Studien zur Harmonik Joh. Seb. Bachs 61 Modulation spielt auch der Charakter der Tonarten eine Rolle. Hierfür bietet besonders die Matthäus-Passion einige bekannte, schöne Beispiele: so, wenn im ersten Rezitativ nach dem Eingangschor das milde G-dur des Evangelienberichts am Schlüsse bei „daß er gekreuziget werde“ mit chro matisch aufsteigenden Schritten im Baß nach der Passionstonart Ä-moll geführt wird, oder wenn im Rezitativ Nr. 15 auf die Worte „Und am Abend setzte er sich zu Tische mit den Zwölfen“, wo die Szene von der Straße in die Dämmerung des Hauses verlegt wird, sofort die Harmonik in Be-Tonarten wechselt und bis zur Abendmahlsszene darin bleibt, oder wenn (in Nr. 32) der Verrat des Judas vom Herrn seinen Jüngern in hohen, der Bachschen Zeit als gräßlich empfundenen Kreuztonarten (g/r-moll) mit geteilt wird (siehe Matthesons Tonartencharakteristik). Diese Betrachtungen führen uns von selbst zu den Fällen, in denen Bach nicht nur von der Chromatik, sondern auch von der Enharmonik Gebrauch macht. Es sind nur wenige, aber ungemein charakteristische Stellen sowohl in den Instrumental- wie in den Vokalwerken. Unter den Instrumental werken seien besonders die folgenden vier genannt: Das Kleine harmonische Labyrinth (für Orgel oder Klavier) Die jj-moll-Fantasie für Orgel Die Chromatische Fantasie für Klavier Die Sarabande aus der 3. Englischen Suite. Eine enharmonische Umdeutung konnte — faktisch und ideell — erst nach Einführung und unter der Voraussetzung der gleichschwebenden Tempe ratur ausgeführt werden, d. h. der umzudeutende Ton durfte nicht, wenn auch noch so geringfügig, bei der Umdeutung in seiner Höhe verändert werden, und der Musiker mußte bereit sein, in seinem inneren Ohr die Umdeutung wirklich zu vollziehen. Daher finden wir „harmonische Laby rinthe“, die musikalischen Irrgärten des Barocks, erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auch Beethoven hat in einem Jugendwerk, den beiden Präludien durch alle Tonarten op. 39, ein harmonisches Labyrinth ent worfen, er führt uns aber ohne Überraschung im Quintenzirkel durch die Tonarten, während Bachs Introitus uns ruckweise hineinführt; im Centrum (Fugato in r-moll) angelangt befinden wir uns schon wieder nahe am Aus gang, und auch beim Exitus legen wir noch einmal einen Irrweg zurück, ehe uns endgültig wieder die klare Luft der G-dur-Harmonie umfängt. Das kleine, in seiner Echtheit wohl zu Unrecht angezweifelte Stück kann als Studie zu den beiden berühmten Fantasien angesehen werden, bei denen, wie im „Labyrinth“, als Hauptmittel zur Umdeutung der verwandlungs fähige verminderte Septakkord verwandt wird, jener später bis zum Über druß abgebrauchte Akkord, der damals noch neu und dessen Umdeutungs möglichkeiten etwas fast Unerhörtes waren. Durch solche Umdeutungen wirft Bach die Harmonie in der ^-moll-Fantasie in Takt 14 von */-moll nach Ä-moll, in Takt 20 von^-moll nach ex-moll herum; in Takt 31 beginnt die gewaltige Sequenz, in der die Bässe diatonisch abwärts, die Oberstimmen