DER ALLGEGENWÄRTIGE Vo n GUILLAUME APOLLINAIRE D ie Zeitungen haben die ungewöhnliche Geschichte des Aldavid be richtet, den eine große Zahl jüdischer Gemeinden in allen Erdteilen für den Messias hielt, und dessen Tod unter Begleitumständen eintrat, die unerklärlich schienen. Da ich auf die tragischste Art in diese Ereignisse verwickelt bin, fühle ich die Notwendigkeit, mich von einem Geheimnis zu befreien, unter dem ich ersticke. * Eines Morgens entfalte ich die Zeitung, und da fallen meine Blicke auf folgende Notiz aus Köln: „Die israelitischen Gemeinden am rechten Ufer des Rheins zwischen Ehrenbreitstein und Beuel sind in großer Auf regung. Der Messias wird sich bei einer von ihnen in Dollendorf ein finden. Er wird seine Macht durch eine große Zahl von Wundem kundtun. Das Aufsehen, das diese Geschichte erregte, muß die Kreisbehörde be unruhigen, und sie wird ihre Maßnahmen treffen, um einen Aufruhr zu unterdrücken, da sie in dieser gereizten Stimmung Schlimmes befürchten muß. Man zweifelt höheren Ortes gar nicht, daß der Messias, der sich den Namen Aldavid beigelegt hat, ein Betrüger sei. Doktor Frohmann, der dänische Ethnologe, der augenblicklich Gast der Universität Bonn ist, hat sich aus Neugier nach Dollendorf begeben, und er versichert, daß Aldavid kein Jude sei, wie er behauptet, sondern ein Franzose aus Savoyen, wo die Rasse der Allobroger sich noch rein erhalten habe. Wie dem auch sei, die Behörden hätten Aldavid sehr gern ausgewiesen, wenn das möglich gewesen wäre; aber der Mann, den die rheinischen Juden jetzt den ,Retter Israels' heißen, verschwindet wie durch Zauberei, wann es ihm beliebt. Gewöhnlich hält er sich vor der Synagoge von Dollendorf auf und predigt in heftigen und rauschenden Ausdrücken die Wiederaufrichtung des Königreichs Juda und verfehlt nicht, dadurch an die kernige Beredsamkeit Hesekiels zu gemahnen. So verbringt er tags über drei bis vier Stunden und abends verschwindet er, ohne daß man etwas von ihm wüßte. Man kennt übrigens weder seine Wohnung noch das Lokal, wo er seine Mahlzeiten einnimmt. Man hofft indes, über kurz oder lang diesen falschen Propheten entlarven zu können und dadurch zu verhüten, daß er weiterhin die Behörde und die rheinischen Juden mit seinen Taschenspielerkünsten narrt. Diese werden, sobald sie ihren Irr tum erkannt, selbst froh sein, von einem Abenteurer befreit zu sein, dessen lügenhaftes Geschwätz sie in den Augen der übrigen Bevölkerung in den Verdacht einer bedauerlichen Überheblichkeit bringt, was leicht einen Ausbruch des Antisemitismus zur Folge haben könnte, dessen Opfer 443