Zur Kantate ,.Non sa che sia dolore" BWV 209 13 „Herr Telemann und Herr Graun sind vortrefliche Componisten, und Herr Bach hat eben dergleichen Werke verfertiget. Wenn aber Herr Bach manchmahl die Mittelstimmen voll stimmiger setzet als andere, so hat er sich nach den Zeiten der Musik vor 20 und 25 Jahren gerichtet. Er kan es aber auch anders machen, wenn er will. Wer die Musik gehöret, so in der Oster Messe zu Leipzig vergangenen Jahrs bey der allerhöchsten Gegenwart Ihro Königl. Majestät in Pohlen, von der studirenden Jugend aufgeführet, vom Herrn Capellmeister Bach aber componiret worden, der wird gestehen müssen, daß sie vollkommen nach dem neuesten Geschmack eingerichtet gewesen, und von iedermann gcbillichet worden. So wohl weiß der Herr Capellmeister sich nach seinen Zuhörern zu richten.“ Vielleicht hat der „Herr Capellmeister“ ja eben dies sich auch bei der Kantate „Non sa che sia dolore“ angelegen sein lassen . . . d) Das Werk zeigt einen Komponisten, dessen Annäherung an den modernen, mehr monodisch-homophon ausgerichteten Zeitstil sich spürbar in Grenzen hält und dessen musikalische Handschrift stärker, als es auf den ersten Blick scheinen mag, der Tradition der Polyphonie verhaftet ist. Man braucht nur dem Hinweis Mizlers auf die anscheinend aus seiner Sicht für Bach charakteristische, damals, Ende der 1750er Jahre, allgemein aber offenbar schon als etwas altmo disch empfundene „Vollstimmigkeit“ der Mittelpartien des Satzes zu folgen. Sie ist, als ein konservativer Grundzug im progressiven Gesamtbild, in unserer Kan tate in allen drei Hauptsät2en wiederzufinden in der gediegenen polyphonen Durchgestaltung des Streichersatzes mit seiner bemerkenswert selbständigen Führung der beiden Mittelstimmen, Violine II und Viola. Man betrachte bei spielsweise bei der ersten Arie gleich den Beginn oder T. 20-23 ; und in der zwei ten Arie T. 5 3-60 mit der polyphonen Auffächerung des an sich mehr homophon konzipierten Orchestersatzes. Beachtenswert auch die durchgängige Vierstim- migkeit des Streicherparts, die sich so konsequent durchgehalten in Kantaten italienischer und italianisierender Zeitgenossen Bachs wohl nicht gar so oft wie derfinden wird: Nirgends geht die zweite Violine mit der ersten, nirgends die Vio la mit dem Baß. Auch dies paßt ins Bild: Für Bach ist die „Vollstimmigkeit“ des Streichersatzes offenbar ein Postulat, das nur begrenzt Ausnahmen duldet. Als besonders bezeichnend erscheint in diesem Zusammenhänge die Tatsache, daß Bach in seiner um die Mitte der 1740er Jahre entstandenen Bearbeitung des „Stabat mater“ von Pergolesi („Tilge, Höchster, meine Sünden“ BWV deest) zwei-und dreistimmige Stellen des originalen Streichersatzes vielfach durch selb ständige Führung der zweiten Violine oder der Viola „auffüllt“ 17 : Offenbar gilt das Postulat der „Vollstimmigkeit“ für ihn sogar dort, wo er sich auf italienische Musik neuesten Schlages einläßt! II Gründlicher als mit der Musik hat sich die Forschung mit dem Text der Kan tate auseinandergesetzt und nach dem Anlaß und den Umständen der Ent stehung des Werkes gefragt — Spitta noch mehr allgemein und sozusagen arg los, die Jüngeren nach Schreyer aber im Bewußtsein der Echtheitsproblematik und damit der Tatsache, daß die Erhellung der Entstehungsumstände, sollte sie 17 Vgl. A. Dürr, Neues über Bacbs Pergolesi-Bearbeitung, BJ 1968, S. 89—100, besonders S. 94lf.