Die Stimme des Heiligen Geistes. Theologische Hintergründe der solistischen Altpartien in der Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs* Von Ernst Koch (Leipzig) 1. Die Frage, ob die Stimmlagen der solistischen Gesangspartien in den Kompo sitionen, speziell im kirchenmusikalischen Schaffen Johann Sebastian Bachs eine je spezifische Bedeutung haben, ist immer wieder einmal zur Sprache gebracht worden. Ihre Beantwortung fiel dort nicht schwer, wo - beispielsweise in BWV 86/1 oder in BWV 108/1 -ein Jesuswort dem Baß anvertraut ist; hierfür war das überzeugende Muster in der Verteilung der Jesusworte an einen Baß in den Passionsmusiken zu finden. Schwieriger schon wurde die Antwort bei der Zuweisung sowohl der Rolle des Erzählers als auch ausgewählter weiterer Solostücke an den Tenor ebenfalls in den Passionen und im Weihnachts-Orato rium. Offensichtlich wechselte innerhalb des gleichen Kompositionszyklus die Rolle des Tenorsängers. Die Auskunft, daß die Zuweisung eben auf der Freiheit des Komponisten beruhe, der von Mal zu Mal über sie neu entscheide, konnte jedoch auf Dauer auch aus inneren Gründen nicht zufriedenstellen. Am ehesten noch lag das Vorbild der Oper nahe, die ja auch über Charaktertypen verfügte und sie bestimmten Stimmlagen übertrug. Meinem Eindruck nach hat sich jedoch die Musikwissenschaft wenig mit den übergreifenden Zusammenhängen von Stimmzuweisungen in Solopartien der Oper befaßt. * 1 Für die Kirchenmusik Bachs ist die Forschung vor kurzer Zeit auf eine Spur gestoßen, die deutlichere Aufschlüsse und Folgerungen verspricht. Renate Steiger hat auf ein Emblem und einen deutenden Text des Nürnberger Theologen Johann Säubert aus dem Jahre 1629 hingewiesen und sogleich auch auf Beispiele, die zeigen, daß Bach die von Säubert dargestellte Besetzungs symbolik gekannt zu haben scheint. 2 Damit sind vorerst mit gutem Grund Zufälligkeiten der Deutung des in Frage stehenden Sachverhalts abgewiesen oder zumindest eingeschränkt. Freilich ist daraufhinzuweisen, daß die Entdeckung, die Renate Steiger gemacht hat, genaugenommen eine Wiederentdeckung insofern ist, als bereits im Jahre * Georg Christoph Biller zum 20. September 1995. 1 Vgl. etwa M. Kunath, Die Charakterologie der stimmlichen Einheiten in der Oper, ZfMw 8, 1925/26. 2 R. Steiger, SVA VISSIMA MVSICA CHRISTO. Zur Symbolik der Stimmlagen beiJ. S. Bach, MuK 61, 1991, S. 318-324. Für die Altstimme hatte Säubert die Bedeutung festgehalten, daß sie den Heiligen Geist vertrete. R. Steiger hat dafür als Beispiele in Bachs Kantatenwerk BWV 172/5 und BWV 75/10 angeführt. Dafür spricht, daß bei BWV 172 der Leipziger Textdruck bereits für die Sopranstimme des Duetts „Anima“, für die Altstimme ,,Spir(itus) S(anctus)“ angibt (vgl. BT). Für BWV 75 kann auf den Text der Arie hingewiesen werden.