6o Hermann Keller eine frappante Ähnlichkeit mit der schneidenden Dissonanz aufweist, mit der Beethoven in der 9. Sinfonie das Finale einleitet: Beispiel 10: Mehr und mehr aber treten solche Kühnheiten zurück, werden seltener und finden sich in den Werken der Reifezeit kaum mehr (außer in den Fällen enharmonischer Verwechslung, von denen weiter unten die Rede sein wird). Immer mehr bändigt Bach seine Harmonik, sie gehört nunmehr zu den Fundamenten seiner Musik, aber es sind Fundamente, die kaum aus dem Boden herausragen. So findet sich z. B. im ganzen Wohltemperierten Kla vier kein einziger Fall einer die festgezogenen Regeln überschreitenden Harmonik. Nur auf einem Gebiet gab er sich freier: im Rezitativ, das Mar- purg „die fantastische oder recitativische Schreibart“ nennt. Hier, wo der Baß nicht durchgezogen ist, sondern sich auf Stütztöne beschränkt, wo alles auf den Ausdruck ankam, konnte und mußte sich auch die Harmonie freier entfalten. Man kann daher von dem deklamatorischen Stil der Bach- schen Rezitative, über den schon so viel geschrieben worden ist, nicht sprechen, wenn man nicht gleichzeitig die harmonischen Unterlagen in Be tracht zieht, die für den musikalischen Ausdruck, den Bach den Worten geben wollte, ebenso wichtig sind wie die melodische und rhythmische Führung der Singstimme. Eine Erörterung dieser Frage würde eine gesonderte Abhandlung erfordern. Daher sei hier nur soviel gesagt: Wo Bach lediglich berichtet, bleibt er, melodisch wie harmonisch, in der Diatonik; wo der Bericht gefühlsbetont wird, treten in entsprechendem Grade übermäßige und verminderte Inter valle und Sprünge an die Stelle der ruhigen melodischen Führung. Verhält nismäßig häufig werden deklamatorische Höhepunkte, wenn der Affekt negativ ist, mit verminderten Septakkorden unterlegt; allein die Matthäus- Passion bietet dafür so viele Beispiele, daß es nicht nötig ist, einige davon hierher zu setzen. Modulationen nach entfernteren Tonarten werden meist nicht gewaltsam, sondern allmählich mit Benutzung von Zwischenstufen ausgeführt (zwei auffallende Gegenbeispiele siehe unten). Der Grad der Dis sonanz hängt ganz vom Affekt ab: In Rezitativen, in denen von Sünde, Tod, Verzweiflung die Rede ist, häufen sich bisweilen die dissonantesten Har monien. Dem Satzbau folgt Bach mit der größten Sorgfalt auch im Har monischen: Erst am Ende eines Satzes oder Satzteils steht eine normale, in einen Dreiklang in der Grundstellung sich auflösende Kadenz. Bei der