, sei doch bloß nicht böse — ich — bin gar nicht so arm, wie ich sagte! Ich — bin sogar noch reckt — vermögend! Ick wollte nur einmal um meiner selbst willen beachtet »verden. Und ich war so schrecklich glücklich, baß du mich liebtest, obwohl ick häßlich und arm war. . . . Erstaunt hielt sie inne: denn Mr. Bleak lachte. Er lachte dröhnend, laut, ansteckend, so daß sie mtt einsttmmen mußte, ohne zu wissen, warum. . , . „ . . _ „O, beim Jupiter!*! rief er. „Wenn da» kein Retnfaü iftl7 „Was denn?" fragte sie ängstlich, „wa» hast du denn?". „Ach, eine Kleinigkeit! Nur eine «agatelle! - Hahaha! — Ich nämltL — aber du darfst nicht bös« fein — ich hab« dir ebenfalls nicht die volle Wahrheit gesagt — ich — ich bin auch nickt so arm, wie ich dir sagte!". „Ach Gott!" sagt« Fräulein Hinze bedauernd. sagtest doch, daß du nur hundert Mark Zinsen habest!" das stimmt auch: aber sieh mal — ich meinte — dreimal täglich!" Und man denke! Diese beiden, mißtrauischen, armen Millionäre wurden „«an» und voll" glücklich mtt ein» ander, obgleich ihre Lieb« doch ans zwei Finten aufgebaut war! Ja! E» kommt nur eben auf die Art der Finte an! ,
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