"Texte zur Music" in Sankt Petersburg : neue Quellen zur Leipziger Musikgeschichte sowie zur Kompositions- und Aufführungstätigkeit Johann Sebastian Bachs
„Texte zur Music“ in Sankt Petersburg 67 jegliche Spur von Korrekturen. 59 Hans-Joachim Schulze bemerkte in der auto- graphen Partitur eine Reihe von Merkmalen, die andeuten, daß die Handschrift nicht zum eigenen Gebrauch, sondern vielmehr „zum Verleihen oder Verschen ken" bestimmt war: „Daß der Thomaskantor mit dem kostspieligen Notenpapier sparsam umging und nach der Niederschrift eines vielstimmigen Satzes die noch unbenutzten Notensysteme im unteren Teil der Seiten für die Aufzeichnung geringstimmiger Sätze nutzte, läßt sich in über hundert Fällen beobachten, wobei es keine Rolle spielt, ob es sich um Erst niederschriften oder um Reinschriftexemplare handelt. Im Falle unserer Pfingstkantate ist jedoch für eine sozusagen narrensichere Aufzeichnungsform insofern gesorgt, als das erste Rezitativ, dessen Niederschrift auf derselben Partiturseite beginnt wie der Mittelteil des Eingangssatzes, mit einem Merkzeichen versehen ist sowie dem Hinweis .Recitativ so nach dem erstem folget 1 . Zu allem Überfluß findet sich am Schluß des erwähnten Mittelteils nach dem Da-Capo-Vermerk die Eintragung .Nach Wieder- hohlung des Da Capo folgt sub signo ... das Tenor Recitativ und die Alt Aria et sic porro 1 . Es ist schwer vorstellbar, daß Johann Sebastian Bach bei einem eigenen ledig lich fünfsätzigen Werk mit derartigen Merkzeichen und Erklärungen operiert haben sollte. Plausibel erscheint dagegen die Deutung, daß die Partitur zum Verleihen oder Verschenken bestimmt war und die Annotationen sich an den Adressaten richteten. Als Empfänger der Handschrift kann mit ziemlicher Gewißheit Bachs ältester Sohn Wil helm Friedemann gelten, denn dieser hat in der Partitur einige Ergänzungen an Stellen angebracht, wo sein Vater sich eine vereinfachte Partituraufzeichnung gestattet hatte". 60 Falls der Empfänger der Handschift wirklich Wilhelm Friedeman Bach war, wäre denkbar, daß die Aufführung nicht in Leipzig, sondern in Halle stattfand, vielleicht am 21. Mai 1747. 61 seits deuten einige Korrekturen an - zum Beispiel in Satz 1. T. 50 (Oboe 1). T. 76 (Soprano), T. 101 (Viola), ferner in Satz 3, T. 42 (Alt) daß Bach nicht einfach seine Vorlage kopierte, sondern spontan eine Reihe von Revisionen vomahm. 59 Es ist bekannt, daß Bach Werke oder Sätze, die er nach einer Vorlage umarbeitete, entweder in Reinschrift oder in der sogenannten Revisionsschrift fixierte, während neu komponierte Sätze stets einen ausgeprägten Konzeptschriftcharakter aufweisen (siehe zum Beispiel P 32). 60 Schulze K. S. 259f. 61 Ebenda. S. 260: „Für Mai 1746 als Datum der Hallenser Aufführung spricht, daß Wilhelm Friedemann Bach wenige Wochen zuvor das Amt des Organisten und Musikdirektors an der Liebfrauenkirche angetreten hatte und der Vater ihm wohl die ersten Schritte auf dem neuen Tätigkeitsfeld erleichtern wollte. Allerdings existiert aus dem genannten Jahre eine eigene Komposition Friedemanns auf den ersten Pfingsttag mit dem Textbeginn .Wer mich liebet, der wird mein Wort halten'. Man müßte also unterstellen, daß der Bach-Sohn am 29. Mai 1746 zwei verschiedene Kantaten dargeboten hätte. Zugunsten einer Aufführung im Folgejahr, am 21. Mai 1747, könnte sprechen, daß hier keine Neukomposition Friedemanns nachweisbar