Zur Kantate „Non sa che sia dolore“ BWV 209 17 Archivalien einen italienischen Gelehrten, dem die Kantate hätte zugedacht sein können, ausfindig zu machen, blieben allerdings erfolglos. Luigi Ansbacher liest den Kantatentext anders: Nach seinem Verständnis gilt die Abschiedsmusik nicht einem italienischen, sondern einem deutschen Ge lehrten, der aus Franken stammt und der nach anderwärts verbrachten Jahren in seine Heimat 32 zurückkehrt, um in Ansbach eine neue Stelle anzutreten. Was die Person Gesners angeht, so greift Ansbacher Scherings Hypothese auf, ver ändert sie aber grundlegend: Er möchte in Gesner nicht den Dichter, sondern den Empfänger der Kantate sehen. 33 Nach seinen Vermutungen wäre die Kan tate 1729 zu Gesners Weggang von Weimar nach Ansbach entstanden. Daß Bach und Gesner in ihren gemeinsamen Weimarer Jahren 1715-1717 Umgang miteinander hatten, ist zwar nicht belegt, aber doch recht wahrscheinlich; auch eine engere, freundschaftliche Beziehung, wie sie die von Ansbacher angenom menen Zusammenhänge fast voraussetzen, ist immerhin gut vorstellbar. 34 Allerdings ist Ansbachers Deutung nicht unwidersprochen geblieben. Im zwei ten Rezitativ heißt es: ,,Tuo saver al tempo e l’etä contrasta“, also frei übersetzt etwa: Dein Wissen überragt das deiner Zeit und eilt deinem Alter weit voraus. Das kann nur einem jungen Manne gelten. Gesner war damals 38 Jahre alt. 35 Alfred Dürr fragt in seinem Kantatenbuch 36 : „Sagt man von einem Achtund- dreißigjährigen noch, sein Wissen eile seinem Alter voraus?“ ; und fährt fort: „So scheint uns die Frage nach dem Anlaß zur Entstehung dieser Kantate trotz manchen Anhaltspunkten, die der Text liefert, noch ungeklärt zu sein.“ - Zu Zweifeln Anlaß gibt darüber hinaus der Zusammenhang des Kantatentextes mit Metastasios Libretto für Vincis und Porporas Opern zum Karneval 1729: Gesners Wechsel von Weimar nach Ansbach muß sich vor Pfingsten 1729 voll zogen haben; 37 der Operntext müßte also binnen weniger Wochen von Rom oder Venedig in die Hände des deutschen Kantatenlibrettisten gelangt sein, was denn doch alles in allem wenig wahrscheinlich anmutet. 32 Zum Begriff patria vgl. Ansbacher, § 6, S. 105 f.; ferner unten Fußnote 52. 33 Ebd. 34 Literatur zum Thema „Gesner und Bach“ verzeichnet der Kommentar zu Dok II, Nr. 432. Hingewiesen sei ferner auf meinen Beitrag im BJ 1988, S. 21 iff. 35 Ansbacher scheint Gesner für einen ungewöhnlich jung berufenen Rektor zu halten („egli fu nominato rettore ad Ansbach all’eta di solo 38 anni“, § 7, S. 107). Das ist jedoch nicht gerechtfertigt. Wie die Übersicht bei H. Schreibmüller, Das Ansbacber Gymnasium 2528 bis 1928, Ansbach 1928, S. 89fr., zeigt, waren einzelne Vorgänger Gesners bei ihrem Amts antritt nicht einmal 30 Jahre alt: Andreas Geret wurde 1678 mit 28 Jahren Rektor, der von Gesner besonders verehrte Georg Nikolaus Köhler 1697 als 24jähriger. Vgl. auch die auf das Berufungsalter bezüglichen Bemerkungen Schreibmüllers auf S. 58. 36 Dürr K, S. 722. 37 Vgl. die Bemerkung Johann Gottfried Walthers über Gesners Weimarer Nachfolger, BJ ‘933. S. 92. - In einem ebenda S. 96 zitierten Brief vom 3. August 1731 erwähnt Walther übrigens eine von ihm anläßlich von Gesners Berufung nach Ansbach komponierte Kantate mit dem Textbeginn „Musensöhne sind betrübt“. Auftraggeber war Gesners Sohn. 2 6125