Studien zur Harmonik Joh. Seb. Bachs 53 Eine entschiedene Betonung der Unterdominante kurz vor Schluß war wohl in der norddeutschen Orgelmusik des 17. Jahrhunderts üblich ge wesen und findet sich auch in manchen Jugendwerken Bachs, z. B. in der Orgelfuge rf-moll (Pet.ITI, 9); wie ganz anders aber wirkt sie hier, wo nach der Leidenschaftlichkeit und Zerrissenheit der vorangegangenen Passagen diese breiten Quadern mit einer überdimensionalen Größe und Objek tivität das ganze Werk abschließen! Im gleichen Werk ist auch der verminderte Septakkord — vielleicht zum ersten Mal in der Musikgeschichte — als Dissonanz von elementarer Ge walt behandelt, breit hingelagert am Anfang über dem Orgelpunkt der Tonika, stürmisch in den vier Takten, in denen beide Hände in gebrochenen Harmonien sich auf ihm austoben. Ähnlich stark ist seine Wirkung am Schluß des /-moll-Präludiums für Orgel (Pet. II, 5) und in dem jähen Ab bruch am Schluß des &-moll-Präludiums W.K1.I, noch stärker — und wohl unüberbietbar — in dem Aufschrei „Barrabam!“ in der Matthäus-Passion, eine Stelle, die niemand vergessen kann, der sie einmal gehört hat. Auch der neapolitanische Sextakkord, bei A. Scarlatti und seiner Schule nicht mehr als eine reizvolle Schärfung der Melodie, tritt bei Bach wohl zum ersten Male mit monumentaler Wirkung auf; am stärksten am Schluß der Passacaglia c-moll, vorher schon einmal in dem Orgelpräludium ^-moll (Pet. III, 5). Dieses Beispiele wurden nicht nur ihrer außerordentlichen Wirkung und Bedeutung wegen angeführt, sondern auch wegen ihrer Seltenheit. So wie Bach nur eine Passacaglia, nur eine Chaconne,nur ein großes Variationen werk geschrieben hat (die Goldberg-Variationen), so möchte man meinen, habe es ihm auch genügt, an einigen wenigen Beispielen weithin sichtbar ein paar große harmonische Elementarwirkungen hinzustellen, auf die er später nicht mehr zurückgegriffen hat. Ebenso merkwürdig ist es, daß er von den Möglichkeiten, die ihm die gleichschwebende Temperatur bot, nur im Wohltemperierten Klavier Gebrauch gemacht hat. Ja, auch im Wohltemperierten Klavier sind mehrere Stücke in hohen Tonarten ursprünglich in einfacheren komponiert und erst zur Aufnahme in das Sammelwerk in die fehlenden Tonarten umgesetzt worden. Außerhalb dieser zweimal 24 Präludien und Fugen benutzt er die hohen Tonarten kein einziges Mal, nicht einmal As-dur, auch Des-dur, 6-moll, Ges- oder Ffr-dur, j/V-moll nie, H-dur nur einmal in einem Trio zu einem Passepied, er-moll einmal in einem Trio zu einem Menuett. Das Neuland, das hier den Komponisten gezeigt wurde, haben sie nur zögernd in Besitz genommen: Der kühnste Harmoniker des 18.Jahrhunderts war Phil. Em. Bach (wofür schon der Mittelsatz der ersten seiner „Preußischen Sonaten“ [1742] als Beispiel dienen kann); aber erst im Tristan sind die letzten Konsequenzen der unbegrenzten Verwandlungs- und Umdeutungs fähigkeit der zwölf Töne gezogen worden. Ebenso falsch wäre es andrerseits, Bach als konservativen Harmoniker zu bezeichnen. Das zeigt sich ganz deutlich an seinem Verhältnis zu den