64 Johannes Müller, Ausgangspunkt sich weiter entfernende melodische Linie ange wendet worden und bei den Worten „Und führcten ihn hinauf" auf das „hinauf" kein Sich-Senkcn der Melodie zustande ge kommen, wie es hier der Fall ist. Wenn ein kleines Kind die Erzählung hört, daß man Simon von Kyrene das Kreuz zwangsweise auferlegt habe, daß er's Jesu nachtrüge, so stellt es sich zweifellos den Vor gang so vor, daß der starke Mann, sobald er mit Widerstreben das Kreuz auf sich genommen, unter der Last gebeugt mit schweren Scbritten einhergeht. Harmlos und heiter geht aber die ganze Geschichte in der Lukas-Passion (S. 55) vor sich. Die Melodie bei „auf ihn" kann ich bloß als Zufälligkeit an- sehen. Weiterhin: Jur Versinnbildlichung einer Sehnsucht, die Berggipfel von ihrer Höhe herunterzichen möchte, hätte ein Tonsetzer, der nur ein wenig darstellende Absichten gehabt bätte, bei den Worten „Fallet über uns" ein entsprccbendcs Motiv gebildet. Der Komponist der Lukas-Passion gibt gar kein Bild, sondern geht bei „Über uns" sogar noch einen Se- kundschritt in die Höhe (Partitur, S. 80 unten). Im selben Rezitativ wären wohl von Bach auch die Gegensätze „zur Rechten" und „zur Linken" gezeichnet worden. Das Reißen des Vorhanges im Tempel ist nicht zu malen versucht (S. 91 unten). Die Vorgänge „Und wandten sich wieder um" (S. 98 vor dem Choral) und „Es stunden aber seine Verwandten von ferne" (S. 99) sind nicht berücksichtigt. Bei den Worten „Und nahm ihn ab" (S. 106) geht die Me lodie sogar in die Höhe, und bei „Legten ihn in ein gehauen Grab" bleibt sie beständig in derselben Jntervallhöhe. Schon die Zahl dieser Fälle genügt zum Beweise, daß cs dem Komponisten der Lukas-Passion aus Motivdarstellung gar nicht ankam. Wo eine solche dennoch angewendet ist, kann die Vermutung nicht aufkommen, daß Bach der Autor wäre. Möchte man z. B. bei „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist" mit gutem Willen eine Absicht des Komponisten herauslesen, hier ein müdes Ablegen des Lebens zu schildern, so würde der ^ctus tra§icus (der, wenn die Lukas-Passion ein Bachsches Werk wäre, ungefähr gleichzeitig mit ihr ent-