Die geistlichen Vokalwerke von Johann Christoph Friedrich Bach - Aspekte der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte Von Ulrich Leisinger (Leipzig) 1. Historische Einordnung Das alte Vorurteil, die protestantische Kirchenmusik sei nach dem Tode Johann Sebastian Bachs geradezu mit einem Schlag zur Bedeutungslosigkeit ver kommen, hat sich als erstaunlich zählebig erwiesen. 1 Georg von Dadelsen und Alfred Dürr haben ihm zwar mit der schon Ende der fünfziger Jahre vorgelegten neuen Chronologie der Bachschen Vokalwerke die Grundlage entzogen: Bachs Choralkantaten-Jahrgang ist im wesentlichen in den Jahren 1724 und 1725 entstanden und kann daher nicht, wie Philipp Spitta geglaubt hatte, als kirchenmusikalisches Vermächtnis des Thomaskantors und letzter, einsamer Höhepunkt der protestantischen Kirchenkantate gelten. Für eine differenzierte Bewertung der Kirchenmusik nach Johann Sebastian Bach, wie sie Georg Feder schon 1965 forderte, fehlten jedoch lange Zeit aktuelle lokalhistorische wie personenbezogene Darstellungen. Die von Feder provokant formulierte These, daß „die wenigen Kantaten (aus den 1770er und 1780er Jahren) des Bückeburger Konzertmeisters J. Christoph Friedrich Bach [nur] deshalb bemerkenswert [sind], weil einige von ihnen auf Texte Herders komponiert sind“ 2 , konnte auch Beverly Jung Sing in ihrer Karlsruher Dissertation zu den Kantatendichtungen Johann Gottfried Herders in den Vertonungen Johann Christoph Friedrich Bachs nicht entkräften. 3 Die Hauptursache hierfür ist ein ausgesprochenes Desinteresse an quellenkund- licher Arbeit, so daß in Jung Sings Darstellung weder die Entstehungs- noch die Rezeptionsgeschichte dieser Werke deutlicher wird. In Fragen der Echtheit und Datierung folgt die Autorin Hannsdieter Wohlfarth, der die Vokalwerke aus seiner Monographie über Johann Christoph Friedrich Bach jedoch weitgehend ausgeklammert hatte. 4 Wohlfarth wiederum hatte sich einerseits auf die Arbeiten Karl Geiringers berufen, der nach der 1938 erzwungenen Emigration zu vielen Originalquellen keinen Zugang mehr hatte, andererseits auf die Grundlagenforschungen Georg Schünemanns. 5 Dieser hatte zwar in seinen zwischen 1914 und 1917 veröffentlichten Beiträgen den überwiegenden Teil der 1 G. Feder, Verfall und Restauration, in: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, hrsg. von Friedrich Blume, Kassel 1965, S. 215-269. 2 Ebd., S. 237. Vgl. G. Adler, Handbuch der Musikgeschichte, 2. Auf!., Wien 1930, S. 717. 3 B. Jung Sing, Geistliche Vokalkomposition zwischen Barock und Klassik. Studien zu den Kantatendichtungen Johann Gottfried Herders in den Vertonungen Johann Christoph Friedrich Bachs, Baden-Baden 1992. 4 H. Wohlfarth, Johann Christoph Friedrich Bach. Ein Komponist im Vorfeld der Klassik, Bern 1971. s K. Geiringer, Die Musikerfamilie Bach, München 1958; G. Schünemann, Johann Christoph Friedrich Bach, BJ 1914, hier S. 66-165.