Zur Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis.“ (BWV Nr. 21) 49 Die oben wiedergegebenen Ausgabeposten lassen uns die Reisevorbereitung und deren Abschluß deutlich erkennen. Damit wird aber auch zur Gewiß heit, daß der Reisetermin des Prinzen, wenn vielleicht auch nicht der Tag selbst, Anfang Juni bereits feststand. So kann ein Einwand des Inhalts nicht erhoben werden, daß die Umgebung des Prinzen und daher auch Bach nicht wissen konnte, wann der Leidende aufbrechen werde. Und wie steht es mit dem Inhalt der Kantate? Wir dürfen wohl annehmen, daß Johann Ernst dem Gottesdienst am 3. Sonntag nach Trinitatis beiwohnte, daß er, der in wenigen Tagen die anstrengende Reise antreten sollte, gesundheitlich so gefestigt war, daß er mit der Hofgemeinde der Predigt über Matth. 5, 1—16 und der Kantate über die Epistel des Sonntags (i.Petr. 5, 6—11) folgen konnte. In der Epistel ermutigt der Apostel die Gemeinde, das Leiden dieser Welt eine kleine Zeit zu tragen, sich unter die gewalüge Hand Gottes in Demut zu beugen, unter die Hand des Herrn, der ein Gott aller Gnade ist, uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu und uns im Leiden stärkt, kräfügt und trägt. Das Apostelwort küngt aus in dem Jubelbekenntnis: Ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Diese Epistel bildet die Klammer um die ganz verschiedenartig gestalteten Teile dieser Kantate, verschieden in Form, Instrumentation und Thematik. 1 Die vier großen Chöre der Kantate arbeiten die Grundgedanken des Testes in meisterhafter Weise heraus. Im Mittelpunkt des ersten Chores steht die Klage aus Psalm 94,19 im Mittelpunkt: Ich hatte viel Bekümmernisse — Worte, denen die Kantate ihre Bezeichnung verdankt. Dieser Klage folgt im zweiten Chor nach Psalm 42,6.12 die Trostbotschaft, daß Gott dennoch „meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist“. Der dritte Chor verwebt in die Worte aus Psalm 116,7 „Sei nun wieder zufrieden“ zwei Strophen aus Georg Neumarks Lied „Wer nur den heben Gott läßt walten“, wobei die Vertonung der Psalmworte in ihrer Thematik aus der Schlußzeile des Chorals gebildet ist. Dem abschließenden Chor liegt Offenb. Joh. 5,11 f. zugrunde. Hier wird in unbeschreiblichen Klängen der Lobpreis der Epistel ins Überirdisch-Eschatologische erhoben: Das Lamm (Gottes), das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Wer kann sich dem Eindruck entziehen, daß diese Kantate ganz besonders eindringlich zum Herzen Johann Emsts sprechen mußte, daß sie ihm geradezu als Wegzehrung gereicht wurde für die Reise, deren Erfolg völlig in Gottes Hand lag? Daß Bach seinem jungen seit längerer Zeit an einer „schmerzlichen Maladie“ leidenden Fürsten eine Predigt in Musik hielt, die diesen in eine ungewisse Zukunft geleiten und ihm gläubigen Trost und überwindende Kraft schenken sollte? — So dürfen wir auch aus diesem Tatbestand folgern, daß die Kantate Nr. 21 deshalb so feierlich und reich gestaltet ist, weil sie zum Abschied Johann Ernsts von Weimar erklingen sollte. 1 Vgl. Johann Sebastian Bach, Kirchenkantaten vom Trinitatisfest bis zum 7. Sonntag nach Trinitatis. Erläutert von Friedrich Smend (Berlin 1947), S. 27f.