Zur Kantate „Non sa che sia dolore“ BWV 15 209 dürfte um die Jahreswende 1728/29 entstanden sein und wurde zum Karneval 1729 von Leonardo Vinci für Rom und von Nicola Porpora für Venedig in Musik gesetzt. Konkrete Schlüsse auf die Person des Kantatentextdichters lassen sich aus den beiden Zitaten, deren Quellen ja sehr weit auseinanderliegen, gewiß nicht zie hen: Guarinis Dichtungen - allen voran der „Pastor fido“ — wurden damals in ganz Europa gelesen: und Metastasios Opernlibretti erfreuten sich auch nörd lich der Alpen weiter Verbreitung. 24 Immerhin aber ermöglichen die beiden Zitatfunde zwei wichtige Folgerungen: 1. Bei dem überlieferten Text der Kantate 209 dürfte es sich um den Original text des Werkes handeln. Denn vorgegebene Texte, zumal Verse, einer bereits vorhandenen Komposition ohne tiefgreifende Veränderungen, sei es des Wort lauts, sei es der Musik, zu unterlegen, ist nahezu unmöglich. Die gelegentlich vertretene Annahme, die Kantate beruhe auf Parodierung einer Originalkompo sition mit anderem, womöglich deutschem Text, 25 verliert damit - zumindest für die Sätze 2 und 5 - an Wahrscheinlichkeit. 2. Das Zitat aus Metastasios „Semiramide riconosciuta“ liefert einen Terminus ante quem non: Das Kantatenlibretto kann nicht gut vor Vincis und Porporas Opern für den Karneval 1729 entstanden sein. 26 III Der Text unserer Kantate läßt in Umrissen den Anlaß erkennen, für den sie geschaffen wurde: Sie ist Abschiedsmusik für einen offenbar noch jungen Ge lehrten, der im Begriffe steht, seinen bisherigen Lebens- und Freundeskreis zu verlassen. Das Reiseziel ist nicht ausdrücklich genannt, doch ist davon die Rede, daß der scheidende Gelehrte künftig seinem „Vaterland“ (patria) dienen wird und bei seinem Vorhaben auf bedeutende Förderer in Ansbach rechnen ziani, Quaderno 36.), S. 17 f. Osthoff macht auch auf ein mögliches Vorbild für das Vers- paar „Varchi or di sponda in sponda / Propizi vedi il vento e l’onda“ aus der ersten Arie der Kantate BWV 209 in Metastasios „Galatea“ (Neapel 1722) aufmerksam: „Varca il mar di sponda in sponda /. . ./. . ./ Sorget vede il vento e l’onda“. 21 Vgl. den Artikel „Metastasio“ vonMichaelF. Robinson in New GroveD XII (1980). - Ohne Zweifel kommt zur Zeit Bachs dem Dresdner Hof eine Schlüsselrolle für die Vermittlung italienischer Opernkunst nach Mitteldeutschland zu. Was den gegebenen Fall angeht, liegt es nahe, an die in den 1740er Jahren begründete Freundschaft Hasses mit Metastasio und speziell an die Komposition der „Semiramide riconosciuta“ durch Hasse für Venedig 1744 und an das Wirken Porporas in Dresden 1748-1751 zu erinnern. Erwähnt sei, daß Hasses „Semiramide“ 1746 in Leipzig aufgeführt worden sein soll (A. Schering, Musikgeschichte Leipzigs, Bd. 3, S. 279). Besonderes Interesse verdient der Hinweis Strohms, daß just die für den Text von BWV 209 angezogene Arie in der Komposition Porporas 1765 als Einzel stück im Musikalienangebot des Leipziger Verlagshauses Breitkopf erscheint (vgl. The Breitkopf Tbematic Catalogue . . . 1762-1787, hrsg. von Barry S. Brook, New York 1966, Sp. 184). 25 So Gustav Adolf Theill im Vorwort seiner Ausgabe: J. S. Bach, „Böse Welt, schmäh immer hin“ , Kantate zum Sonntag fudica nach B WH 209, Bonn 1983. 26 Robinson (siehe Fußnote 24) verzeichnet als Uraufführungstermin der Komposition Vincis den 6. Februar des Jahres.